von Ulrich Holbein, erschienen in Ausgabe #12/2012
Oh, wie liebte ich als Kind die Natur! Bereits mit fünf gab ich ihr jeden Tag einen Kuss. Selbst einer Kreuzotter hätt ich das züngelnde Köpfchen gestreichelt. Bloß 2 Prozent der deutschen Männer und 4 Prozent der deutschen Frauen, z. B. Hilal Sezgin und Karen Duve, sind Vegetarier – genau wie bloß 2 Prozent bundesdeutscher Wehrpflichtiger sich entschließen mochten, Wehrdienst-verweigerer sein zu wollen und bloß 2 bis 4 Prozent aller Leute sich Mozart gefallen lassen – Kulturschande, oder alles paletti? Bei der unerforschten Oya-Leserschaft wird man optimistisch davon ausgehen können, dass sich dort 7 Prozent Vegetarier finden. 12 Prozent wär garantiert zuviel verlangt. Ihr verbleibenden 88 Prozent, die ihr euch nicht mal von Hochkultur, Religion, Ethik und Grundgesetz (die Würde des Tiers darf dreimal am Tag angetastet werden), nicht mal von Schweinepest, Rinderwahnsinn, Risikowurst abhalten lasst, der üblen Wesensverwandtschaft mit dumpfdeutschen Schweinebacken zu frönen und aktiv teilnehmt am umsonst himmelschreienden Dauerblutbad – keine Bange, ich will keinesfalls liebe Mitmenschen maßregeln. Schlagt nur weiterhin euren »unseligen Zahn in beseelte Geschöpfe, um traurige Wunden zu kauen«, wie es vor 2011 Jahren Ovidius Naso auszudrücken beliebte. Bei aller Tierliebe, Miezenstreichelung und Köterverhätschelung – die Menschheit packt’s nicht, mal ein bißchen humaner zu werden, weder Mensch noch Tier gegenüber, obwohl Helmut F. Kaplan zu beweisen nicht müde wird, dass selbst so konträre Menschheitsrepräsentanten wie Paul McCartney, Leonardo da Vinci und Mahatma Gandhi Vegetarier gewesen seien. Leo Tolstoi: »Solange es noch Schlachthäuser gibt, wird es auch Schlachtfelder geben.« Der Heilige Basilius: »Die Dünste des Fleischs umnebeln das Licht des Geistes!« Weihnachten könnte so schön sein, wenn es nicht den Vorwand böte, Millionen Gänse und Karpfen hinzumorden und minderjährige Fichten umzulegen. Ich hingegen wurde als guter Mensch vom Knüllwald mehrmals Vegetarier, blieb es dann auch und werde unsagbar selten schwach, wenn ich an Würstchenbuden vorbeimuss. Es soll weiche Roboter geben, die gelernt haben, den dortigen Verwesungsgestank als »lecker« zu empfinden. Alle Freunde – darunter hochsensible Brahmshörerinnen mit zauberhaftem Augenaufschlag – beteuern mir glaubwürdig: »Wir essen nur ganz wenig Fleisch!« Ist das nicht ein bißchen zu viel? Wollt ich als Müslifresser nur mit Vegetariern befreundet sein, müßt ich sogar meinem Lieblingstherapeuten aus Frankfurt-Bornheim den Laufpass geben. Pykniker können noch so sehr zum Frugivoren abspecken; ihren Fleischverzicht glaubt ihnen optisch keiner. Wie bereits Dr. Rudolf Steiner wusste: »Manche Menschen müssen einfach Fleisch essen« – bloß manche? Offenbar verlangt die Erde von 98 Prozent, sich bitte nicht durch spirituelle Entwicklung von ihr wegzubewegen, und siehe: Als ich zwecks geistlicher Erbauung mich zuletzt auf den Weihnachtsbasar einer Waldorfschule begab, wimmelte es selbst dort von Würsten – und in Nutella wird sowieso Schweineblut verarbeitet, in Gummibärchen Knochenmark und in Nudeln durch den Wolf gedrehte, weil zum Eierlegen untaugliche Gockelküken – kotz, würg! Ein schrecklicher Kampfplatz, diese Welt. Die einen zwingen ihre Freunde, in deren Därmen wohnen zu müssen, als Wurst, die anderen werfen mir vor, dass ich bloß Vegetarier, nicht aber Veganer sei. Ich leide dran, dass meine Widerstände gegen Käse kleiner sind als gegen Kalbshaxe. Mein traumatisches Buddha-Erlebnis: dass ich, vierjährig, wie am Zebrastreifen anhalten musste, weil Schweine wie bei Wilhelm Busch am Schwanz vom Stall in die Metzgerei gezerrt wurden, und einmal zog mich Mutti nicht schnell genug vom Tatort weg: »Guck da nicht hin!« Aber ich hatte mich ganz kurz umgedreht und sah das Schwein zusammenstürzen zur formlosen Masse. Tagsüber lautete mein Berufswunsch Förster. Nachts wurde erneut ein Schwein am Schwanz über die Straße gezogen. Als ich erfuhr, als Förster müsse man auch Rehe schießen, sattelte ich sofort um auf Tierarzt. Später kam dann alles noch ganz anders.
Holbeins außergewöhnlich wichtige Literaturtipps: Helmut F. Kaplan: Der Verrat des Menschen an den Tieren. Vegi-Verlag, 2006, und Tierbefreiungen – Kriminelle Akte oder konsequente Ethik? und Ich esse meine Freunde nicht oder: Warum unser Umgang mit Tieren falsch ist, trafo Verlagsgruppe, 2009 • Joachim Radkau: Die Ära der Ökologie. Eine Weltgeschichte. C. H. Beck, 2011 • Karen Duve: Anständig essen. Ein Selbstversuch. Galiani Verlag, 2011 • Hilal Sezgin: Landleben. Von einer, die raus zog. DuMont Buchverlag, 2011 • J. S. Foer: Tiere essen. Kiepenheuer & Witsch, 2010