Was die Energiewende mit der Entwicklung einer demokratischen Kultur verbindet.von Gandalf Lipinski, erschienen in Ausgabe #10/2011
Eines sollten wir positiv festhalten: Deutschland macht den Vorreiter unter den großen Industrienationen beim Ausstieg aus der Atomkraft. Das ist ein gutes Signal an die Welt, selbst wenn am Zeitplan, der Verbindlichkeit, dem Zustandekommen und der Machart einiges zu bemängeln ist. Die vollmundigen Willenserklärungen, nun die erneuerbaren Energien stärker zu fördern, wollen wir einstweilen als gute Zeichen begrüßen. Und schon vor dem Atomausstieg ist beschlossen worden, Strom aus norwegischen Wasserkraftwerken und Windkraft aus dem Wattenmeer in neuen Starkstromleitungen durch den Norden Deutschlands in den Süden zu leiten, wo er hauptsächlich gebraucht wird. Und was tut diese starrköpfige niedersächsische Bevölkerung, durch deren Gemeinden die neue 380-Kilovolt-Leitung gebaut werden soll? Sie ist dagegen, sie protestiert. So jedenfalls berichten die Medien und stellen den Widerstand in die Ecke von Technologiefeindlichkeit und Querulantentum. Dabei soll doch sauberer Strom durch die neuen Leitungen fließen. Sind diese Leute denn jetzt auch gegen Strom aus erneuerbaren Quellen? Eben nicht, sagt Johannes Antpöhler, Sprecher der Bürgerinitiative. Deshalb habe sich die Initiative in der Gemeinde Bad Gandersheim ja gerade »Pro Erdkabel« genannt. Weil es Alternativen gibt, die umweltschonender und nachhaltiger sind als eine 380-Kilovolt-Überlandleitung. Der Teufel steckt im Detail.
Bürgerlobby für eine sinnvolle Alternative Bei der derzeitigen Planung soll der größte Teil der Strecke durch oberirdische Freileitungstrassen mit bis zu 80 Meter hohen Masten erfolgen. So entstehen 80 Meter breite Korridore mit extremer Belastung durch elektromagnetische Felder. Diese können nicht nur erwiesenermaßen Leukämie auslösen, sie stören auch GPS-Sender und Herzschrittmacher. Der Kurort Bad Gandersheim müsste Schilder an Spazier- und Wanderwegen anbringen, die Personen mit Herzschrittmachern vor dem Weitergehen warnen. Familien mit Kleinkindern würden aus der Umgebung wegziehen. Von der ästhetischen Beeinträchtigung der Landschaft durch die Monstertürme der Überlandleitung gar nicht zu reden. Die Alternative einer Wechselstrom-Erdverkabelung ist nicht nur teurer, sie würde die Belastungen auch nur in die Erde verlagern, so dass die landwirtschaftliche Nutzung in Kabelnähe beeinträchtigt würde. Deshalb, so Antpöhler, habe man als Alternative Erdkabel in Gleichstromtechnik vorgeschlagen. Diese verursache geringere Belastungen. Für eine Fernleitung sei Gleichstrom funktional, nur wenn man auf dem Weg Strom abzweigen wolle, müsse man zusätzliche Umspannwerke bauen. Und nun kommt am Beispiel Bad Gandersheim und Kreiensen die Demokratie ins Spiel. Der Gemeinderat hatte ein eigenes Gutachten in Auftrag gegeben. Es favorisiert eindeutig das Erdkabel in Gleichstromtechnik. Auf der lokalen Ebene wird also der Widerstand von der Politik geteilt. Jeweils vor Ort sprechen sich meist die Vertreter aller Parteien gegen die jetzige Planung aus. Auf Landesebene halten das in Niedersachsen nur noch SPD und Grüne so. Und auf Bundesebene nur noch die Grünen. Je höher also die politische Ebene, desto rarer werden für die Bürgerinitiativen ihre parteipolitischen Verbündeten. Das Raumordnungsverfahren sieht zwar Einspruchsmöglichkeiten der Bürger vor. Diese können aber wegen der komplexen Materie kaum von Einzelnen qualifiziert wahrgenommen werden. Also hat sich die Bürgerinitiative in einen kollektiven Lernprozess begeben. Naturfreunde, Rentner, junge Menschen, Selbständige – die meisten von ihnen bisher politisch nicht aktiv – mobilisieren sich unabhängig von jeder Parteizugehörigkeit. Gemeinsam bilden sie sich fort, werden zu Kennern der Materie, sprechen mit den potenziellen Leitungsbauern und erfahren Details, die das Raumordnungsverfahren verschleiert. Solche Verfahren dienen in der Regel dazu, die Ansprüche der Industrie von den staatlichen Instanzen durchwinken zu lassen. Eine sinnvolle Bürgerbeteiligung, so wird mir im Gespräch mit Johannes Antpöhler bewusst, müsste die demokratischen Gremien an der Basis der Gesellschaft, also die Gemeinderäte, stärker einbinden, damit diese eine fachkundige Meinungsbildung der Betroffenen organisieren. »Die Gemeinden sollten für eine ausgewogene Information und unabhängige Prüfer sorgen. Viele Details werden unter dem Vorwand des Betriebsgeheimnisses nicht veröffentlicht. Dabei besteht unter den vier Stromriesen ja gar kein Wettbewerb«, argumentiert Johannes Antpöhler.
Dezentrale Lösungen In der Tat ist die Energiewende ein vielschichtiger Prozess. Ich frage mich zum Beispiel, wie es um die künftigen AKW-Abschaltungen steht. Würden diese nicht auch große Leitungskapazitäten freisetzen? Nicht nur die Quelle der Energie, auch ihr Transport und ihre Entfernung von den Verbrauchsorten wird künftig Beachtung finden. Eine nachhaltige, lebensdienliche Energiepolitik wird sich künftig verstärkt um Dezentralität bemühen. Pläne, die Sahara mit Solaranlagen vollzupflastern und den Strom von dort nach Europa zu leiten, sind Ausdruck einer alten Kolonialpolitik. Solche technologischen Großprojekte verschärfen nur die Situation. Zudem lenken sie ab von der notwendigen Wende zu regionalen Lösungen. Es gibt doch inzwischen Dörfer, auch in Niedersachsen, die auf saubere Weise mehr Strom produzieren, als sie selbst verbrauchen. Berichte aus Schönau im Schwarzwald oder dem schleswig-holsteinischen Honigsee belegen, wie Menschen, die sich gemeinsam für einen Umbau ihrer Energieversorgung vor Ort engagieren, sich auch auf anderen Gebieten näherkommen. Sie lernen einander, ihre Gemeinden und ihre gemeinsamen Möglichkeiten wieder neu kennen. So wird die Energiewende zur Kulturwende. Selbstbewusstsein und regionales Bewusstsein entwickeln sich dabei zu Kernkomponenten einer gemeinwohlorientierten Demokratie.