Commonie

Offene, diverse, zwischendörfliche Gemeinschaft

»Wenn ich auf etwas wirklich stolz bin, dann darauf, dass ich weiß, wie man ein Schaf schert.« – James C. Scott

von Franca Kersting, erschienen in Ausgabe #79/2024
Photo
© © Wandelgut GmbH | Das WandelGut östlich von Ratzeburg ist dezentral organisiert.

»… Dadurch wurde ich zu einem besseren Wissenschaftler«, fügte der im Sommer verstorbene Anarchismusforscher und Bauer James C. Scott (1936 – 2024) seiner obigen Aussage in einem Interview mit der New York Times hinzu. Erkenntnisgewinn und die Arbeit mit dem Notwendigen und Naheliegenden gehören untrennbar zusammen. Daraus spricht auch der folgende Beitrag des WandelGuts, einer jungen Gemeinschaft, die sich als ein lokales Nachbarschaftsnetzwerk gebildet hat. Initiativen wie dieser, die an Orten des guten Lebens wirken, gibt der Commoniebrief eine Stimme. 

Flöge ich wie die Graureiher vom See kommend über das Gelände, wo ich wohne, dann sähe ich unter mir mitten auf der Wiese das leuchtend rote Sonnensegel, verstreut stehende Zelte zwischen Apfel- und Birnbäumen und dem Lehmofen, in der Ferne das Naturschutzgebiet. Die Wiese dient großen Gemeinschaftstreffen oder sommerlichen Workshops und trägt den Namen »Wandelwiese«. Sie ist ein Teil des WandelGuts, ein 2020 gegründetes Gemeinschaftsprojekt östlich von Ratzeburg. Wir sind 25 Erwachsene und einige Kinder. Neben dem Seminarbetrieb gibt es eine Gemüse-SoLaWi, eine Eier- und Ackerbau-SoLaWi, eine Einkaufskooperative und einen IT-Verein. 

Die Besonderheit des WandelGuts ist, dass die Gemeinschaft über mehrere Dörfer verteilt ist: das Gutshaus und die Wandelwiese in Mechow, eine Hofstelle mit großer zukünftiger Wohnscheune in Wietingsbek und ein Wohnhaus in Schlagbrügge; die letzten beiden Plätze liegen im Besitz der Gemeinschaft. In Ratzeburg, Sande und Dechow wohnen weitere Mitglieder. Das Gutsgelände – also der Ort, wo die Idee entstand, eine Gemeinschaft zu gründen – wirkt oft wie das Herzstück. Er gehört uns allerdings nicht, sondern ist Privateigentum und wird teilweise an die WandelGut gGmbH sowie an Einzelpersonen vermietet und verpachtet. Die Gutshausgemeinschaft besteht aus zwei Familien und einer WG, in der ich wohne. Direkt am Gut steht mein Pferd, ein Traum ist wahr geworden. Wir sind dort eine sehr aufeinander bezogene Gruppe, widmen uns innerer Arbeit und Prozessen miteinander und hegen den Wunsch, auch in selbstverwaltetem Wohnraum zu

wohnen. Die Wietingsbeker Hofstelle mit den beiden SoLaWis legt den Schwerpunkt auf die Landwirtschaft. Dort sind viel Tatendrang, Zuversicht und Lust am Werkeln spürbar. Das zweite selbstverwaltete Grundstück in »Schlügge« ist ein Wohnormit entstehendem Begegnungsort. Neben Begeisterung für den Ort und vielen Gestaltungsideen werden dort auch Fragen geteilt: Wie finanzieren wir die Gebäude und Flächen? Wer nimmt die Sanierung in die Hand?

Organisiert sind wir als gemeinnützige GmbH und haben einen Wohn- und Sharingverein für vor Ort wohnende Mitglieder. Wir arbeiten soziokratisch mit vier Hauptkreisen und einem Koordinationskreis. Als gesamte Gemeinschaft treffen wir uns regelmäßig für Abende, Tage oder Wochenenden, um zwischenmenschliche, organisatorische und inhaltliche Themen zu bewegen. Uns verbinden eine gemeinsame Vision, Beziehungen durch gemeinsames Wohnen und Tätigsein sowie ein gewisses WandelGut-Gefühl – eine Qualität wie die Dynamik einer Familie oder die Energie eines Hauses.

Fragen, die immer wieder von außen und auch von innen kommen, sind: Wie geht das mit der Gemeinschaft, wenn ihr so verteilt lebt? Was verbindet euch? In unserer Vision steht: »Wir stellen uns den Herausforderungen unserer Zeit und ermöglichen einen Wandel hin zu einer sozial, ökologisch und ökonomisch gerechteren Welt durch transformative und gemeinschaftliche Wohn- und Wirkorte. «Wir haben viele gemeinsame Interessen und Werte; die zeigen sich, wenn wir Konflikte beziehungswahrend klären, unsere eigenen Kartoffeln essen oder solidarische Mietkonzepte ausprobieren. Es gibt aber auch Unterschiede, die mal total in Ordnung und mal kontrovers sind. Die einen kommen nicht zum Forum, die anderen selten auf den Acker. Ein Klassiker in Gemeinschaften: Der scheinbare Konflikt zwischen äußerem und innerem Wandel. Dabei brauchen wir beides: die bodenaufbauende Agrikultur und die vertrauensaufbauende Beziehungskultur. Manchmal verzweifle ich, wenn es im Koordinierungskreis mal wieder nur um Geld und Rechtliches geht und das Feine, »Spürige« verlorengeht oder nach einer Veranstaltung mehrere Menschen völlig verausgabt sind und sich gegenseitig anpampen.

Mir hilft dann die Perspektive des Reihers – hoch oben in der Luft erinnere ich mich an das dreifache Ja von Heike Pourian und Vivian Dittmar: Ja, da komme ich her. Ja, jetzt bin ich hier. Ja, es gibt noch eine Lücke zwischen meinem Ideal und meiner Sehnsucht. Damit erkenne ich an, wo ich stehe und wo wir als Gemein-schaftsprojekt stehen, und spreche die Einladung zum Austausch mit weiteren vielfältigen lokalen Dorfnetzwerken aus.

wandelgut.de

weitere Artikel aus Ausgabe #79

Photo

Offene, diverse, zwischendörfliche Gemeinschaft

»… Dadurch wurde ich zu einem besseren Wissenschaftler«, fügte der im Sommer verstorbene Anarchismusforscher und Bauer James C. Scott (1936 – 2024) seiner obigen Aussage in einem Interview mit der New York Times hinzu. Erkenntnisgewinn und die Arbeit mit dem

Ausgabe #79
Commoniebrief #04

Cover OYA-Ausgabe 79
Neuigkeiten aus der Redaktion