Titelthema

Wie kann mensch Liebe lernen?

Die »Liebesschule Potsdam« nimmt Jungen und Mädchen mit auf äußere und innere Reisen.von Kathrin Raunitschka, erschienen in Ausgabe #13/2012

Wir treffen uns am Potsdamer Bahnhof. Eltern und Kinder, manche haben ihre Geschwister mitgebracht. Die Stimmung ist freudig aufgeregt. Die meisten Mädchen und Jungen wollen los, haben ihre Rucksäcke auf dem Rücken. Manche brauchen noch ein wenig Zeit. Philipp steht mit dem Rücken im Arm seiner Mama. Für den Elfjährigen ist es das erste Mal, dass er so lange ohne sie sein wird. Sie hat für ihn einen Talisman mitgebracht, einen Ring an einem Lederband. Er hält ihn ganz fest in seiner Hand.
Dann geht es los. Die Eltern winken uns nach. Lina dreht sich um und winkt zurück. Philipps Mama weint ein bisschen. Philipp läuft neben Andreas, seinem Lieblingslehrer, her.
Vor den 25 Jungen und Mädchen liegen neun Tage Kanufahrt auf dem Fluss Obra in Polen. Es ist eine ganz besondere Reise: Es geht um die Liebe zur Natur und zum Leben, Liebe zu sich selbst, zu Freunden und zur Familie und zu all den Tieren, Dingen und Tätigkeiten, die den Mädchen und Jungen wichtig und heilig sind. Es geht um die Liebe zum eigenen, sich verändernden Körper, um Kontakt zum eigenen wie zum anderen Geschlecht und um das erste, zarte Interesse aneinander, das in diesem Alter zu keimen beginnt. Die Kinder gehen ihre ersten Schritte vom Mädchen zur Frau und vom Jungen zum Mann. Sie spüren, wie sie sich verändern. Das weckt in ihnen Wissensdurst, doch gleichzeitig fühlen sie sich unsicher, suchen nach Orientierung. Auch im Thema Liebe und Sexua­lität, das in diesem Alter oft zum Thema Nummer eins wird.
All ihre Hoffnungen und Ängste können sie auf unserer gemeinsamen Reise teilen – ihre Glücksgefühle, aber auch die Enttäuschungen, die sie in der Pubertät erleben.

Auf dem Weg ins Unbekannte
Mit dem Zug fahren wir nach Zbaszyn, einem Ort 150 Kilometer östlich von Frankfurt an der Oder. In Polen fühlen wir uns wie jedesmal sehr willkommen. Eine Frau spricht uns am Bahnhof an, fragt, woher wir kommen, und begleitet uns ein Stück. Wir wandern ungefähr drei Kilometer, bepackt mit unseren Rucksäcken. Alte Männer sitzen auf Bänken am Wegesrand, nicken und winken uns freundlich zu. Am See gibt es eine Art Freibad. Dort übernachten wir am ersten Tag auf einer überdachten Bühne. Schnell kommen unsere Mädchen und Jungen mit den einheimischen Kindern und Jugendlichen in Kontakt. Mit Händen und Füßen, polnischen und englischen Vokabeln tauschen sie sich aus. Wir haben Zeit zum Ankommen. Mädchen und Jungen tun das auf sehr unterschiedliche Weise. Die Jungen erkunden das Gelände und verabreden sich auf ein Fußball- oder Basketballspiel mit den polnischen Jungs. Die Mädchen richten sich häuslich ein. Schlafsäcke werden ausgerollt, Kuscheltiere gezeigt.
Später baden und toben alle gemeinsam im Wasser. Abends gehen wir für die Woche einkaufen, denn ab morgen sind wir mit den Kanus unterwegs. Das bedeuet Schlafen im Wald und Kochen am Feuer. Kein Supermarkt, kein Strom, kein Dach über dem Kopf.

Entdeckung ungewohnter Räume
Acht Kanus liegen am Strand der Obra in der Morgensonne. Die Mädchen und Jungen verhandeln, wer mit wem im Boot paddeln wird. Lina steht mit ihren Freundinnen zusammen und berät sich. Philipp sitzt schon im Boot. Die Bootsmannschaften finden sich schnell. Es gibt Mädchen- und Jungenboote.
Ab heute gibt es viele Aufgaben, die es gemeinsam zu meistern gilt. Alles Gepäck und Essen wasserdicht verstauen, 15 Kilometer paddeln, einen schönen Platz finden, Holz sammeln, Feuer machen, Trinkwasser besorgen, Essen auf dem Feuer kochen. Zu Hause werden die meisten alltäglichen Handgriffe für die Kinder erledigt, doch auf dieser Fahrt nehmen sie das Ruder selbst in die Hand, ­organisieren und gestalten ihr Zusammenleben eigenständig.
Während der nächsten acht Tage sind wir in der Natur, entdecken ungewohnten Raum und erforschen Neuland. Hier in der wilderen Umgebung sind wir auch unserer inneren, seelischen Natur näher. Es ist eine Reise auf dem »Fluss des Lebens« – der schwankende Untergrund des Wassers steht manchmal für Unsicherheit und Ängste, kann aber auch die Erfahrung vermitteln, getragen zu sein und aus eigener Kraft voranzukommen. Sinnlich erleben wir die immer wiederkehrende Struktur von Wachstumsprozessen des Lebens: Aufbrechen – Suchen – Ankommen – Einrichten – Dasein – Beenden – Abbauen – Weiterziehen.
Unter dem Motto: »Ich mag mich so, wie ich bin, und ich bin wertvoll. Aber wer bin ich eigentlich?« widmen sich die Mädchen und Jungen spielerisch verschiedenen Fragen: In welcher Situation bin ich ich selbst? Wie stark kann ich vertrauen? Wie nah kann und will ich andere an mich heranlassen? Mit verbundenen Augen führen sich die Kinder gegenseitig oder versuchen, sich blind zu erkennen. Sie lassen ihren Körper als Pendel nach hinten fallen und sich von den anderen auffangen, werden wie etwas sehr Wertvolles in die Höhe gehoben, gehen aufeinander zu, um herauszufinden, wo ihre Grenzen sind. Ganz glücklich sind sie nach dem Spiel, in dem sich ein Kind auf einen roten Samtthron setzt und anderen Kinder Fragen stellt wie: Was wäre ich, wenn ich ein Tier wäre? Eine Pflanze? Ein Auto? Eine Märchenfigur? Es sind schon Komplimente, als König, Elf, Malerin oder Seerose gesehen zu werden.

Unter Mädchen, unter Jungs
Nach so vielen gemeinsamen Spielen ist es an der Zeit, dass jede Gruppe für sich sein kann. Die Mädchen bleiben mit den Betreuerinnen für eine Mädchenzeit im Lager, die Jungen gehen mit den Betreuern zu einem geheimen »Männerplatz«. Ist das vielleicht ein archaischer Ausdruck, dass die Männer losziehen, während die Frauen das Lager hüten? In der getrennten Mädchen- und Jungenzeit erfahren die Kinder, wie es ist, unter sich zu sein – und das vor allem über sinnliches Erleben: bei Körpermalerei, gemeinsamem Singen und Tanzen, beim szenischen Spiel, beim Kämpfen, Massieren und in der »Dr.-Sommer-Runde« – einer Fragestunde, in der man alles über Liebe und Sex fragen kann. Es geht um das Erfahren der eigenen Stärke und Kraft und auch um schwache Momente, um Respekt für sich und für die anderen.
Nach zwei Tagen machen sich die Jungen auf die Reise zurück zu den Mädchen. Bevor sie im Lager ankommen, treffen sich Abgesandte, um zu besprechen, wie die Wiederbegegnung gestaltet werden soll. Die Jungen sind wild bemalt, und manche stehen in ihren Kanus. Sie singen vom Wasser aus einen Rap, in dem der Name jedes Mädchens auftaucht. Ihnen ist die Freude und Aufregung anzusehen. Die Mädchen, bemalt als Nixen, Waldfeen und Avatare ziehen die Jungen in ihren Bann und empfangen sie an Land. Mit einer neuen Sensibilität, unbändiger Freude und auch ein bisschen Wehmut begegnen sie sich wieder. Abends am Feuer werden Geschichten der letzten Tage ausgetauscht. Manches bleibt geheim. Es wird gelacht, gesungen und erzählt. Viele Kinder sitzen aneinander gekuschelt und schauen in die Flammen. Lina sagt: »Irgendwie sind Mädchen und Jungen zusammen ein perfektes Team.«

Gemeinsam gegen den Strom
Am nächsten Tag paddeln wir ins Dorf, um für ein gemeinsames, abschließendes Festessen einzukaufen. Wir müssen gegen die Strömung paddeln, aber zusammen schaffen wir das. In einem Laden kaufen wir alles, was lecker aussieht: Obst, Gummibärchen, Hühner, polnische Wurst, Kekse, Gemüse … Später wird gemeinsam gekocht und gebrutzelt, ein Festplatz vorbereitet. Alle helfen mit und tragen etwas bei: Einige bringen Holz, würzen die Hühner, es wird geschnippelt, Tücher werden aufgehängt und Kerzen verteilt. Der Ton untereinander hat sich verändert. Er ist freundlicher, entspannter, aufeinander bezogen. Nach dem großen Festmahl paddeln wir mit Kerzen an den Booten unter einem grandiosen Sternenhimmel zur Mitte des Sees. Jetzt ist es still, irgendwie feierlich und unvergesslich.
Am nächsten Morgen werden die Kanus gepackt, und es geht wieder Richtung Heimathafen. Noch eine Nacht schlafen wir unter den Sternen. Dann fahren wir wieder nach Hause, wo die Kinder mit einem liebevoll gestalteten Empfang am Bahnhof begrüßt werden. Lina rennt ihren Eltern entgegen, Philipp fällt seiner Mama in den Arm. Es gibt Erdbeertorte und ein großes Willkommensbuffet.
Die Reise auf der Obra ist zu Ende – die innere Reise der Jungen und Mädchen zu sich selbst, zur Freundschaft und Liebe hat gerade erst begonnen und führt sie in neue, unbekannte Länder. 


Kathrin Raunitschka (40) ist Initiatorin der Wildnisschule Potsdam. Mit Eike Schwarz, Geschäftsführer des Vereins Manne e. V. Potsdam, arbeitet sie mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen zu Geschlechtsspezifik, Reisen in der Natur und zur Begleitung von Lebensübergängen.


Lust auf Wildnis, Lust auf Reisen zu sich selbst?
www.wildnisschulepotsdam.de
www.mannepotsdam.de

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