Titelthema

Als wär's eine Insel

Wie Kunst mit dem Boden das Oderbruch als sensibles Ökotop ­erfahrbar macht.von Sabrina Schulz, erschienen in Ausgabe #12/2012
Photo
© www.oderbruchpavillon.de

Am östlichen Rand der Bundesrepublik steht mitten auf dem Gras­acker ein Campingstuhl. Daneben liegt ein Gipfelbuch. ­»Soviel Himmel braucht guten Boden als Träger« hat jemand ­hin­eingeschrieben. Ein anderer Eintrag lautet: »Erst ein Grasacker, am Ende ein vielfältiger Ort mit Gipfel.« Dabei ist man geneigt, den 2,60 Meter über dem Meeresspiegel liegenden »Gipfel« erst einmal zu übersehen. Bei näherer Betrachtung gewinnt die platte Wiese jedoch an Profil. Eine Senke erstreckt sich quer über die Fläche bis zur Stillen Oder. Wer einen Blick in alte Landkarten wirft, dem gibt sie sich als trockengefallener Flussarm zu erkennen.
Diese »ganz stille Oder« verweist auf das Ungezähmte, Eigenwillige in der unscheinbaren Produktionsfläche – ein Gruß aus alter Zeit, bevor die Kunst der Wasserbauingenieure in markanten Strichen das heutige Bild des Oderbruchs zeichnete. Die einst amphibische Landschaft aus Feuchtwiesen, Bruchwald und wild verzweigten Fließgewässern ist heute von Deichen umschlossen. Der Wasserstand in den Gräben wird von Schöpfwerken reguliert. Die typische Polderlandschaft war das Vorzeigeprojekt des preußischen Landesausbaus. Mitte des 18. Jahrhunderts will der Alte Fritz Land und Leute gewinnen. Andernorts legen die angeworbenen Siedler Flächenbrände. Auf Hochmoorböden wächst ohne eine Handvoll Asche nur Wollgras. An der Nordsee ringt man den Gezeiten ihre Sedimentfracht ab. Eingedeicht wird die junge Marsch oft erst nach Jahrzehnten. Im Oderbruch hingegen ist der fruchtbare Auelehm längst da. Man muss nur das Wasser aus der Fläche bekommen. Das gelingt 1753 mit dem Kanaldurchstich bei Güstebiese (heute Gozdowice). Das ingenieurtechnische Großprojekt verlegt den Hauptabfluss der Oder an den Ostrand des Bruchs und schließt die Deichlinie. Was an Drängewasser durch den Untergrund in den Polder drückt, wird in Entwässerungsgräben abgeführt. Das Kolonistenland liegt trocken.

Hinter dem Deich
Knapp 250 Jahre später ist das Wasser fast wieder drin. Andauernder Starkregen in Tschechien und Polen löst im Sommer 1997 das Oderhochwasser aus. Tagelang blickt Deutschland auf das Oderbruch und hält vor dem Fernseher den Atem an. Die Gedanken kreisen um 1947, als bei einem Deichbruch 20 000 Menschen hier ihr Hab und Gut verloren. Dann sackt die Böschung des Deichs bei Hohenwutzen. Die Evakuierung der Bevölkerung wird angeordnet, die Bundeswehr zur Verstärkung gerufen. Freiwillige Helfer füllen 8 Millionen Sandsäcke. Soldaten riskieren ihr Leben, um die Schadstellen abzudichten. Das glückliche Schlusskapitel der Deichverteidigung geht als »Wunder von Hohenwutzen« in die Geschichte ein. Anfang August kommt die Entwarnung: Der Pegel sinkt. Die Medien widmen sich dem Unfalltod von Lady Di. Vorschläge, die Deiche zu öffnen und dem Fluss die Aue zurückzugeben, sorgen nur noch lokal für Schlagzeilen. Der Traum von der amphibischen Landschaft lässt die Bewohner des Oderbruchs nachts nicht mehr schlafen. Lässt sich mit Sparzwang und Naturschutzauflagen rechtfertigen, was sonst in Diktaturen und Kriegen geschieht: die Vertreibung von mehreren tausend Menschen? Erst als die Landesregierung sich zum Erhalt des Oderbruchs bekennt und die Deiche erhöht, sinkt der Angstpegel. Doch der Wasserstand sorgt für Bluthochdruck im Halbjahrestakt. Im Sommer 2010 wieder Starkregen, im Winter 2011 ein Eisstau. Das Wasser leckt an der Deichkrone, die Evakuierungspläne liegen auf dem Tisch. Die neuen Deiche aber halten stand.
Und doch lässt sich das Wasser nicht einfach vor den Deich verbannen. Starke Niederschläge, schlecht gepflegte Gräben und Fließgewässer, eine Mittelkürzung für den Schöpfwerkbetrieb oder ein fleißiger Biber – das System ist empfindlich, schnell sind die Senken gefüllt. Wasserflächen glitzern auf den Feldern. Wer aus der Luft einen Blick darauf werfen kann, erkennt in dem Muster das alte Gewässernetz. Am Boden blicken die Landwirte auf vernichtete Ernten. Diese Landschaft ist schwer zu berechnen.
Minutenböden sagt man, wenn zwischen »zu nass« und »zu trocken« nur wenig Spielraum für die Bewirtschaftung bleibt. Dennoch sind die meisten Flächen so ertragreich, dass im Oderbruch die intensive Nutzung dominiert. Auf gigantisch großen Schlägen wachsen Energiepflanzen, früher auch Gen-Mais. Der Grünlandanteil ist verschwindend gering. In den Siebzigern war auch Joachim Quast noch stolz auf jede Wiese, die durch Entwässerung zum Acker wurde. Inzwischen sieht der Hydrologe vieles anders. In seinem Traum von der Landschaft verschwimmen Polder und Aue ineinander. Ein Konzept für die Umsetzung legte er schon in den 1990er Jahren vor. Während die einen das Oderbruch um jeden Preis entwässern, die anderen es dagegen lieber fluten wollen, verweist es auf eine dritte Option: das Wasser als Verbündeten zu sehen. Es macht die Landschaft attraktiv und lebendig, kann den Deich durch Gegendruck von der Binnenseite stabilisieren und lässt sich im Extremfall dorthin lenken, wo es am wenigsten Schaden anrichtet. Aber für ein solches Bündnis müsste man kompromissbereit sein und ein wenig Land wieder feucht werden lassen. Man müsste die Ignoranz überwinden und Heizungen nur noch unter dem Dach installieren. Stattdessen kriecht mit der Feuchtigkeit eine lähmende Angst in die Häuser.

Kommunikation mit der Landschaft
Aber in dieser Landschaft ist viel Platz, auch für mutige Experimente. Der Campingstuhl mit Gipfelbuch ist nur der Gipfel der Expedition auf den Acker. Auf dem Weg dorthin hat jemand die Grasnarbe abgetragen, kleine Erdwälle säumen die Stelle wie entzündete Wundränder. Nichts hindert den Blick, den nackten Boden abzutasten. Die Hände möchten folgen, die weiche Haut der Erde berühren. Und doch zögert man. Vielleicht ist der Boden empfindlich, so ungeschützt? Auch andernorts warten tiefgründige Begegnungen. Stufen führen hinab in die Erde, lassen staunen über Schichtung und Körnung und über die Gräser – wie sehr sie sich doch an den verschiedenen Standorten unterscheiden. Eine weißgekleidete Frau mit Hut hat einige in ein Herbarium geklebt. Ist sie Lehrerin, Künstlerin, Forscherin? Ein Klangforscher hat Geräusche aus dem Untergrund geborgen. Kann man das Gras wachsen hören? Wohl kaum, aber man kann Verse lesen, auf einen alten Pflug geschrieben:

»Wer sich an die Scholle bindet,
kann nichts ins Feld führen,
nur seine Existenz,
er macht sich abhängig
von Boden, Humus und Wasser,
von Wind und Wetter;
von Jahreszeiten und Widrigkeiten;
eine Übung in Demut,
 die bauernschlau macht.« 


Der Autor und zugleich Initiator des sogenannten Landschaftspleinairs im Juli 2011 ist Kenneth Anders. Zusammen mit Lars Fischer gestaltet er den Oderbruchpavillon. Der lädt zwar auf Entdeckungsreise in die Landschaft ein, ist selbst aber kaum darin zu finden. Dabei sollte es durchaus einen konkreten Ort für die Begegnungsstätte mit dem Oderbruch geben, doch konnte sich der Oderbruchpavillon bisher nur auf seiner Internetseite dauerhaft einrichten – in einer Landschaft, in der erst seit kurzem Hoffnung auf eine Breitbandversorgung besteht.
Aus der Not haben Anders und Fischer eine Tugend ­gemacht. Die Internetseite dokumentiert Bausteine für die Regio­nalentwick­lung, Zeitungsartikel, Informationen und Kolumnen. Wer weiß, wogegen man mit dieser Sammlung einmal gewappnet ist? Dazu kommen raumgreifende Aktionen, mit denen der Pavillon der Verbannung in virtuelle Welten trotzt. Und zur Kommunikation über Landschaft verführt. Sei es mit dem Pleinair zum Thema »Grund und Boden«, mit einem Theaterstück, einem Themenabend oder einem Schulprojekt. Manchmal auch mit einer Provokation. Nicht selten wird bereits die Einladung zum Gespräch als solche missverstanden. Über so vieles spricht man nicht. Wer sich nicht ­daran hält, rührt an sorgsam ausbalancierte Machtverhältnisse. Ein ­aktuelles Beispiel liefert der letzte Themenabend. Es geht um Hochwasserschutz, auch Joachim Quast ist unter den Referenten. Er gibt das Stichwort: Überlaufstrecken, also das kontrollierte Einleiten von Wasser in Teilgebiete des Oderbruchs. Vielleicht sollte man darüber nachdenken. Vielleicht ließe sich so im Extremfall Schlimmstes verhindern. Die medienwirksame Stellungnahme des Landrats folgt prompt. Von Horrorszenarien ist da zu lesen und davon, dass Deichverteidigung keine Spaßveranstaltung sei.
Ähnlich schnell verhärten die Fronten beim Thema Boden. Da gibt es die Idee, probeweise CO2 unter das Oderbruch zu pressen. Eine Genehmigung steht noch aus, der Vermittlungsausschuss tagt. Medien, Bürgerinitiativen, Politik und Experten – alle beziehen ihre Posten. Wer nach den Informationen hinter der Rhetorik fragt oder den Interessen, hat bald Feinde in allen Lagern. Wie soll man aufeinander zugehen in vermintem Gelände? Auch ein Blick auf die oberirdischen Verteilungskämpfe wirft diese Frage auf. Mit der Privatisierung ehemals volkseigener Flächen nach der Wende hätte der Staat viel Gutes bewirken können. Doch vergeben wird das Land nach Höchstgebot. Welchen Beitrag der neue Eigentümer für die Vielfalt der ländlichen Räume leistet, wie verantwortungsbewusst er auf seinem Boden wirtschaftet – alles Nebensache. Noch sind nicht alle Flächen verkauft, nicht alle Pachtverträge geschlossen. Doch dass das Land begehrt ist, spricht sich herum, auch unter denen, die dar­auf vor allem Renditen ernten wollen. Wer weiß, wenn man über das Bodenproblem nicht mehr nur hinter vorgehaltener Hand diskutiert? Unter solchen Bedingungen ist die Kommunikation über Landschaft kein gemütliches Hobby, sondern ein hartes Geschäft. Zu verdienen ist oft nicht einmal Dank. Und doch gibt es die großen Erfolgsmomente. Etwa, wenn ein alteingesessener Agrarbetrieb seinen Grasacker zur Verfügung stellt, damit Künstler darin Mikrofone versenken, um dem Boden zu lauschen. 


Sabrina Schulz (30), Kulturwissenschaftlerin M. A., fühlt sich an den Schnittstellen am wohlsten. Hier widmet sie sich schreibend, beratend, ­forschend und vermittelnd den Aufgaben und Projekten, die einem Nach­haltigkeitswandel zuträglich scheinen. www.zeilenbrecher.de

Spuren zur grünen Insel im Nordosten
www.oderbruchpavillon.de
www.landschaftskommunikation.de

weitere Artikel aus Ausgabe #12

Bildungvon Margret Rasfeld

Das Lernen der Zukunft

Kinder sind naturgegebene Lerner. Wie kann unser Bildungssystem dem gerecht werden? Eine Berliner Schule nahm die Frage ernst und revolutionierte den Lernalltag – mit Erfolg.

Photo
von Ulrike Meißner

Geheimnisse der fruchtbaren Böden (Buchbesprechung)

»Unsere Acker- und Gartenböden sind dynamische Systeme, sie verhalten sich in mancher Hinsicht wie Organismen, wie etwas Lebendiges.« Diesen lebendigen Organismus »Muttererde« stellt der Landwirt Erhard Hennig in seinem Buch »Geheimnisse der fruchtbaren

Photo
von Sylvia Buttler

Food Crash (Buchbesprechung)

Felix zu Löwenstein, Biolandwirt und früher in der Entwicklungshilfe tätig, beginnt dieses Buch mit einem Fernseherlebnis, das ihn nachdenklich machte. Er sah einen Bericht über ein Wettessen, bei dem die Gewinnerin 167 Hähnchenflügel vertilgte. Kurz darauf berichtete

Ausgabe #12
Bodenhaftung

Cover OYA-Ausgabe 12Neuigkeiten aus der Redaktion