Titelthema

Mut zum Irrtum

Mit Lust am Experimentieren und Selbermachen feiert das Berliner Kulturlabor »Trial & Error« das Lernen im Prozess.von Grit Fröhlich, erschienen in Ausgabe #19/2013
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 »Trust the process« – Vertraue in den Prozess! So steht es in rosa Lettern auf dem Schild. Schief und krumm sind die Buchstaben, aus Schaumstoff ausgeschnitten. Sie sind Motto für das Kulturlabor »Trial & Error«. Versuch und Irrtum: Normalerweise werden wir nicht dazu ermutigt, Fehler zu machen. Unsere Kultur ist darauf ausgerichtet, schnell perfekte Ergebnisse zu präsentieren. Anders in der »Errorist-Stube« in Berlin, wo eine internationale Truppe junger Leute ihre grenzenlose Lust am Experimentieren und Selbermachen lebt, einschließlich der Lust, dies mit anderen zu teilen. Kreativ suchen sie gemeinsam nach lebensbejahenden, nachhaltigen Lebensformen. An diesem Abend wird eingeladen, in einem Workshop Zahnpasta aus natürlichen Inhaltsstoffen selber herzustellen. Allmählich füllt sich der Raum mit Leuten und der Tisch mit Zutaten: ein Büschel Minze, Heilerde, eine Flasche Olivenöl. Dann sitzen zwanzig Menschen erwartungsvoll um den Tisch.
»Vielleicht können wir euch überzeugen, Zahnpasta in Zukunft selber zu machen, statt zu kaufen. Maybe it will be alright, maybe it will be an error«, sagt Ola getreu dem Motto von Trial & Error. Hier wird ein Kauderwelsch aus Englisch und anderen Sprachen gesprochen. Kern der Gruppe sind acht Leute aus Deutschland, Spanien, Italien, Schweden, Lettland und Holland. Für ihre Projekte nutzen sie mehrere über die Stadt verteilte Räume: Die Errorist-Stube, ein Büro mit Raum für »Volxküche« und Workshops in Treptow, einen Kleidertauschladen mit Nähwerkstatt in Neukölln sowie ein Material­lager und offene Werkstätten im ehemaligen Funkhaus Grünau. Weil die Menschen von Trial & Error ihre Erfahrungen gern teilen, entstehen fast nebenbei kreative Lernangebote, die für alle offen sind: Nachbarn im Kiez und gleichgesinnte junge Leute. Außerdem organisiert man hier Umweltwerkstätten mit Kindern an Schulen, ein alljährliches Recycling-Festival und arbeitet an der Zeitschrift für kreative Aktionen »Mašta« mit.
Kulturlaborantin July Meissner erklärt: »Bei den Upcycling-Workshops geben wir selten ein Endprodukt vor. Wir bringen viele Materialien mit, und dann entstehen die Ideen durch gegenseitige Inspiration.« Wenn der Fokus eben auf dem Prozess, nicht auf dem Ergebnis liegt, könne man eigentlich kaum scheitern.

Pesto statt Pasta
Zurück am runden Tisch des Naturlabors: Diana, eine Freundin des Projekts aus Lateinamerika, hat schon einmal selbst Zahnpasta hergestellt. Sie weiht die anderen in ihre beiden Rezepte ein und beginnt Kräuter und Öl in »gefühlten« Mengenverhältnissen mit einem Pürierstab zu mixen. Heraus kommt eine Art Pesto, das völlig anders aussieht, als wir es von einer gekauften Zahnpasta kennen. Schon eher kann da das zweite Rezept an unsere Zahnputzgewohnheiten anschließen. »Darum haben die Leute meist mehr Vertrauen in diese Zahnpasta«, lacht Diana. Sie mischt feine Heilerde mit einem Kräutersud und ätherischen Ölen und reicht die Schüssel in der Runde herum. Es wird mit dem Finger probiert, Zähne werden geschrubbt. Die feine Erde knirscht im Mund, für manchen ist das ungewohnt, andere haben gerade dadurch ein gutes Putzgefühl. Nun nimmt das Experimentieren freien Lauf, und jeder kann sich die Zutaten auf dem Tisch nach Belieben zusammenrühren. An der Wand stehen Tipps, was man noch alles mit der Pasta machen kann: »Hilft auch gegen Insektenstiche.«
An einer Grundschule in Berlin Neukölln bietet Trial & Error Umweltwerkstätten an. Die Kinder kommen aus einem Umfeld, in dem Konsum positiv besetzt ist, gleichzeitig aber viele Familien von Hartz IV leben. Second Hand ist verpönt, Bio zu teuer. Ein moralisierender Zeigefinger bringt bekanntlich nichts, die Umweltwerkstätten gehen von der Lebenswelt der Kinder aus. Den Einstieg bilden oft Aktionen, die Spaß machen: etwa die Umsonst-Box, ein Bauchladen mit Dingen zum Verschenken, die die Kinder mitbringen. Damit ziehen sie durch den Kiez, verteilen sie an Nachbarn und sammeln Sachen ein, die andere nicht mehr benötigen. Ohne große Erklärungen machen sie die Erfahrung: Ich muss Dinge nicht wegwerfen, ich kann sie auch weitergeben. Ich muss nicht alles neu kaufen, andere haben genau das übrig, was ich gerade brauche.

Detektive statt Konsumenten
Auch hier geschieht Lernen von Mensch zu Mensch, auf Augenhöhe, ohne Lehrer und Experten. »Man denkt immer, man müsse alles vorgeben, besonders Kindern. Wichtig ist, sich gemeinschaftlich zu überlegen, was man lernen will«, erklärt Federico. Das heißt, die Vorschläge ernstnehmen, die von den Schülern selbst kommen, auch weithergeholte. »Wenn sie zum Beispiel Lust haben, nur einen Film zu gucken oder zu shoppen, frage ich: Was hat das mit Umwelt zu tun? Wenn sie es gut begründen können, finden wir einen Weg.« Und July ergänzt: »Es geht nicht um Ja oder Nein, sondern ums Warum. Wichtig ist, dass wir im Fragen bleiben, auch dass die Kinder lernen, dass es nicht auf alles eine Antwort gibt.« Denn Lernprozesse gelingen da, wo Fragen auftauchen: »Sobald Fragen entstehen, ist da Interesse, dann ist das Potenzial da, zu lernen und noch tiefer zu gehen.«
Aus dem Shopping-Ausflug wird dann eine investigative Untersuchung bei H&M, wo die Schüler als kleine Detektive Kunden und Verkäufer befragen, was sie über die Bedingungen wissen, unter denen die Kleidung produziert wird. Später sehen sie in einem Film, wie verschiedene Sachen hergestellt werden, auch Spielzeug in China. Von sich aus entwickeln die Kinder dann die Idee: Wir könnten Spielzeug selbermachen. Daraus entsteht beim nächsten Mal ein Puppenbau-Workshop. Gibt es bei so einem Lernen Grenzen? »Es kommt darauf an, was mich antreibt«, sagt July. »Wenn ich lerne, um am Ende ein bestimmtes Produkt herzustellen, dann gibt es Grenzen. Aber wenn Lernen und Wachsen der Sinn an sich sind, gibt es eigentlich keine Grenze. Die Grenze wäre das Interesse.«
Auch deshalb möchte Trial & Error, dass die Kinder freiwillig und aus eigenem Interesse in die Umweltwerkstatt kommen. Anders als die Lehrer, die oft die Position vertreten: Wer angemeldet ist, muss immer hingehen, damit die Schüler lernen, Verpflichtungen und Termine einzuhalten. Auch an anderen Stellen reibt sich die schulische Lehrplan-Mentalität mit dem Lernen im Prozess, wie es Trial & Error praktiziert. Als Kompromiss werden die Themen der Werkstatt wenigstens ein paar Monate im Voraus grob festgelegt. »Uns ist trotzdem wichtig, Ideen umzusetzen in dem Moment, wo sie aufkommen, denn dann sind das Interesse und die emotionale Verbundenheit mit dem Thema da«, sagt July. »Mit dem Lernen ist es wie im ganzen Leben: Wenn wir alles durchplanen, gehen wir an wichtigen Gelegenheiten einfach vorbei.«

Avanti dilettanti
Mareschstraße, Berlin Neukölln. Hier wohnen mehrere Menschen von Trial & Error zusammen. Einmal in der Woche öffnen sie ihren Projektraum im Erdgeschoß für Nachbarn im Kiez und laden ein zum Kleidertauschladen mit Nähwerkstatt. Ein Mann bringt zwei perfekt gebügelte Hemden vorbei und schaut sich einen Moment orientierungslos um. Dann findet er einen Platz im Regal und fängt selbst an, die Kleider zu durchwühlen. Hier wird nicht nur getauscht, sondern auch Neues kreiert, etwa schicke Unterwäsche aus gebrauchten T-Shirts. Fünf Nähmaschinen stehen allen zur Verfügung. Am besten ist die mit Handkurbel ohne Strom, denn »damit kann man auch auf der Straße nähen«, erzählt July begeistert. Die Kultur des Selbermachens ist kein privater Bastelspaß im Hinterstübchen, sondern öffentliche Aktion, so dass möglichst viele Menschen damit in Kontakt kommen. »Wenn wir überlegen, was für ein gesellschaftliches Ausmaß das haben könnte, wenn immer mehr Leute verstünden, wie nützliche Dinge hergestellt werden – es gäbe eine ganz andere Mentalität, mit den Sachen umzugehen«, meint July. »Wenn man mehr Einblick in die Prozesse bekommt, kann man nicht mehr ständig Produkte kaufen und wegschmeißen.«
Persönliches Wachstum gibt die Impulse, aus denen die Projekte von Trial & Error entstehen. »Vieles von dem, was wir tun, enthält diese drei Elemente: persönliches Wachstum, Gemeinschaftswachstum und der Erde etwas Gutes geben, wie mit den Umweltwerkstätten. Wir lernen, wie wir auf alles Einfluss nehmen und wie alles uns beeinflusst«, sagt Judith. »Nicht-formale Bildung hat ein anderes Bewusstsein von Wachstum: dass man nicht nur für sich selbst wächst, sondern auch für die Gemeinschaft.« •


Grit Fröhlich (37) ist Kommunikationswissenschaftlerin und Übersetzerin. Sie organisiert in Berlin eine Food-Coop.

Fröhlich Fehler machen und experimentieren
www.trial-error.org

www.mastazine.net

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