Gemeinschaft

Wirtschaften ohne Stress und Angst

Regionale Wirtschaftsgemeinschaften wollen die Versorgung mit wichtigen Gütern und Dienstleistungen wieder in die Region holen. Wolfram Nolte sprach mit dem Unternehmensberater Roland Wiedemeyer, einem der Gründer der ReWig Allgäu.von Wolfram Nolte, Roland Wiedemeyer, erschienen in Ausgabe #17/2012
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© privat

Herr Wiedemeyer, wie kam es zur Gründung der ReWiG Allgäu?

Als Projektmitarbeiter in kleinen und auch großen Unternehmen habe ich erfahren, was es bedeutet, wenn eine Firma sich Ziele setzt und diese mit allen Mitteln erreichen will. Die Arbeitsbedingungen sind oft unmenschlich, soziale Beziehungen stehen an hinterster Stelle. Auch Lieferanten werden oft einem erheblichen Preisdruck ausgesetzt. Zudem wird die Sinnhaftigkeit insbesondere technischer Produkte gar nicht betrachtet, sondern nur die Absatzmöglichkeit. Hinter allem scheint eine Uhr zu ticken, die läuft und läuft und immer schneller wird. Die Kluft zwischen Arbeitszeit und Lebensfreude wird immer größer.

Wann kamen Ihnen Zweifel an dieser Art des Wirtschaftens?

Vor Jahren las ich das Buch »Geld ohne Zinsen und Inflation« von Margrit Kennedy. Seitdem denke ich über die Möglichkeit eines kooperativen Markts nach. Gemeinschaft und Menschlichkeit bewerte ich dabei höher als monetären, wirtschaftlichen Erfolg. Die Vorstellung von Alternativen inspirierte mich. In meiner Vision sehe ich Menschen, die auf Feldern und in Büros gemeinsam arbeiten, mit lachenden Gesichtern und ohne Existenzangst. Das Wort »gemeinsam« hat für mich an Bedeutung gewonnen: gemeinsam essen, lernen, entwickeln, feiern. Ich glaube, dass diese Art, Aufgaben zu bewältigen und sich dabei zu unterstützen, wirkungsvoller ist als die immer weiter um sich greifende Arbeitsteilung, die zu einer Entfremdung untereinander zu führen scheint. Wenn wir uns darüber klar werden, dass wir gemeinsam gute Lösungen für alle schaffen können und die Bedürfnisse aller wichtig sind, dann wird die Lebensqualität für alle, wird das »Gemeinwohl« steigen können.

Mit der ReWiG Allgäu wollen Sie solche Zustände schaffen. Wie funktioniert die?

Da gibt es zunächst einmal das Konzept »Regionale Wirtschaftsgemeinschaften«, das der ReWiG München eG zugrunde liegt. Hier habe ich einige Zeit teilgenommen und das hat mich so überzeugt, dass ich das Konzept im Wesentlichen auch fürs Allgäu übernommen habe. Ganz allgemein und kurz zusammengefasst ist die ReWiG als Genossenschaft organisiert, in der jedes Mitglied eine Stimme hat. Die Genossenschaft legt die Richtlinien fest, nach denen nachhaltige Betriebe oder Projekte in der Region unterstützt werden. Die Mitglieder können sogenannte Genussrechte (Anteile) erwerben, mit deren Erlös die Genossenschaft sich an bestehenden Betrieben beteiligen oder neue gründen kann. Die Genossenschaft bildet auch eine Marktgemeinschaft mit Privat- und Geschäftskonten. Mitglieder der Marktgemeinschaft geben Inserate mit Angeboten und Gesuchen auf. Die Bezahlung erfolgt mit einer eigenen Gemeinschaftswährung, dem Realo. Der Realo ist zinsfrei, und eine kleine Gebühr auf Habensalden, die Umlaufsicherung, sorgt dafür, dass der Realo fließt und das Geschäft in der Region belebt. Durch die Hinterlegung von Genussrechten kann sich jeder einen Schöpfungs- bzw. Kreditrahmen schaffen, der durch Sachwerte abgedeckt ist.

Welche Vorteile haben Firmen und Bürger?

Die Firmen können durch die Beteiligung der Genossenschaft mit weniger oder ganz ohne Bankkredit auskommen. Sie können die eingesparten Kreditzinsen für den nachhaltigen Ausbau ihres Betriebs nutzen und sich einen festen Kundenkreis in ihrer Umgebung erschließen. Sie erhalten von der Genossenschaft fachmännischen Rat für nachhaltiges und regionales Wirtschaften.
Die Bürger erreichen mit ihrer Beteiligung, dass ihre Grundversorgung – Nahrungsmittel, Gesundheit, Handwerk – durch Produkte aus der Region gesichert ist. Arbeitsplätze vor Ort werden erhalten oder neu geschaffen. Ihre Investition ist gleichermaßen ökonomisch, ökologisch und sozial sinnvoll – also zukunftsfähig und sicher. Sie erhalten Einblick in die Entscheidungsgrundlagen der Unternehmen.

Wie aktiv ist die ReWiG Allgäu denn schon?

Im Juli haben wir in einer großen öffentlichen Veranstaltung die ReWiG Allgäu eG (i. G.) offiziell ins Leben gerufen. Wir haben zur Zeit rund 50 Mitglieder. Ein Kernteam von 15 Aktiven trifft sich 14-tägig. Viele sind in Arbeitskreisen aktiv, die sich mit der internen und externen Kommunikation sowie der Organisierung des Marktplatzes beschäftigen. Zur Zeit sind wir noch am Marktplatz München beteiligt. Ein Arbeitskreis beschäftigt sich mit dem Aufbau einer ReWiG-Akademie, die das Wissen um gemeinschaftliches Wirtschaften sammeln und weitergeben soll.
Im Moment liegt unser Aktionsschwerpunkt bei der Durchführung monatlicher Informationsveranstaltungen, um die Grundgedanken eines nachhaltigen und solidarischen Wirtschaftens bekanntzumachen und neue Genossen, Erwerber von Genussrechten und Marktplatz-Akteure zu gewinnen. Wir stoßen auf großes Interesse, denn die Allgäuer sind sehr mit ihrer Region verbunden, und wir sind gut vernetzt mit einigen alternativen Netzen, wie den Transition- und den Permakultur-Initiativen. Wir wollen im Lauf des nächsten Jahres 1000 Genossenschaftsmitglieder sein.

Was muss ich als Mitglied in die ReWiG eG einbringen?

Erst einmal die einmalige Genossenschaftseinlage von 100 Euro, die beim Austritt zurückgezahlt wird. Dann gibt es eine jährliche Gebühr von 60 Euro. Die Genussrechte gibt es pro Stück für 1000 Euro für eine festgelegte Laufzeit. Es ist auch möglich, die Einlage oder Genussrechte durch die Einbringung von Sachwerten oder Dienstleistungen zu erwerben. Die Teilnahme am Marktplatz wird durch eine eigene Gebührenstruktur finanziert. Die Überschüsse der ReWiG werden entweder reinvestiert oder ausgeschüttet.

Sie stellen ganz offensichtlich das Gemeinwohl in den Mittelpunkt Ihres Konzepts. Was hat das ReWiG-Konzept mit Christian Felbers Vorstellung einer Gemeinwohl-Ökonomie zu tun?

Die ReWiG ist für mich eine regional organisierte Felderprobung der Gemeinwohl-Ökonomie, denn die Praxis muss beweisen, was die Theorie verspricht. Im praktischen Tun werden wir sicherlich neue Erkenntnisse gewinnen, und die Lösung kann insgesamt reifen. Keiner von uns weiß, ob die Gedanken des neuen Wirtschaftens tatsächlich funktionieren. Wir sind motiviert und glauben daran.
Im letzten Jahr haben 50 Pionierunternehmen im deutschsprachigen Raum eine Gemeinwohl-Ökonomie-Bilanz freiwillig erstellt, weil sie darin einen Sinn erkennen. So machen wir es jetzt auch innerhalb der Praxiserprobung der ReWiG. Wir wirtschaften in Respekt vor den Bedürfnissen aller Beteiligten. Nun werden wir diese Erprobung über fünf Jahre praktisch umsetzen, dabei komplexe Wirtschaftskreisläufe aufbauen und jedes Jahr unsere Erfahrungen untereinander austauschen und verbessern. Es ist ein Reifungsprozess, den die Gemeinwohlökonomie auf der einen Ebene macht und den wir in der ReWiG auf der konkreten Umsetzungsebene erleben.

Dauert das nicht zu lange? Welche Rolle könnte die ReWiG bei ­einem wirtschaftlichen Kollaps spielen?

Gut Ding will Weile haben, heißt es ja. Ich hoffe nicht, dass uns ein Kollaps dazu zwingt, den Wandel im Zeitraffer zu durchlaufen. Wenn es doch passiert, haben wir in jedem Fall alternative Konzepte nicht nur in der Schublade, sondern im konkreten – wenn auch kleinen – Umfang bereits heute realisiert.

Herzlichen Dank für das Gespräch!



Dipl.-Ing. Roland Wiedemeyer (55), Nachrichtentechniker, ist ­Geschäftsführer eines Unternehmens für Kommunikationstraining.

Den neuen Wirtschaftspraktikern hinterherspüren?
www.rewig-allgaeu.de
www.gemeinwohl-oekonomie.org

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