von Johannes Heimrath, erschienen in Ausgabe #11/2011
Ein milder Landspätsommertag. Ein offenes Anwesen, Birnbäume, Katzen, Enten, Schafe. Gemüse-Mischkultur, Klimts »Italienische Gartenlandschaft« leuchtend übersteigert. Ein Privileg, so leben zu dürfen. K. hat es verdient: Eine Geburt ist immer lebensgefährlich. Viele haben in den kritischen Tagen an K. gedacht, Glück gewünscht, Kleidungsstücke geschickt. Der schicksalshafte Durchgang ist K. nicht mehr anzumerken, Stehen und Gehen sind kein Problem, alles ist heil, rund, strahlend. Der richtige Tag, um K.s Leben »danach« zu betrachten.
Wir treffen uns an der Sandkiste. K. hat zwei Kuchen gebacken. Bevor ich mich richtig niedergelassen habe, werde ich schon zur Mitarbeit verpflichtet: Der Sand muss durch einen Trichter auf drei bunte Mühlräder rinnen, aber es stockt. Der Stein ist schnell gefunden, der den Sandstrom blockiert. Wie selbstverständlich nimmt K. den reparierten Apparat entgegen. Alles dreht sich, alles fließt. Irgendwie kennen wir uns schon lange. K. spricht auf eine weiche Weise zu mir, die mich innerlich in Resonanz versetzt. Was gibt schon dem Wort »Tisch« die Eindeutigkeit? »Verstehe« ich das akustische Wort, oder ist es etwas anderes, das mein Verstehen auslöst? Schließlich ist »Tisch« nur in Bewegung versetzte Luft, die mein Trommelfell schwingen lässt, Hammer, Amboss, Steigbügel und so fort. »Verstehen« die feuernden Neuronen den »Tisch«? Oder führt erst ein nicht-neuronales inneres Deuten zum Verstehen, und die Sprache macht die Sache nur bequemer? Wie weiß ich, das K. jetzt auf dem Bobbycar gezogen werden will? Die Lautfolge »jodlodl« ist für alle, die K. nicht kennen, so unpräzise wie »Kannst du mich bitte auf dem Bobbycar ziehen?« für eine Yuchi-Sprecherin. Ich erlebe K. erheblich bestimmter als ältere Menschen. Da gibt es keine Unsicherheit: K. setzt voraus, dass ich a) weiß, was jetzt meine Aufgabe ist, b) keinen Widerspruch einlegen und c) das Ansinnen zu voller Zufriedenheit ausführen werde. Warum auch nicht? K. ist einzigartig, ganz bei sich selbst. So einzigartig wie jeder einzelne Mensch, wie jede einzelne Erscheinung der physischen Welt. Unverdoppelt, identifizierbar – und immer im Urgrund rätselhaft. K. steht am Anfang des Lebensbogens. Ein starker Eigenwille prägt K.s Erscheinung, doch die Haut über dem zierlichen Körper duftet noch ein wenig nach Milch. Noch weiß K.s Haut nicht, welche Falte diese und jene Geste kerben wird. Wie eine erst allmählich festwerdende Membran, fast noch fluid, kommt sie mir vor. Sie scheint K.s Innenleben nicht abzuschotten von dem, was wir das Außen nennen. K.s unverstelltes Handeln wirkt, als existiere zwischen dem Eigenständigen und dem Einwirkenden keine Grenze. Ist das so? Wie nimmt K. die Außenwelt wahr, frage ich. »Was meinst du mit ›Welt‹?« klingt die Antwort in mir – lebhaft und ernst, sinnend und verträumt, wach und voll Teilhabelust an allem zugleich. »›Du‹ bist da, wo ›ich‹ auch bin. Du verdichtest dich so ein bisschen ›neben‹ mir. ›Ich‹ sehe ›dich‹ verschmolzen mit dem Hintergrund. ›Du‹ trittst nicht hervor als losgelöstes Ding. ›Ich‹ sehe ›dich‹ in vielen Farben und mehr als vier Dimensionen; ein Bild von ›dir‹ könnte ich nicht zeichnen. Sind wir nicht eins mit diesem ›Ort‹? Hier in der Sandkiste? Hier auf dem Bobbycar? Hier vor dem Blumenbeet? Was meinst du mit ›dann‹, ›vorher‹, ›nachher‹?« Ich kann spüren, wie K.s Mind mit meinem Mind Kontakt aufnimmt. Es fühlt sich an wie die Bewegung einer silberzarten Motte, die halb flatternd, halb kriechend im Licht der Nachttischlampe über meinen behaarten Unterarm irrt. Ich habe meine Empfangsorgane weit geöffnet, und K. flattert herein, unbedingt wollend, kräftig, zielsicher einerseits, scheu, vorsichtig und gläsern zerbrechlich andererseits. Wie ist es, K.? Du wirkst, als würdest du ständig staunen. – »Wie anders alles ist, als ich es fühle! Ich spüre die Gestalt, bevor ich ihre feste Form ergreife. Ich stoße an, ich schwebe nicht, ich bin nicht hier und dort zugleich. Das macht mich unsicher. Ich habe wirklich lange Zeit nur gestaunt, als der Schock der Geburt allmählich abebbte. Was für ein Lichtspiel! Klänge, Gerüche, Luftzüge! Vorher wusste ich viel mehr über alles, jetzt verblasst es. Ich weiß nicht, wie ich anwenden soll, was ich mitbringe. Mein Körper hat so viele Unmöglichkeiten …« »Mind« – seit Jahren suche ich ein deutsches Wort, das die Verbindung aus Gehirn und Trans-Gehirn, »Geist« vielleicht – aber in seiner »verkörperten« Form –, ebenso integrierend einfängt wie das englische mind. Ich mag die Auffassung einiger unserer besten Kosmologen, dass das, was den Mind ausmacht, in der Physik des Dunkeln zu suchen sein könnte. Immerhin bestehen 95 Prozent des Universums nicht aus den uns bekannten Formen von Stoff, sondern aus dunkler Materie und dunkler Energie. Das mögen wir ahnen und auf einer sprachlosen Ebene erfahren. Ich verkrafte es aber nur schwer, dass unser wunderbares Materie-Gehirn und alles Wunderbare, was dieses Gehirn zu begreifen vermag, nur den mickrigen 5 Prozent Stoff angehört, die unsere Forschung erreicht. »Siehst du?«, greift K.s Mind in meinen Gedankenstrom ein: »Auch dazu kann ich dir nichts sagen. Die Mühe, mich zu inkarnieren, besteht darin, mir bewusst zu werden, dass ich in den kommenden Jahren zum ganzen großen Rest des Kosmos keinen direkten Zugang mehr haben werde. Du und ich, wir funktionieren nur als 5-Prozent-Wesen, das Übrige bleibt im Dunkel verborgen, bis wir die Verschränkung mit dieser schmalen Welt wieder auflösen.« Spontane Wendung: Ich soll mich hinunterbücken auf Augenhöhe. Wir scherzen und rennen ein bisschen um die Wette. K. wirft sich ins hohe Gras unter einem Apfelbäumchen, dreht das Gesicht nach oben und wird ganz still. Die Augen folgen dem sanften Hin und Her der Zweige. Ich beobachte K.s Blick. Ein Sog geht von K.s Pupillen aus. Jede ist ein kleines Schwarzes Loch in der Galaxis der hellblauen Iris. Pause. K.s Augen scheinen »unscharf« zu schauen. Ein langes, spätes Abendgespräch mit Hans-Peter Dürr fällt mir ein: »Verschmiert« sei das bessere Wort für die Heisenberg’sche Unschärfe. Da wir nicht sagen könnten, wo sich ein »Passierchen«, wie er die Elementar-»Teilchen« nennt, befinde und was es genau sei, sondern wir ausschließlich mit den sukzessiven Ereignissen konfrontiert seien, die die Passierchen in unserer Raumzeit auslösten, könnten wir die Wirklichkeit nur wie hinter einer dicken Milchglasscheibe ahnen. Solange es in der 5-Prozent-Welt eingetaucht sei, könne unser Bewusstsein nicht anders wahrnehmen als auf exakt die Weise, die ihm die 5-Prozent-Materie erlaube, ausschließend, real, eben »scharf«. In Wahrheit sei natürlich auch die uns eindeutig vorkommende Realität vieldeutig. »Das bereitet mir große Schwierigkeiten«, scheint K. meine Gedanken aufzunehmen. »Ich kann ›dich‹ noch nicht richtig erkennen. Ich bin noch dabei, mich zu reduzieren. Solange ich nicht alle meine ›Passierchen‹ richtig koordiniert habe, fällt es mir schwer, mich in der 5-Prozent-Welt auszudrücken.« Ja, sage ich, ich spüre, wo du bist. Du rührst an meine eigene Verbindung zur ganzen Welt. Da ist er wieder, der eigenartige Schauder, der mich überfällt, wenn ich es zulasse, dass mich die wasserblauen Augen eines Menschen in K.s Alter einsaugen und mitnehmen in ihre Herkunft. Es ist weniger ein Mitnehmen als ein Erinnern. Die jungen Augen erinnern mich donnernd an mein eigenes Gemeintsein. Zum ersten Mal habe ich das erfahren, als ich noch klangtherapeutisch gearbeitet habe. Lang ist’s her. Da kam immer wieder mal eine werdende Mutter auf mich zu. Sie habe gehört von ihrer schwangeren Freundin … ob ich das nicht auch für sie … Ich habe dann einen Abend ausgesucht, an dem sie und ich ungestört im Gong-Studio weilen konnten, sie kuschelig eingepackt auf dem bequemen Polster im Zentrum des Gong-Kreises, ich frei von ablenkenden Gedanken an meine schon damals überbordende Arbeit. Ich habe erst viel später darüber zu sprechen begonnen, und heute gehört diese Geschichte zu den Bausteinen meines erfahrungswissenschaftlichen Weltbilds, das ich wunderbar neben ähnliche Erkenntnisse anderer Erfahrungswissenschaftler stellen kann. Abschweifung? Nein, K. hat mich an einem essenziellen Punkt getroffen. Auf gleicher Augenhöhe schauen wir auf die Blume am Beetrand. Blume? Für K. geht es offenbar um mehr. Mit großer Grazie gibt K. der Pflanze etwas zu essen, biegt vorsichtig die Blüte auf und steckt etwas Unsichtbares hinein, respektvoll, aber nachdrücklich. Das Löwenmäulchen vor uns »verschmiert«, wird »unscharf«, wenn ich es nicht genau fixiere. Ja, es wird größer, wenn ich die Augen schließe und mich der Ahnung von seinem Pflanzen-Mind überlasse, der nur aus der Hellwelt kommen kann. »Hellwelt? Was ist das?« – Kommt K. nicht gerade von dort? Gegengleich zu unseren Kosmologen sage ich zur großen Welt der dunklen Materie und Energie, in die unsere 5-Prozent-Welt eingebettet erscheint wie der dunkle Kern in einem hellen Riesenpfirsich, Hellwelt. Ein Denkbild dringt von K. zu mir: Wie, wenn die 5-Prozent-Welt dem Pfirsichkern gliche, der sich ja auch »hart« aus dem völlig anders beschaffenen Fruchtfleisch differenziert? Dann läge der Sinn unserer schmalen Realität darin, dass in ihr sich der Keim bildet, der dem Ganzen die Evolution ermöglicht: Jede 5-Prozent-Generation prägt neue Aspekte ihrer ansonsten unbegrenzten Potenzialität aus. – In Wirklichkeit gibt es freilich keinen »Kern«, keine »Einbettung«, nur vollständige und allzeitige Durchdringung. War das ein schelmischer Blick soeben? Kann K. »wissen«, welchen Ausflug meine Gedanken gerade genommen haben? »Das wird noch eine harte Zeit«, empfange ich, »bis ich so weit bin, dass ich meinen Sprechapparat beherrsche, bis meine Gesten genau das tun, was zur Bedienung der Gerätewelt nötig ist, Löffel, Gabel, Messer, Tasse, Teller …« Auto, füge ich hinzu. Mama, Papa, Auto … Und schlüpfe zurück in jene Gong-Passage vor vielen Jahren. Da liegt die junge Frau im sechsten Monat hinter mir im Gong-Kreis. Ich spiele bestimmt schon eine halbe Stunde, und gerade halte ich eine dunkle, warme Klangfläche am Leben. Es ist nicht laut, aber auf inspirierte Weise intensiv, dicht. Plötzlich öffnet sich mein »ganzes« Empfinden – und hinter mir tut sich ein heller Raum auf, in dem eine mächtige Präsenz spürbar wird. Als stünde ein riesiges Wesen hinter mir, fühle ich eine körperhafte Anwesenheit, die mich weit übersteigt. Und während ich weiterspiele, merke ich, wie dieses große Wesen versucht, in mich hineinzuschlüpfen wie in einen Arbeitsoverall, in den man von hinten einsteigt. Mit ungeheurer Energie gleiten seine »Arme« von den Schultern aus in meine Arme hinein, bis ich ganz vorne in meinen Händen »seine« Hände brennend heiß spüre. Meine/seine Hände halten die Gongschlegel und spielen weiter auf den Instrumenten vor mir/uns – und sprechen zur »Mutter« vom neuen Leben. Ich kann nicht anders, als dieser unbeschreiblich machtvollen Gestalt meinen handelnden Körper zu überlassen. Ohne mich umzudrehen, sehe ich den Raum hinter mir hell erleuchtet. Die Mutter liegt da, eingehüllt in ein strahlendes Ei, aus dem sich eine breit strömende »Nabelschnur« aus Licht heraus»würgt« und in der »Herz«gegend des hellen, großen Wesens »Wurzeln« schlägt. Größe, Größe, pocht es in mir, so groß, so groß sind wir! So groß! Ich spüre, wie jede Hirnzelle fast platzt vor Angefülltsein mit »Größe«. Vorne, im Großhirn, fühlt sich etwas an wie ein demütiger Pilger. Etwas von mir hat sich dem Anderen gebeugt. Das ist der richtige Ausdruck: gebeugt. Das Demütige sieht etwas ein, erkennt »es«, das »Verschmierte«, das unscharfe Ganze, meine Herkunft, meine Aufgabe, mein Ziel, mein Alles. Es erkennt, was gemeint ist. »Verstehst du, was ich durchmache?«, fragt es aus K.s Richtung. Klar verstehe ich es. Aber wer erinnert sich daran? – »Wie kann ich diese Wirkmacht erhalten? Denn mächtiger als ich und du und wir Menschen alle ist doch kein anderer Diener in dieser sichtbaren Welt. Sind wir nicht dazu gemacht, die Verbundenheit mit allem bewusst zu ›verwahrheiten‹?« – Für wahr zu nehmen, ja. Wahrheit verwirklichen. »Verwahrheiten.« Das gefällt mir. Irgendwann damals zog sich die gewaltige Präsenz aus meinem Körper zurück, schwebte noch eine Weile über dem strahlenden Ei um den Leib der Mutter und schrumpfte schließlich in ihre Bauchhöhle hinein, bis nur noch das gedämpfte Schmalweltlicht im Raum war. Die Mutter erwachte wie aus unendlicher Ferne. Ein unfassliches Schmalweltglück begann aus ihr hervorzusickern. Sie hatte »es« gesehen, das Große gespürt, wahr-genommen, mit »ihm« gesprochen. Sie war daran erinnert worden, als wer sie gemeint war. Wer bist du, K.? »Wer bist du?«, gibt K. zurück. Ist es nicht so, dass man am besten Menschen porträtiert, mit denen einen etwas in der Tiefe verbindet? K. ist weise, so weise wie alle Menschen, die auf dem Weg von der Hellwelt in die Schmalwelt und wieder zurück sind. Ich beuge mich. Das macht mich nicht klein. Nein, K. lässt mich meine eigene Größe erfahren, »verschmiert«, voll Licht, im Sandkasten der Realität. Wir drehen noch eine Runde auf dem Bobbycar, ich ziehe und muss laut lachen. K. kirrt vor Vergnügen. Was für ein Mensch!