Ein Ausflug in die Bildungsmöglichkeiten der virtuellen Welt.
von Azad Felix Quell, erschienen in Ausgabe #19/2013
Die Vision eines selbstorganisierten, freien, offenen und partizipativen Lernens – ob in oder jenseits von Universitäten – wird nicht zuletzt durch das Internet angetrieben. Das Zeugnismonopol der Universität, teure Lernmaterialien, ideologiedurchtränkte Lernstoffe, frontale Rednerkanzel, Massenabfertigung mit Konservenlehrbüchern, lineare Stoffanordnung, unmotivierte Lernende und Lehrende, fixe Zeiten, Orte und Lerngeschwindigkeiten – all das verlangt nach neuen Formen. Ich selbst kam mit Online-Lernen in Berührung, als sich in der Oberstufe mein Verhältnis zu Schule und Lernen in zweierlei Hinsicht radikal änderte: Plötzlich entwickelte ich ein hohes Interesse für die Inhalte, die wir in der Schule lernten, doch gleichzeitig begann ich, unter der Herzlosigkeit und fehlenden Ganzheitlichkeit des Schulbetriebs sehr zu leiden. Ich konnte nicht verstehen, warum eine so spannende Welt in diese unmenschliche Form gepresst wurde. Immer gab es einzelne Lehrer, die eine Aura der Begeisterung umgab, in die sie unsere Geister einzufangen verstanden, um sie zugleich zu bewegen und zu besänftigen. Doch diese Ausnahmen konnten meine Entfremdung von der Schule kaum aufhalten. An ihrer statt besuchte ich nun immer häufiger Lehrende und Lerner in weiter Netzwelt: Neben dem Buch und dem persönlichen Gespräch fand ich in Video- und Audiovorlesungen und der multimedialen Internetrecherche weitere Wege, die für meine persönliche Lernreise geeignet schienen. So habe ich mich am ungastlichen Schulbesuch nicht zu sehr erkältet. Dieser Ausschnitt aus meinem persönlichen Lernweg ist einer von unendlich vielen. Jeder Mensch lernt auf seine ganz eigene Weise, aber für diese mögliche Vielfalt ist in den herkömmlichen Strukturen kein Platz. Deshalb sind neugierige Menschen herausgefordert, die sonnigen und abenteuerlichen Pfade des Selbstlernens auf eigene Faust zu erkunden. Im Internet sprießen Selbst- und Zusammenlernprojekte aus allen Ecken! Sie eint der Wille, dem Lernen jene kindliche Begeisterung wieder einzuhauchen, die in lebensfeindlicher Lernkultur verlorengegangen war.
Wer hält den besten Vortrag zum Thema? Seit vielen Jahren stellen einige Universitäten und Konferenzveranstalter in den USA, in Deutschland und anderswo Videoaufnahmen mancher Vorlesungen der Öffentlichkeit zur Verfügung. Beispiele sind die »Yale Open Courses«, der »TIMMS-Server« der Uni Tübingen und die »OpenLearnWare« der TU Darmstadt. Vor allem durch die Software »iTunes U«, mit der sich Online-Kurse selbst herstellen lassen, sind einige dieser Materialien mittlerweile weit verbreitet. Besonders inspirierend finde ich die (Konferenz-)Vorträge auf fora.tv und ted.com. Unter den YouTube-Lehrern hat sich vor allem die »Khan Academy« einen Namen gemacht. Sie beruht auf dem Gedanken, das Verhältnis von Unterricht und Hausaufgaben in der Schule teilweise umzukehren. Ich erinnere mich noch gut an die Erleichterung, die oberprima.com 2010 für einige Schüler und Lehrer meines Abiturjahrgangs bedeutete. Plötzlich gab es für jeden Schüler einen zweiten Mathelehrer, den man zu Rate ziehen konnte, wenn man die Erklärungen des ersten nicht verstand. Schule ließe sich doch auch so gestalten: Die Schüler lernen zu Hause mit Büchern, Videos, Audios, Quizaufgaben etc. in realen und digitalen Lerngruppen, während der Unterricht dazu genutzt wird, Stoffe zu vertiefen, Fragen zu stellen und Übungsaufgaben unter der Betreuung von Lehrern zu lösen. Ihren favorisierten (Video-)Erklärer können sich die Lerner dann selbst aussuchen oder sich auch mehrere Erklärungen des gleichen Stoffs anschauen – geleitet vom eigenen Interesse. Das Video kann jederzeit angehalten oder das Lesen unterbrochen werden: Jeder arbeitet nach seinem eigenen Tempo. In wievielen Unterrichtsstunden, wievielen Vorlesungen habe ich gesessen, in denen die Schüler einer nach dem anderen abschalten mussten, weil niemand mehr mitgekommen ist? Solche Versagenserfahrungen können Angstzustände und Lernblockaden auslösen. Wer aber nach dem eigenen Tempo lernt, kommt immer mit!
Bildungstrampelpfade zur Emanzipation des Lernens Eine große Frage des zukünftigen Lernens betrifft die veränderte Rolle der Universitäten, deren Machtmonopol wankt. Ein Meilenstein für die Emanzipation des Lernens von der Universität war die Gründung von »Udacity.« Der Stanford-Professor für Informatik Sebastian Thrun beschloss 2011, sein Kursprogramm nicht mehr nur einer Elite von wenigen Hundert, sondern interessierten Hunderttausenden nahezubringen – eine Wohltat für viele Menschen weltweit, die zwar mit Begeisterung, aber nicht mit Geld gesegnet sind. Mittlerweile sind 20 Kurse (bisher vor allem Informatik) im Internet veröffentlicht, und mehrere Hunderttausend Teilnehmer haben bereits vom Programm profitiert. Nach dem Semester gibt es ein kostenloses Teilnahmezertifikat. Zusätzlich besteht die Möglichkeit, gegen eine Aufwandsgebühr eine Prüfung abzulegen. Auf manch einen Udacity-Kurs erteilen deutsche Universitäten wie Freiburg, München oder Berlin bereits Punkte. Zudem verschickt Udacity, wenn man zustimmt, von sich aus Bewerbungen an Unternehmen, die womöglich direkt mit einem Jobangebot aufwarten. Diese Entwicklungen veranschaulichen, wie in der Zukunft einerseits die Universitäten häufiger mit parauniversitären Einrichtungen zusammenarbeiten werden und wie andererseits jene Bildungstrampelpfade, die ganz um die Unis herumführen, zu vielbeschrittenen Straßen werden könnten. Ich denke, es wird noch dauern, bis sich ein dezentrales und vielfältig normiertes Netz von Zertifizierungsstellen für formelles und informelles Lernen etabliert und das Vertrauen der Arbeitgeber erspielt haben wird. Aber es ist wohl nur eine Frage der Zeit, bis sich solche Lösungen als Alternative zum Zeugnismonopol der Unis entwickeln. Darüber hinaus sollten selbstverständlich Räume entstehen, in denen ein Lernen jenseits von Bewertungen möglich ist, ohne dass man glaubt, Motivation künstlich erzeugen und den Lernerfolg in Zahlen und Zeugnissen ausdrücken zu müssen. Eine radikale Selbstbildnerin kann sich frei nach Interesse ihren Lern- sowie womöglich bald auch ihren Zeugnisplan erstellen. Doch Autodidakt zu sein, bedeutet keinesfalls, alleine lernen zu müssen. Lerngruppen können die verschiedensten Formen annehmen. Zentral ist der Gedanke, die Trennung zwischen Lehrer und Lerner aufzuheben: Jeder lernt von und mit jedem. Das Netz kann hierbei eine enorme Hilfe für die Organisation einer Gruppe sein. Bekannt sind die Plattformen »Moodle« und »Ilias«, die als Inhaltsspeicher und Organisationssoftware dienen und vor allem von Universitäten genutzt werden. Das Berliner Startup »iversity« bietet Gruppen zudem die Möglichkeit, online gemeinsam Texte zu lesen, sie zu markieren und zu kommentieren. Iversity und ähnliche Plattformen sind für den Austausch in Lerngruppen bis hin zur Unterstützung von Online-Gruppentreffen – etwa über Video- oder Audiokonferenzen – sehr nützlich. Wieviel Zeit die Gruppe in fleischlichem Beisammensein verbringen mag, ist natürlich ihr überlassen. Dabei unterstützen Plattformen wie »knowded« oder »The Public School«. Hier finden sich Menschen mit ähnlich gelagerten Lerninteressen und koordinieren Termine, um sich dann lebendig zu treffen.
Treffen in der analogen Welt The Public School unterstützt in bisher elf großen Städten der Welt Menschen dabei, sich in Lerngruppen zusammenzufinden. Jeder kann ein Thema vorschlagen, und wenn genug Interessierte sich melden, werden ein Zusammentreffen und eine Leseliste vereinbart. In Berlin finden seit 2010 solche Kurse statt, bisher zum Beispiel unter dem Motto »The City and the Political« oder »The Problem of Berlin«. Hinter der Initiative knowded steht der Gedanke, dass jeder Mensch ein guter Lehrer für bestimmte Inhalte ist – Yoga, chinesisch Kochen, Statistik, Jonglieren oder Flötespielen. So werden Lehrangebote und Lernnachfragen in Abhängigkeit vom Wohnort auf eine virtuelle Pinwand geheftet, die Kontaktaufnahme gestaltet sich unkompliziert, und – schwupps – ist eine Fähigkeit, ein Wissen weitergereicht. Ähnlich wie bei Gastfreundschaftsnetzwerken trägt das Web hier dazu bei, dass Menschen in Reziprozität – in das Prinzip der Gegenseitigkeit – vertrauen. Das bedeutet, dass jedes Geben schon selbst ein Nehmen ist und dass keine direkte Gegenleistung erbracht werden muss, um einen Tausch zu vollziehen: Ich gebe dir und vertraue darauf, dass ein anderer mir geben wird. Ein Netzwerk, das so funktioniert, ist potenziell viel leistungsfähiger als unsere kapitalistische Tauschgeldwirtschaft, weil diese stets darauf warten muss, dass der Tauschpartner über Geld verfügt, das letztlich immer über eine Kreditkaskade besorgt werden muss. Die verbindende Kraft des Netzes hilft also, der Schuldenspirale eine Geschenkspirale gegenüberzustellen! Das Verhältnis aus internetbasierten und körpernahen Lernelementen wird ein spannendes bleiben. Es bietet jedenfalls genug Raum für zahlreiche und vielfältige Lernpfade – allein, in Gruppen oder für ganze Gesellschaften. •
Azad Felix Quell (21) lebt in Berlin. Er betreibt Philosophie im Selbststudium und riecht gern an Cashewkernen.