Gemeinschaft

Autarkie war Portugals Schlüssel

Eine Zukunftsvision, die jederzeit verwirklicht werden könnte.von Eva Maria Luz, erschienen in Ausgabe #14/2012
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Wie soll man im Nachhinein sagen, wann die Dinge begannen, anders zu werden? Anfänge von etwas Neuem sind immer klein und unscheinbar, und wer könnte den haarfeinen Ursprung dieser großen Veränderungen definieren, die wir jetzt überall im Land spüren und sehen? Heute setzen sich jene Stimmen durch, die finden: Die Wende in Portugal nahm ihren Ausgang an der letzten der vielen Demonstrationen und an anderen Versuchen, sich dagegen aufzulehnen, was man doch nicht mehr abwenden konnte: den wirtschaftlichen Ausverkauf des Landes. Die Demonstration war vor allem ein Ausdruck der Wut und des Nicht-einverstanden-Seins – wenigstens darin konnte man die eigene Kraft und die Gemeinsamkeit spüren. So wie an vielen anderen brisanten Orten der Erde.
Doch dann geschah etwas Neues. Die Atmosphäre der Demonstration drehte sich, als wenn ein anderer Wind aufgekommen wäre. Vielleicht hatte das mit diesem Flugblatt zu tun, dem »Manifesto für eine Generation im Aufbruch«. Niemand weiß mehr so recht, woher es eigentlich gekommen war.
»Die Welt befindet sich im Übergang zu einer neuen Form des Lebens auf der Erde. Die alten Diktaturen und Hierarchien sind nicht länger haltbar. Wir erleben den Zusammenbruch der großen Systeme. Hinter der globalen Gewalt zeigen sich die Kräfte eines tiefgreifenden Zeitenwechsels.« 
(Aus dem Manifesto)
Auf einmal erinnerten sich viele an die eigene Stärke. In Portugal hatte man schon einmal eine Diktatur abgeschüttelt – sogar die längste, die in Europa je bestanden hatte, und das fast ohne Gewalt. Damals waren sie die Unterdrückung losgeworden, indem sie selbst aufhörten, Unterdrücker zu sein, und das Kolonialreich aufgaben. Und jetzt wollte man Portugal zu einer EU-Kolonie machen!
Ein harter Kern der Protestgeneration ging nicht mehr ausein­ander an diesem Abend. Sie waren berauscht von der Erkenntnis, Teil einer neuen Generation, einer globalen Bewegung zu sein. ­Natürlich brauchte Portugal keinen europäischen Schutzschirm, natürlich hatte es die Kraft, sich selbst wirtschaftlich zu retten. Aber es ging um etwas viel Größeres: Sie würden etwas ganz Neues schaffen, eine neue Welt. »Lasst sie nur entscheiden da oben. Wir tanzen längst in einem höheren Rhythmus. Wir haben andere Gedanken entdeckt, einen anderen Leitstern, dem wir folgen.«

Vision einer freien Erde
Ja, Portugal würde anderen Ländern in ähnlicher Situation zeigen, wie ein Leben in Selbstbestimmung, Gemeinschaft und Verantwortung möglich ist. Sie brauchten nur einen Anfang, das heißt einen Ort, an dem man es wirklich tat, und eine Idee, wie man anfangen sollte.
Autarkie erkannten die jungen Leute als Schlüsselthema – etwas, das Menschen und Regionen weltweit zu lernen hatten, wenn sie die kommende Zeit des Zusammenbruchs überleben wollten. Sie fanden Wissensquellen, von denen sie vorher nichts gehört hatten, weltweite Initiativen, die lehrten, wie der Reichtum der Natur zu nutzen und die Geschenke der Natur zu lenken sind, so dass wieder Fülle und Harmonie entstehen. Die Open-Source-Gemeinde gab ihr Wissen an diejenigen weiter, die es am dringendsten brauchten: Friedensdörfer, Widerstandsgemeinden, Stützpunkte der Indigenen in vielen Ländern. Reisende »Universitäten« forschten am neuen Wissen zu natürlichem Wassermanagement, futuristischer Architektur mit lokalen Materialien und einer Art von Solartechnologie, die in einfachen Werkstätten umzusetzen ist. Dass auch Gemeinschaftsausbildung, eine Liebes- und eine Denkschule für die »abgefahrensten« Wissenschaftsbereiche dazugehörten, das erzählten die jungen Welt-Erneuerer ihren Eltern zunächst nicht.
Es war die Vision einer freien Erde, die sie bewegte, in ein ganz neues Leben einzutreten und Altes hinter sich zu lassen. Sie beschlossen, auf der Grundlage dieses Wissens das Modell Portugal aufzubauen. Wo war dies besser möglich als im Alentejo, jenem schwierigen und aufsässigen Stiefkind des Landes, diesem Aschenbrödel, das sich in der Geschichte aber schon oft als Prinzessin erwiesen hatte! Nirgendwo waren die Probleme des Landes so deutlich zu sehen – Entvölkerung, Armut, Wüstenbildung, Abhängigkeit, Analphabetentum. Wenn hier etwas Neues gelänge, könnte es überall gelingen. Mit ihrem neu gewonnenen, sich an den Möglichkeiten orientierendem Blick sahen sie aber auch den Reichtum dieser Landschaft: Die längste Sonnenscheindauer Europas, der Winterregen und eine Geländeausformung, die förmlich dazu einlud, das ökologische Paradies wieder herzustellen. Und: Immer noch lebten viele der Menschen, die hier in ihren Gemeinden schwierige Zeiten zusammen gemeistert hatten.

Eine Landschaft wird lebendig
In dem Dörfchen Santa Maria erwarben sie zusammen mit der örtlichen Cooperativa ein großes Gelände. Sie brachten Geld zusammen, um als erstes eine große Wasserretentionslandschaft anzulegen. So bewahrten sie das Regenwasser, das zuvor schnell abgeflossen war und den Humus weggespült hatte, auf dem Gelände, wo es den Durst von Pflanzen, Tieren und des ausgedörrten Erdkörpers stillte. Schon nach den nächsten Winterregenfällen schmiegte sich eine Kaskade von Teichen und Seen in die Landschaft wie eine Perlenkette. Anfangs war die Vegetation spärlich, und dennoch war die Veränderung der Landschaft bereits atemberaubend. Im folgenden Jahr stellte sich eine Fülle von Tieren und Pflanzen ein, an die sich nur sehr alte Leute erinnern konnten. Hunderte Arten von Vögeln, sogar Adler, wurden gesehen, und der Fischotter fand wieder ein Biotop. Das ganze Jahr über blühte es rings um die Seen, an mehreren Stellen traten wieder Quellen aus dem Boden. Wissenschaftler und Studenten dokumentierten, wie sich die Wüste zum Garten wandelte.
Nach und nach bildete sich eine essbare Landschaft mit Terrassen und Fruchtwäldern. Menschen aus dem Dorf füllten ihre Körbe mit Obst, Gemüse und Pilzen und ihre Flaschen mit Quellwasser. Der Verkauf von Frischkost wurde überflüssig – wer würde noch für etwas bezahlen, das einem überall in den Mund wuchs?
Um die Pacht der Ufergrundstücke bewarben sich Familien aus Santa Maria oder solche, die sich neu ansiedeln wollten. Unter einigen ökologischen Auflagen wurde begonnen, Handwerksbetriebe aufzubauen, dazu Gartenbau, Biolandwirtschaft, Aquakultur, Lebensmittelverarbeitung, Imkerei. Auch ein Lehmbauarchitekt und eine Werkstatt für dezentrale Solarenergie öffneten ihre Tore. So entstand ein »Industriegebiet«, das Arbeitsplätze schuf, aber keine Umwelt zerstörte und keine Menschen ausbeutete. Im Gegenteil: Man wurde selbständig, indem man mit der Natur kooperierte.
Ein großer Teil der Lebensmittel wird seither für den Eigen­bedarf der Region produziert, nur die Überschüsse werden verkauft. Supermärkte wurden immer uninteressanter, zumal sie in Zeiten von Peak Oil immer unzuverlässiger Waren führen. Das gestiegene Aufkommen von Besuchern sorgt für guten Absatz der örtlichen Läden und Restaurants. Santa Maria ist in geworden, und im ganzen Land ist man stolz, sich damit zu zeigen.
Die neue Wirtschaftsregion gründete eine eigene regionale Währung, so dass nun die Energie-, Geld-, Dienstleistungs- und Warenflüsse innerhalb des Landkreises gefördert werden. Jugend­liche aus vielen Ländern arbeiten und lernen hier. Bei allen Sprachschwierigkeiten verstehen sie sich doch, denn sie merken, dass sie zu einer weltweiten Gemeinschaft gehören. Das ist eine Schule! Sie war zunächst Geheimtipp und avancierte dann zur landesweiten Attraktion. Jugendliche rissen von zu Hause aus, um mitzumachen. Die Eltern beruhigten sich, als sie hörten, dass Abgänger dieser Schule als Fachkräfte mit hoher sozialer Intelligenz gefragt sind.

Die Information geht um die Welt
Vielen Politikern blieb seitdem der Mund offen stehen. Was hatten sie da zugelassen? Diese Region macht sich tatsächlich selbständig! Bald gründeten sich Komitees von Menschen, die ähnliche Projekte auf den vielen ungenutzten Ländereien vorbereiten. Menschen verlassen die Städte, um neue Gemeinschaften zu bilden. Weltweit verfolgen die Protagonisten der Jugendbewegungen mit großem Interesse die neue Entwicklung.
Das Santa-Maria-Kolleg wurde zu einer international anerkannten Bildungsstätte für Öko-Tech und soziale Nachhaltigkeit, die das Know-how für Autarkie lehrt. Eine Erkenntnis füllt sich nun mit Erfahrung: Gemeinschaftlicher Zusammenhalt, weitgehende regionale Selbständigkeit und intelligente Kooperation mit der Natur sind der Schlüssel für wirtschaftliches Gedeihen.
Das Land verändert sich: Überall füllen sich Wasserlandschaften. An den Ufern gedeiht das Leben, Waldbrände kommen nicht mehr vor. Jetzt weiß man endlich, wonach sich all die Seefahrer und Helden der Geschichte Portugals wirklich gesehnt haben. Aber nicht in Übersee, sondern hier, im eigenen Land, findet man das Paradies, die Fülle, den Reichtum! Reisende aus vielen Ländern nehmen diesen Eindruck mit nach Hause. Auch Griechenland und Spanien beugen sich nicht mehr ihren Krisen, sie verbinden sich in einer neuen Art der Globalisierung und machen sich unabhängig von den zerstörerischen Megasystemen, denn sie verstehen jetzt, worin die Basis eines wirklichen Reichtums besteht.
»Wir sehen eine neue Generation von Pilgern über die Erde ziehen. Sie sind nicht mehr gebunden an Nation, Sprache, Kultur und Religion, auch nicht an Reichtum und Besitz. Sie helfen in Krisengebieten, besuchen heilige Stätten, begegnen sich an Lagerfeuern und Herbergen, teilen ihr Brot und entwickeln eine neue Qualität der Gemeinschaft. So entsteht außerhalb aller Institutionen ein junges Weltbürgertum von neuer Art – eine neue positive Globalisierung. Unterstützt wird dieser Vorgang durch die ­Entstehung neuartiger Zentren, die sich langsam auf der Erde ausbreiten. Wir nennen sie Heilungsbiotope oder Friedensdörfer.« (Aus dem Manifesto) 



Eva Maria Luz (23) ist Schriftstellerin aus Lissabon und engagiert sich in der Aufbruchbewegung des Landes.


Hier geht’s zum zitierten Manifest
www.tamera.org/manifesto 

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