In einem Wohnprojekt im hessischen Langen kann man in Gemeinschaft alt werden.von Sonja Blank, erschienen in Ausgabe #9/2011
Ich wollte wissen, welche Erfahrungen die Bewohner des Projekts gemacht haben und wie sich ihr Alltag gestaltet. Der Gründer und ehemalige Vorsitzende des Vereins, Egbert Haug-Zapp, und Vorstandsmitglied Ernst-Günther Kusch begrüßen mich im hellen Gemeinschaftsraum. Gegenüber liegt die Demenz-WG. An ihrer Tür sehe ich die Fotos der Bewohnerinnen und Bewohner. Vor zehn Jahren waren Haug-Zapp und seine Freunde in vielen Gesprächen über das Altwerden übereingekommen, dass sie im Alter nicht allein leben, nicht den Kindern zur Last fallen und nicht ins Altersheim wollten. Aber was dann? Über die Presse luden sie öffentlich dazu ein, Antworten auf diese Fragen zu finden. Die Resonanz war überwältigend.
Wie wollen wir alt werden? So kam es vor neun Jahren zur Gründung des Vereins »Ginkgo«, dem heute knapp neunzig Mitglieder angehören. Pate für den Namen stand nicht nur der Leben und Hoffnung symbolisierende Baum, sondern auch das Prinzip »gemeinsam, individuell, nachbarschaftlich, kooperativ, gemeinnützig organisiert«. Das verbindende Thema heißt Lebensqualität im Alter. Zunächst wurde über Wohnformen debattiert, in denen ein selbstbestimmtes und zugleich gemeinschaftliches Leben ermöglicht wird. Dazu besuchten sie andere Wohnprojekte im In- und Ausland, um von deren Erfahrung zu profitieren. »Mindestens sieben Jahre braucht es bis zum Einzug«, versichert Haug-Zapp. »Ja, und dabei sind viele Klippen zu bewältigen«, ergänzt der ehemalige Manager Ernst-Günther Kusch, der noch mit 69 Jahren im Ausland tätig war, bevor er mit seiner Frau in das Wohnprojekt Ginkgo I zog. Heute sind es 39 Bewohner im Alter zwischen 52 und 91 Jahren, darunter zehn Demenzkranke, die im Langener Ginkgo-Haus unter einem Dach leben.
Mit Rose ins Altenteil Jeder neue Bewohner des Wohnprojekts bringt einen Rosenstock für den gemeinsamen Garten mit. Auf diese Weise ist ein ansehnlicher kleiner Rosenpark entstanden, dessen Schönheit ich im Februar nur erahnen kann. Für die Erhaltung der gemeinsam genutzen Räume, etwa der Gemeinschaftsraum, das Gästeappartement und der Gartenpavillon, zahlen Neuankömmlinge vierhundert Euro auf ein Treuhandkonto. Weiter verpflichten sie sich, wöchentlich vier Stunden Gemeinschaftsarbeit zu leisten. »Aber das wird natürlich nicht kontrolliert«, erklären mir meine beiden Gesprächspartner. »Bei manch einem hat die Stunde dreißig Minuten, bei anderen weit mehr als sechzig.« Arbeit gäbe es genug, etwa in den gewählten Ausschüssen für Soziales, Gartenarbeit oder Verwaltung oder in der Handwerkergruppe. Aber auch in der Demenz-Wohngruppe kann man sich einbringen und – wenn es gewünscht wird – mit den Bewohnerinnen und Bewohnern einkaufen, singen oder spazierengehen. Einige haben sich für diese begleitende Tätigkeit extra ausbilden lassen. Für die Integration von an Demenz Erkrankten entschieden sich die Planer des Ginkgo-Hauses, weil sie das Problem der Vereinsamung bei dieser Erkrankung offensiv angehen wollten. Einen Partner fanden sie im Demenz-Forum Darmstadt. Nun fehlten noch geeignete Räume und eine Integration in das geplante Wohnprojekt 50+. Bei der Planung des Niedrigenergiehauses erwies sich die Zusammenarbeit mit dem Gemeinnützigen Siedlungswerk Frankfurt am Main (GSW) als äußert fruchtbringend. Die Idee kam dort so gut an, dass inzwischen weitere Wohnprojekte ähnlicher Art realisiert und gefördert wurden. Doch zurück zum Langener Ginkgo-Haus. Um in der Demenz-WG auf die Bedürfnisse der zehn neuen Mieter eingehen zu können, wurde dieser Gebäudeteil ganz individuell gestaltet. Die beauftragte Innenarchitektin sorgte mit Farbvarianz von Türen und Fußböden für zusätzliche Orientierungsmöglichkeiten. So entstand eine Wohneinheit mit zehn Einzelzimmern, drei großen Bädern und einer großen, gemeinschaftlich genutzten Wohnküche. Obwohl zu allen Mahlzeiten gemeinschaftlich gekocht und gegessen wird, bleibt viel Raum, um auf individuelle Bedürfnisse einzugehen: Frühstück gibt es beispielsweise von fünf bis elf Uhr. Zusätzlich zu den Pflegekräften bringen sich etwa zwölf ehrenamtliche Ansprechpartner und Begleiterinnen und Begleiter ein. Zu den Veranstaltungen der Nachbargemeinschaft, beispielsweise das Sommerfest, gemeinsame Geburtstagsfeste oder Ausflüge, sind die Mitbewohner der Demenz-WG herzlich eingeladen. So werden anfängliche Berührungsängste nach und nach überwunden. Aus dem ursprünglich geplanten Mehrgenerationen-Wohnprojekt ist aus Mangel an jüngeren Interessenten leider nichts geworden. Es fanden sich nicht genügend junge Leute, die sich mit der erforderlichen langfristigen Verbindlichkeit beteiligen konnten. Berufliche Mobilität und die Erfordernisse gemeinschaftlichen, generationenübergreifenden Wohnens sind offenbar schwer vereinbar.
Gemeinsam durch dick und dünn »Krankheit, Tod und Sterben sind natürlich auch Themen, mit denen wir uns in einem Altenwohnprojekt intensiv auseinandersetzen«, erklären mir meine Gesprächspartner. »Einige von uns möchten gern in einem Friedenshain, den wir schon gemeinsam besichtigt haben, ihre letzte Ruhestätte finden.« Bevor es soweit ist, genießen die Seniorinnen und Senioren die Vielfalt des Lebens. So haben sie etwa in ihren Räumen verschiedene Angebote zu Bildung und Freizeit sowie Musik- und Bewegungstherapie organisiert, darunter Yoga, Qigong oder Französisch. Wer möchte, kommt darüber hinaus regelmäßig zu Spieleabenden und gemeinsamen Kinobesuchen zusammen. Bei all dem gibt es jedoch keinen Gruppenzwang. Ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Nähe und Distanz ist den Bewohnerinnen und Bewohnern wichtig. Wenn jemand erkrankt und vielleicht sogar ins Krankenhaus muss, dann klärt der Sozialausschuss, was zu tun ist und berücksichtigt auch, wieviel Besuch gewünscht wird. Dabei kann er auf die im Büro hinterlegten, freiwilligen Angaben der Gemeinschaftsmitglieder zurückgreifen, in denen beispielsweise vermerkt wird, welche Medikamente jemand regelmäßig einnimmt und in welchem Krankenhaus oder von welchem Arzt er oder sie behandelt werden möchte. Aber natürlich weiß man auch sonst voneinander und unterstützt sich gegenseitig. »Wenn meine Partnerin mal wieder für einige Wochen in Indien ist, dann wissen meine Nachbarn, dass ich nicht so oft koche oder backe, und dann steht ab und an mal ein Stück Kuchen auf der Fensterbank, oder es liegt eine Einladung zum Essen im Briefkasten«, freut sich der dreiundsiebzigjährige frühere Vereinsvorsitzende mit einem Schmunzeln im Gesicht. Das nennt sich gute Nachbarschaft!