Bildung

Wir können Menschen sein

Auf der Suche nach einem harmonischen Zusammenleben mit Kindern in einer Gemeinschaft.von Michael Steinhauer, erschienen in Ausgabe #11/2011
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Gemeinschaft zum Raum des Vertrauens entfalten, das ist der ­Fokus unseres Miteinanderlebens, und das Zusammenleben mit Kindern ist dabei eines unserer zentralen Themen. Wie kann das gehen, ein neues Miteinander behutsam entstehen zu lassen und gleichzeitig mit der Außenwelt und ihren einengenden Verregelungen in gutem Austausch zu sein? Und wir Erwachsenen, die wir diesen Raum des Vertrauens selten gehabt haben und Verletzung mit uns tragen, wie schützen wir uns und unsere Kinder vor uns selbst?
Wir sind eine ganzheitlich orientierte Gruppe von zwölf Erwachsenen und sieben Kindern, die nach neuen und heilsamen Wegen des Miteinanders forschen. Für uns gehört dazu, ein offenes Herz füreinander zu haben, zu unseren Schattenseiten und Konflikten zu stehen und uns in unseren Stärken und Visionen zu unterstützen. Als künftiges Lebensdorf, genannt »Visiana«, sind wir mit einem weiträumigen Lebensnetz verbunden und offen für Menschen, die sich mit uns auf den Weg machen wollen. Wir stehen am Anfang. Jede und jeder will hier auf seine eigene und einzigartige Weise Mensch sein, und auch für Gemeinschaft gibt es erst wenige positive Vorbilder.

Mit Kindern leben – Freude und Herausforderung.
Welch ein Geschenk ist es, mit Kindern zusammenzuleben, wieviel Lebendigkeit und Echtheit sie einbringen! Zugegeben, es ist nicht immer ganz leicht, diese Lebendigkeit so in Bahnen zu halten, dass auch die Bedürfnisse der Erwachsenen erfüllt werden. Was brauchen wir wirklich, die Kinder und die Erwachsenen? Als soziale Wesen sind wir immer in einem fließenden Prozess des Gebens und des Nehmens begriffen, eingebunden in den uns umgebenden Lebensraum. Das habe ich nachdrücklich an meinem Sohn Miro erfahren, als er drei Jahre alt war und in den Kindergarten sollte. Nach ein paar Tagen dort benahm er sich wie ein verzweifelt nach Luft ringender Fisch auf dem Land. Glücklicherweise haben wir seine Signale ernstgenommen und ihn zu einem Waldkindergarten gebracht, in sein Element, den natürlichen Fluss des Lebens. Und der Fisch schwamm, vergnügt und voller Begeisterung.
In unserem Lebensdorf soll eine Umgebung entstehen können, in der alle »Fische« unserer Gemeinschaft gerne schwimmen. Ein Sig­nal für unsere nach Luft ringende Zivilisation, dass es auch anders gehen kann. Um dieses Dorf Wirklichkeit werden zu lassen, treffen wir uns fast täglich zu kleinen oder größeren Runden, um Erlebtes zu reflektieren, Gefühle zu klären, zusammenzusein. Zum Thema »Kinder« beschäftigen wir uns mit alternativen Bildungsmodellen, wie die Erfahrungen von Rebecca und Mauricio Wild aus Ecuador, dem Montessori- und Waldorf-Ansatz oder mit dem Modell der freien, demokratischen Sudbury Valley School. Auch die Erfahrungen bestehender Gemeinschaften sind für uns wichtig. Jede und jeder bringt andere Qualitäten und Lebenserfahrungen mit. Ist der eine Mensch in einer bestimmten Hinsicht schon erfrischend frei, wo der andere gerne etwas freier wäre, lebt hier ein anderer eine Verantwortung, wie es viele noch lernen wollen. So bekommt unser tastendes Gehen zwischen Freiwerden und Verantwortlichsein seine Kraft durch unsere Verschiedenheit. Auf diesem Weg brauchen wir viel Kommunikation und wenig Rechthabenwollen und Besserwissen. Es tut so gut, auf diese Weise zu einem größeren Ganzen zusammenzuwachsen.
Hakt es jedoch bei der Kommunikation, kommt es zu Missverständnissen, die sich zu Verletztheiten oder gar Feindbildern hochschaukeln, und die Energie des ganzen Gemeinschaftsorganismus’ rutscht in den Keller. Doch wenn die Kommunikation stimmt – oh wie schön! Wir wissen, wie sich beides anfühlt.
Aber mal konkret. Was bedeutet das in der Kommunikation schon zwischen Mutter, Vater und Kind? Wer kennt das nicht: Kind will spielen, aber Papa braucht Ruhe. Kind will mit Mama kuscheln, aber Mama und Papa wollen alleine kuscheln. Kind soll sich warm anziehen, Kind will nicht, und Mama flippt aus. Und so weiter. In ­solchen Situationen kehren bei uns Erwachsenen alte Verletzungen zurück, und es wird mitunter so eng in uns, dass wir unsere Kinder ungewollt tief verletzen. Sind die Bedürfnisse der Kinder und der ­Erwachsenen nicht in Einklang zu bringen? Wenn in solchen ­Situationen andere einfühlsame Erwachsene da sind, ist schon das entlastend. Wie sehr profitieren unsere Kinder davon, wenn wir ­Großen unsere Blockaden und Sehnsüchte miteinander in solch ­einem erweiterten Kraftfeld teilen können!
Von meiner Sozialisation her neige ich dazu, meine Bedürfnisse zu übergehen und meinem Sohn mehr Raum zu geben, als für ihn und mich gut ist. In unserer Gemeinschaft bin ich für mein Kind nicht mehr so zentral wie in einer Kleinfamilie. Hier entdecke ich, dass Kinder nicht wirklich im Mittelpunkt stehen wollen. Sie möchten wohl beachtet und respektiert werden, aber nicht die Erwachsenenwelt dominieren. Mein Sohn kommt jetzt spürbar mehr in seine Mitte. Er nimmt sich von mir nur so viel an Zuwendung, wie er tatsächlich braucht, und er braucht jetzt viel weniger.
Ja, was brauchen Kinder wirklich? Ich kann es letztlich nicht wissen, sie sind so sehr verschieden voneinander. Und dennoch, offenbar gibt es für uns Menschen lebensförderliche und lebensschädliche Voraussetzungen. Nach meiner Erfahrung können folgende drei Sätze helfen, eine respektvolle, förderliche Basis für das Zusammenleben mit Kindern zu schaffen, denn Kinder und andere Menschen …
→wollen sich von innen heraus entfalten und nicht von außen manipuliert oder gar zu etwas gezwungen werden;
→wollen in ihren authentischen Bedürfnissen nach Geborgenheit und Autonomie respektiert werden;
→wollen Teil eines lebensförderlichen Organismus’ sein und auf selbstbestimmte Weise positiv zu diesem Organismus beitragen.

Was ist, wenn Jenny nicht zur Schule will?
Ich suche jetzt nach einem Beispiel, das zeigt, wie wir uns als Gemeinschaft dem Thema »Leben mit Kindern« stellen und wie wir mit Konflikten umgehen. Die Schulpflicht könnte unseren gemeinschaftlichen Vertrauensraum belasten.
Ich brauche gar nicht lange zu suchen, denn gerade jetzt, während ich zusammen mit anderen ein wenig Pause vom Schreiben mache, kommt die sechsjährige Jenny. Sie geht seit einigen Wochen zur Schule. Wir haben das Glück, eine wirklich lebendige und frei arbeitende Schule in unserer Nähe zu haben. Jenny fand sie gut, zumal ihre Schwester Luna und auch mein Sohn Miro dorthin gehen. Einige von unserer Gemeinschaft sind sogar extra wegen dieser Schule hierher gezogen – auch ich. Dennoch träumen wir von einer noch viel lebendigeren und in unser zukünftiges Lebensdorf integrierten »Lebensschule«.
Jenny sieht gerade traurig aus und auch ein bisschen wütend, ohne dass der Grund dafür erkennbar wäre. Als Paul, ihr Papa, sie fragt, was denn los sei, sagt sie mit Nachdruck: »Ich will nicht in die Schule! Warum muss ich dahin? Ich will doch gar nicht!«
Oh – mit dieser Aussage hatte ich nicht gerechnet, und ein schneller Blick auf Jennys Eltern Claudia und Paul zeigt mir, dass auch sie von der Mitteilung ihrer Tochter überrascht sind. Ich gebe zu, dass blitzschnelle Gedankenfetzen aus alten Erziehungsmustern in mir auftauchen und sich nach vorne drängen wollen: »Die soll sich jetzt doch mal nicht so anstellen«, raunt es in mir, »da muss sie jetzt halt mal durch«. Glücklicherweise schaffe ich es, mich zurückzuhalten und mich nicht einzumischen.
»Du willst also nicht in die Schule?« fragt Paul langsam und freundlich und schaut kurz zu mir. Was sollen wir tun, wenn Jenny bei ihrer Ablehnung bleibt? »Nein, ich will nicht!« wiederholt sie mit Nachdruck.
Was sollen wir Jenny sagen? Ein Gefühl von Überforderung steigt in mir auf. Wir haben doch alles uns Mögliche getan! Diese Schule kommt den Kindern im Vergleich zu anderen wirklich sehr entgegen. In Deutschland herrscht schließlich Schulanwesenheitszwang.
Aus unserer Erwachsenensicht verständliche Argumente – müssen wir doch unseren Alltag in dieser von natürlicher Verbundenheit weit entfernten Welt organisieren. Doch was hilft das Jenny? Was machen wir, wenn sie nicht nur aus einer Laune heraus, sondern wirklich dauerhaft nicht in die Schule will? Was nützt ihr dann dieses »im Vergleich zu anderen Schulen ist diese Schule doch viel besser?« Eine andere Schule als Lösung? Wir Erwachsenen sind im Konflikt. Wir wollen heute anders mit unseren Kindern umgehen, doch wegen des Außendrucks müssen wir leider noch immer viel zu viele Kompromisse eingehen. Dabei spielt für uns Erwachsene das Thema »Freiwilligkeit«, oder vielleicht besser »freiwillige Bereitwilligkeit«, eine sehr große Rolle. Für uns ist es ein Forschungsprojekt, herauszufinden, wie sich die täglichen Notwendigkeiten des Lebens von der Last der Mühe befreien und wieder mit mehr Freude und spielerischer Leichtigkeit erfüllen lassen.

Nährboden für freie Gedanken
»Ich will von mir aus wollen« heißt für uns, dass niemand etwas tun muss, wozu er nicht wirklich bereit ist. Dabei geht es nicht um ein oberflächliches Lustprinzip, bei dem jeder nur das macht, was gerade seiner Laune entspricht, und er den Rest schleifen lässt. Es geht auch nicht um beziehungsloses Laisser-faire, das sich einschleicht, wenn wir die Reibung durch konstruktiven Konflikt scheuen. Vielmehr üben wir uns darin, uns einander in unserer Verschiedenartigkeit zuzumuten. Das gilt auch für das Zusammenleben von uns Erwachsenen mit unseren Kindern. Es ist ein Prozess, ein Fluss des Lebens, der nur wenige feste Regeln kennt und uns zum Präsentsein herausfordert.
Doch was ist, wenn dieser Fluss von außen durchbrochen wird wie jetzt im Fall von Jenny durch die Schulpflicht? Dann bleibt uns nur die Frage, womit wir Jenny in ihrem Konflikt bestmöglich unterstützen können. Wird es ausreichen, wenn wir ihr immer wieder Empathie vermitteln und sie moralisch für die Schule stärken, oder braucht sie auf Dauer tatsächlich eine Veränderung der Situation?
Zum Thema Veränderung blicken wir gerade sehr gespannt in Richtung einer innovativen Montessorischule in Westerburg im Westerwaldkreis. In deren Umfeld soll auch eine Lebensgemeinschaft entstehen. Wenn es sich gut anfühlt, kann es sein, dass wir als gesamte Gruppe dorthin umziehen. Ja, für das Wohlbefinden unserer jungen Mitglieder würden wir sogar einen Umzug in Kauf nehmen. Es schmerzt uns als Gemeinschaft, unsere Kinder nicht vor aufgezwungenem Lernen bewahren zu können. Schließlich arbeiten wir Erwachsene doch gerade in intensiven therapeutischen Prozessen auch die Verletzungen der Schulzeit auf. Ich persönlich kann es nur schwer ertragen, mit ansehen zu müssen, wie dieser Lernzwang, dessen Auswirkungen mein eigenes bisheriges Leben spürbar überschatten, jetzt jenen Kindern angetan wird, für die ich mich mitverantwortlich fühle.
Es heißt in unserer Demokratie, die Gedanken seien frei. Doch wie können die Gedanken unserer Kinder sich wirklich frei ­entwickeln, wenn sie am Fliegen gehindert werden? Die globale Ent­wicklung wird die nächsten Generationen vor nie gekannte Herausforderungen stellen, und die jetzigen Kinder werden dann all ihre Kreativität und Gedankenfreiheit brauchen, um völlig neue Lösungen für diese völlig neuen Probleme finden zu können. Es ist unsere Verantwortung, ihnen jetzt die dafür notwendigen Grundlagen zu geben. Ich glaube, dass ein Leben in freien und kraftvollen Lebensgemeinschaften eine wunderbare Basis sein kann. 


Michael Steinhauer (57) reiste nach einer wenig erfolgreichen Schulkarriere mit einem Freund durch die Welt, finanziert durch Gitarrenspiel und ­Gesang. Seit der Geburt seines ersten Sohnes 1982 zieht sich die Förderung des Potenzials von Kindern als roter Faden durch sein Leben. Mit seiner Firma »Phantasiothek« ist er im künstlerisch-pädagogischen Bereich tätig.

Gemeinschafts-Wirklichkeit und Gemeinschafts-Visionen:
www.lebensdorf-gaia.de 
www.phantasiothek.de/visiana.htm

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