So läuft’s rund!
Das befriedigende Aufwachsen bis zum weisen Ältesten bedingt die Begleitung durch eine tragfähige Gemeinschaft. Auch heute lassen sich Clan-ähnliche Netzwerke aufbauen. Denn: Die Verbindung macht’s!
Wer sich auf die Suche nach Wegen jenseits der Erwartungen der Leistungsgesellschaft macht, findet über kurz oder lang Unterstützung. Der eigene Weg: Es gibt ihn!
»Stadt ist nichts mehr für mich«, sagt Paula, »all die Eindrücke, die auf mich einstürzen, da spüre ich mich irgendwann selber nicht mehr. Hier ist das anders.« Sie sieht zum Fenster hinaus, auf die großen Bäume im verwilderten Schlosspark.
Paula ist 18 und hat fast ihr ganzes Leben in Kiel verbracht. Jetzt bewohnt sie ein Zimmer im alten Herrenhaus von Hugoldsdorf in Mecklenburg-Vorpommern. Wie sie hierher gekommen ist, ist eine lange Geschichte.
Vielleicht beginnt diese Geschichte mit Paulas Auszug von zu Hause noch während der Schulzeit. Vielleicht beginnt sie aber auch in der Schule selbst: »An sich hatte mir Schule sehr lange Zeit großen Spaß gemacht. Doch in Richtung Abitur ging es zunehmend nur noch um Noten, es ging nur noch darum, Erwartungen zu erfüllen. Da konnte ich auch nicht mehr ich selber sein, und das hielt ich nicht lange aus«, erzählt Paula.
Das Gefühl, nicht sie selber sein zu können, sich aber auch nicht damit abfinden zu wollen: Vielleicht war das der Antrieb hinter allem, was dann kam. Dass sie sich auf den Weg gemacht hat, zunächst ohne jede Ahnung, wie die Alternativen aussehen könnten. Dass sie dem heute so gern gesehenen »geraden Lebenslauf«, der stets mit dem Absolvieren von Bildungseinrichtungen zu beginnen hat, bewusst schon zu Anfang Adieu gesagt hat.
Traumberuf Tischlerin
Erstmal hat sie der Schule nur diese Vorstellung entgegenzusetzen: »In mir stieg dieses Bild auf, herumzureisen und als Tischlerin zu arbeiten. Holz und körperliche Arbeit habe ich schon immer geliebt«.
»Träumerin«, heißt es dazu oft von ihren Freundinnen. Dabei weiß Paula wohl, dass Träumen allein nichts hilft. Nach dem endgültigen Schulabbruch in der zwölften Klasse stellen sich zunächst ganz konkrete Fragen, die schnell beantwortet werden müssen: Was jetzt? Wo leben? Und wovon?
Eine vorläufig gute Antwort findet Paula in einem Praktikum in der Schutzstation Wattenmeer auf Sylt: Unterkunft, Verpflegung und Arbeit, die Spaß macht. Sie bemerkt einen Wandel an sich selbst: »Auf Sylt gab ich Führungen für Besucher, das hat großen Spaß gemacht. Dabei konnte ich wirklich aus mir herausgehen und frei sprechen. In der Schule habe ich mich gefangen gefühlt, da hat das nie geklappt.«
Das Praktikum ist selbstverständlich befristet. Leider. Noch hat Paula keine Ahnung, wie es weitergeht. Bis sie Joop, einen Mitpraktikanten, näher kennenlernt. Sein Vater hat eine Tischlerei, und so ergibt sich unkompliziert Paulas nächste Etappe: ein sechswöchiges Praktikum bei Joops Vater in Witten.
Hier merkt Paula, dass sie richtig lag. Der Umgang mit Holz, das Handwerk ist ihr Ding, das könnte was werden. Nur vor einer formalen Ausbildung schreckt sie zurück: »Klar habe ich mir diese Frage gestellt. Aber jetzt nochmal in die Schule, das konnte ich mir auf keinen Fall vorstellen.«
Nicht allein mit meinen Fragen
Die Zeit in Witten hält mehr bereit als Schleifen, Sägen und Türensetzen. Joops Schwester hat einen Freund, dessen Bruder Joshua Conens (siehe Gespräch auf Seite 44) gerade einen Film gedreht hat. Eines Abends wird »Berufswege« vorgefüht, eine Doku, die drei Menschen mit sehr verschlungenen Pfaden zum Beruf porträtiert. Paula ist begeistert: »Der Film war so eine Art Augenöffner für mich. Zu sehen, dass andere dieselben Themen haben, und dass man so coole Wege gehen kann, das hat mir echt viel gegeben«. Außerdem erfährt sie, dass es bald eine Tagung zu diesem Film in Berlin geben wird, auf der sich 50 junge Menschen mit dem Thema Beruf und Berufung auseinandersetzen wollen. Paula nimmt teil:
»Das war noch einmal eine Verstärkung dieses Impulses. Vorher hatte ich anderen hauptsächlich zu erklären versucht, warum ich nicht in der Schule bin oder eine Ausbildung mache. Ich musste mich ständig rechtfertigen. Auf der Tagung erlebte ich plötzlich bei allen ein echtes Interesse und Verständnis – da waren lauter Menschen, die ganz individuell nach Alternativen suchten. – Unglaublich!«
Basisstation im alten Schloss
Im Film »Berufswege« spielen nicht nur Menschen mit, auch ein Ort hat gewissermaßen eine wichtige Nebenrolle als Schauplatz einer der drei »Wege«: das alte Gutshaus von Hugoldsdorf, genannt »das Schloss«. Auf der Tagung hat Paula Franziska kennengelernt, die im dortigen Projekt lebt. Das Hugoldsdorfer Schloss ist ein besonderer Ort. Es liegt in der am dünnsten besiedelten Gegend Deutschlands. Nach Stralsund durchfährt man 35, nach Rostock 50 Kilometer weites, flaches Land. Seit 2006 wohnen und werkeln nach langem Leerstand wieder eine Handvoll Menschen im ehemals völlig ruinierten Gebäude. Einerseits ganz konkret mit Schlagbohrer, Kelle und Mischmaschine, um Wohnraum zu schaffen und das Gutshaus von Grund auf zu renovieren. Andererseits treibt alle die Frage nach Bildung um und die Frage nach dem inneren Freiraum, den alles Lernen braucht. Wie kommt der Mensch zu sich selber? Die Bewohner Florian, Friedel und Maria, junge Waldorflehrer, riefen das »Captura-Projekt« ins Leben, das sich in den letzten Jahren intensiv auf Tagungen und Seminaren im Schloss und anderswo mit diesen Themen befasste. Auch wenn diese Arbeit inzwischen nicht mehr stattfindet, weil die Menschen am Ort in eine Phase der Neufindung gegangen sind, spürt Paula hier schnell große Schnittmengen mit ihrem eigenen Leben und den Fragen, die sie sich in dieser Zeit stellt. Als Franziska dann meint: »Zieh doch her!«, dauert die Entscheidung nicht sehr lange.
Seit einem Monat ist Paula in Hugoldsdorf und genießt es: »Ich hatte ja lange keinen eigenen Raum, das hat mir schon sehr gefehlt. Hier habe ich wieder so etwas wie eine Basis«, erzählt sie, während sie Kalk in die Mischmaschine schaufelt. Viele Räume müssen noch verputzt werden, und wer es warm haben will, muss Holz machen. Das Schloss ist immer noch eine halbe Ruine und eine ständige Baustelle. Das stört Paula nicht: »Wenn ich das alles so sehe, kriege ich eher Lust, so ziemlich jedes Handwerk zu lernen«, sagt sie und grinst. »Mal mit eigenen Händen ein Haus bauen zu können, dieser Gedanke fasziniert mich total!«
Für ihre Zeit in Hugoldsdorf hat Paula drei Projekte, abgesehen von der täglichen Renovierungsarbeit am alten Gemäuer. Das erste ist die Vorbereitung der zweiten Berufswege-Tagung im Herbst, die diesmal noch größer sein wird. Paula ist Teil des Organisations-Teams, regelmäßig finden Vorbereitungstreffen statt.
Als zweites, sozusagen als ersten Schritt ihrer Ausbildung, will sie sich einen alten Bauwagen beschaffen und innen komplett wohnlich ausbauen. »In Hugoldsdorf gibt es viele Schreinerei-Maschinen und Menschen, die mir was beibringen können. Der Bauwagen wäre ein toller Start.«
Projekt drei ist eines, das seit der Schulzeit immer wieder in ihr auftaucht: »Ich habe mir ein Fahrrad vom Spermüll geholt und bin dabei, es wieder herzurichten. Nächstes Jahr werde ich damit losfahren und unterwegs Tischlerei lernen, vielleicht auch andere Handwerke. Wie das genau sein wird, weiß ich noch nicht, aber auf jeden Fall werde ich losfahren.«
Das Rad sieht ganz brauchbar aus, noch fehlen aber einige Teile.
»Auch menschlich gesehen, ist meine Zeit hier ein Fundament. Viele Menschen hier gehen ähnliche Wege, die nicht in erster Linie davon bestimmt sind, was heute allgemein als ›sinnvoll‹ gesehen wird«, sagt Paula, »ich möchte frei leben, das verstehen die Leute hier. Früher hat mich dieser Anspruch, dieser Druck, etwas ›Sinnvolles‹ für eine Erwerbskarriere tun zu müssen, völlig gelähmt. Hier kann ich sehen, was für Impulse aus mir kommen. Denn natürlich möchte ich etwas tun.«
So wird Paula ihre eigenen Pläne machen und sicherlich auch verwirklichen. Sich auf das Fahrrad setzen und auf den Weg machen. Ihren eigenen Schulweg ins Leben. Alles Gute, Paula!
Jonas Hentschel (31) wohnt im Taunus nahe Wiesbaden. Er hat sein Studium der Anglistik, Germanistik und Literaturwissenschaft abgebrochen und ist gelernter Glasmaler und Kunstglaser auf der Suche nach einem Neustart.
henjon2@web.de
Paulas Inspirations-Film und -Ort
www.berufswege.com
www.gutshaus-hugoldsdorf.de
Das befriedigende Aufwachsen bis zum weisen Ältesten bedingt die Begleitung durch eine tragfähige Gemeinschaft. Auch heute lassen sich Clan-ähnliche Netzwerke aufbauen. Denn: Die Verbindung macht’s!
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