Wie schmeckt Kassel?
Die Kultur einer Gesellschaft und die Kultivierung des eigenen Lebensraums hängen eng zusammen. Wie das konkret gelebt werden kann, zeigen die Aktivitäten des Vereins »Essbare Stadt« in Kassel.
Von Gottesgärtnern und Lammlöwen
Kennen Sie Ray Bradburys Science-Fiction-Klassiker »Fahrenheit 451«? Oder haben Sie die berühmte französische Horrorkomödie »Delicatessen« gesehen? Im totalitären Zukunftsszenario von »Fahrenheit 451« werden von einem staatlichen Einsatzkommando sämtliche Druckerzeugnisse verbrannt. Nur eine Gruppe von Widerständlern trifft sich an einem geheimen Ort in der Natur, um die Inhalte der Bücher für spätere, bessere Zeiten auswendig zu lernen. In der skurril-grausamen Post-Crash-Welt von »Delicatessen« spielt eine Gruppe widerständlerischer Vegetarier eine wichtige Nebenrolle.
An diese fiktiven Dissidentengruppen musste ich während der Lektüre von Margaret Atwoods »Das Jahr der Flut« wiederholt denken. Das neue Werk der vielfach ausgezeichneten kanadischen Schriftstellerin erzählt nämlich von einer radikalökologischen, pazifistisch-vegetarischen Selbstversorger-Sekte in der größtenteils unmenschlichen Zukunftswelt einer US-amerikanischen Stadt. Die »Gottesgärtner« entziehen sich dem alles durchdringenden Kommerz einer von wenigen Konzernen beherrschten Gesellschaft, indem sie auf Dachflächen Gärten anlegen, Bienen halten, wilde Pflanzen und Pilze sammeln sowie auf kreative Weise den Müll des Molochs recyceln. Den Kindern der Sekte wird in der Schule Selbstversorger-Wissen beigebracht, das der innere Führungszirkel als essenziell für das Überleben der prognostizierten »wasserlosen Flut« erachtet. Der Alltag der Gruppe ist durchdrungen von handgesponnener Moral und selbstgewebtem Ritual. So kennt bei den Dach-Gärtnern jeder Tag des Jahrs seinen eigenen (realen) Öko-Heiligen wie etwa den Sankt E. F. Schumacher.
Eine fast zu reale Dystopie
Die Story, die Margaret Atwood anhand zweier Gottesgärtnerinnen aufrollt, die aus unterschiedlichen Gründen (zumindest physisch-geografisch) nicht mehr in der Gruppe sind, als die wasserlose Flut eines Tages tatsächlich über die Welt hereinbricht, ist durchaus mitreißend. Was mich am literarischen Genre der Post- bzw. Prä-Apokalypse-Fiction am meisten interessiert, ist die jeweilige gesellschaftliche Utopie bzw. Dystopie. In dieser Hinsicht hat »Das Jahr der Flut« auf eigenartige Weise meine hohen Erwartungen enttäuscht. Ich mag der Autorin das Folgende kaum vorhalten, denn es könnte ihr ebensogut zur Ehre gereichen. Mir jedoch waren sowohl das dystopische Endzeit-Szenario als auch die ambivalente Utopie der Gottesgärtnergesellschaft schlichtweg – zu real! Beides kam mir aus eigenen Überlegungen und Erfahrungen irgendwie allzu bekannt vor.
Da ist auf der einen Seite die konventio-nelle Welt der »Außenhölle« außerhalb der Enklaven der Gottesgärtner, wo Solidarität ein Fremdwort und sexuelle Ausbeutung von Frauen und Kindern an der Tagesordnung ist, der Klimawandel die Jahreszeiten abgeschafft hat und Staat, Konzerne und Mafia nicht mehr voneinander zu trennen sind. Hat Atwood hier lediglich die negativen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte ein weiteres Jahrzehnt in die Zukunft gedacht?
Das einzige Element des Zukunftsszenarios, das es in diesem Maß – hoffentlich! – noch nicht gibt, ist die stellenweise absurd genveränderte Umwelt: Durch »Das Jahr der Flut« laufen Chimären aus Lamm und Löwe, »Mo’hair«-Schafe mit kreischbunter Wolle, die man sich gleich als modischen Haar-ersatz implantieren lassen kann. Die besten Gentechniker arbeiten an dem perfekten, unsterblichen Menschen, was eine gar nicht so unsympathische Synthese aus nackten, friedliebenden Wilden mit blauen Genitalien und Bonobo-Verhalten zum Ergebnis hat, deren Gruppe am Strand scheinbar ewige Partys und Orgien feiert. Zuletzt wird gar die Frage aufgeworfen, ob es nicht Gottes Wille sei, dass diese fröhliche, neue Rasse die traurige Geschichte der Menschen auf Erden ablöst.
Die spannendste Frage war für mich, ob der Weg der Gottesgärtner als Utopie funktioniert. Hier muss man natürlich berücksichtigen, dass die Gruppe quasi unter erschwerten Bedingungen inmitten der als »Außenhölle« wahrgenommenen urbanen Endzeitgesellschaft wirkt. Die Gärtner denken oft an die Zukunft, sie müssen sich ja auf etwas ziemlich Nebulöses vorbereiten, aber irgendetwas scheint sie daran zu hindern, über die kommende Flut hinaus zu visionieren.
Mich persönlich sprach an der Gruppe ihre generelle oppositionelle Haltung gegenüber dem herrschenden System an, ihr fester Entschluss, das Leben stattdessen so zu leben, wie der Gott der Natur es – vermeintlich – vorgesehen hat. Was ein wenig irritiert, ist die hierarchische, wenig basisdemokratische Struktur, die die Autorin ihrer fiktiven Gruppe verpasst hat: Ein innerer Führungskreis aus einem Dutzend durchnumerierter Adams und Evas entscheidet, wo es langgeht und wie den Angriffen von seiten der mächtigen Konzernpolizei zu begegnen ist. Die theologische Deutungshoheit scheint gar nur auf eine Person, nämlich auf Adam Eins, konzentriert zu sein; zu Beginn jedes Kapitels liest man eine seiner durchaus geistvollen Predigten, denen stets ein Hymnus aus dem Gesangsbuch der Gottesgärtner folgt.
Ein Kompost-Gott
Obwohl die Gärtner viele Aspekte aufweisen, die man gemeinhin einer Sekte zuschreibt, begreifen sie sich nicht a priori als eine Gruppe von Auserwählten, die von Gott verschont werden, wenn dieser dereinst Tabula rasa auf Erden macht. Überhaupt ist ihr Gottesbild interessant: Zunächst kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es sich um einen grün angestrichenen Christengott handelt. Später im Buch jedoch wird deutlich, dass der Gärtner-Gott eher ein pantheistischer Kreislauf- und Kompost-Gott ist und in jedem Teil der Schöpfung erkannt werden kann. Der zerstörerische Aspekt dieses Gottes gilt hier nicht als etwas Schreckliches, Unbarmherziges. Die Gärtner wissen um die essenzielle Bedeutung dieses Aspekts für den ewigen Zyklus des Lebens.
Als ambivalente Utopie kann »Das Jahr der Flut« zwar nicht so eine visionäre Kraft entwickeln wie »Planet der Habenichtse« von Ursula Le Guin oder Robert Marcos »Erntemond«. Ein spannendes, unterhaltsames und jedenfalls auch lehrreiches Lesevergnügen ist Atwoods neues Buch jedoch allemal. Gut möglich, dass es seine volle Faszination eher auf Leserinnen und Leser ausüben kann, die nicht bereits mit den Grundsätzen der Geisteshaltung der Gottesgärtner vertraut sind.
Das Jahr der Flut
Margaret Atwood
Berlin Verlag 2009, 480 Seiten
ISBN 978-3827008848
22,00 Euro
Die Kultur einer Gesellschaft und die Kultivierung des eigenen Lebensraums hängen eng zusammen. Wie das konkret gelebt werden kann, zeigen die Aktivitäten des Vereins »Essbare Stadt« in Kassel.
achhaltigkeit und Corporate Social Responsibility sind in der Wirtschaft fast schon zu Modedisziplinen geworden. Die aktuelle Wirtschafts- und Finanzkrise zeigt jedoch auch, dass es vielen dieser Bemühungen noch an wirklicher Fundierung fehlt. Wenn gut gemein- ten Ökofonds faule Kredite
beschreitet mit den Medien Film und Fotografie außergewöhnliche Wege, um das, was er in der Welt sieht, und das, was er in Gemeinschaftsprojekten zu leben und zu lernen wagt, adäquat auszudrücken. Früher als erfolgreicher Werbefilmer tätig, verkauft er sich nicht mehr an Konzerne, sondern stellt seine Fähigkeiten Initiativen zur Verfügung, die sich für Menschenrechte, Ökologie und Kreativität einsetzen. Als Inspirator der Mind Pirates, einer Gruppe junger Filmemacher, Grafiker und Künstler aus aller Welt, realisiert er unabhängige Produktionen, die die Welt bewegen.