Titelthema

Aus Fehlern lernen

Eine Einladung, die Fehlerfreundlichkeit und die Dankbarkeit ­gegenüber Fehlern ins Leben zu integrieren.von Gandalf Lipinski, erschienen in Ausgabe #19/2013
Photo
© www.swinxgrafix.de

Wir lernen beim Vorwärtsgehen, wir lernen beim Gehen.« So sangen in den 70er Jahren noch die »Schmetterlinge« in ihrem Album »Proletenpassion«. Die Polit-Pop-Musiker aus Österreich waren keine larmoyanten Barden, die nebenbei etwas Klampfe spielten, sie waren exzellente U-Musik-Profis, die sich in ihrem abendfüllenden Bühnenprogramm der großen Frage »Können wir aus der Geschichte etwas lernen?« zugewandt hatten
Der zitierte Refrain dröhnte donnernde Zuversicht in den Saal. Im Verein mit dem genauen Hinschauen auf die Niederlagen und Fehler aller großen Revolutionen seit den Bauernkriegen der beginnenden Neuzeit schuf diese Zuversicht ein Bewusstsein über die »conditio humana« einer sich zur Freiheit hin entfaltenden Menschheit.
Damals war das Wissen, dass Menschen unter anderem Hoffnung brauchen, um Intelligenz zu entwickeln, noch einigermaßen verbreitet. Vielleicht ist die Frage, ob wir aus der Geschichte lernen können, auch gar nicht objektiv zu beantworten. Vielleicht ist Geschichte tatsächlich »die Sinngebung des Sinnlosen« (Theodor Lessing). Vielleicht brauchen wir Sinn und Hoffnung nicht vor allem deshalb, um das Museum der Vergangenheit hübsch und so objektiv wie möglich herauszuputzen. Vielleicht sind sie vielmehr die Grundsubstanzen unserer Zukunftsfähigkeit.

Umwege, Unfälle, Unwägbarkeiten
Mit Sicherheit ist es weder menschlich noch zukunftsfähig, Fehler aus dem Repertoire des Lebens streichen zu wollen. Entwicklung verläuft nicht immer geradlinig nach einem Masterplan. Die Umwege, Unfälle, Unwägbarkeiten gehören dazu und sind bereichernd, auch wenn uns das nicht immer und sofort einleuchtet. Dass Fehler grundsätzlich Teil des Lebens sind, ist die eine Erkenntnis, dass wir aus ihnen lernen können, die andere.
Ohne die Zuversicht, dass wir aus Fehlern lernen können, gäbe es keine Hoffnung. Und ohne Hoffnung schneiden wir uns vom allergrößten Teil unserer sozialen und kreativen Intelligenz ab. Was für heutige Ohren apodiktisch klingen mag, war in den 70er Jahren für viele noch selbstverständich. Vielleicht erinnere ich mich nur so daran, weil ich damals in meinen persönlichen Zwanzigern war, in einem Alter, das voller Hoffnung und Zuversicht ins Leben schaut. Oder hat sich unsere Kultur diesbezüglich wirklich verändert?
Die Postmoderne hat mit ihren nihilistischen und zynischen Elementen unter anderem auch unsere Fähigkeit, eine »große Geschichte« von beliebigen Firlefanzereien des Alltags, der Eitelkeit und der Ablenkung unterscheiden zu können, untergraben. Die zunehmende Ökonomisierung aller Lebensbereiche hat unsere Fähigkeit, aus Fehlern zu lernen, weitgehend eingeengt. Bei dauerhaftem Stress wollen wir uns keine Fehler mehr leisten. Dadurch verändert sich das Lernen.
Ungefähr zwanzig Jahre, nachdem ich die »Schmetterlinge« in Hannover gehört hatte, spielte das Lernen aus Fehlern in meinem Leben wieder eine herausgehobene Rolle. In Seminaren zur indianischen Spiritualität lernte ich die Tradition kennen, für eingestandene Fehler Geschenke zu machen. Der »Deer Tribe«, der dies vermittelte, ist kein Stamm, sondern eine moderne »Medizingesellschaft«, die Cherokee- und andere Traditionen speziell für das westliche Bewusstsein aufbereitet und mit anderen Erkenntniswegen verbindet. Auf diesem Weg der »süßen Medizin« geht man über große Strecken als Schüler und Lehrling allein, über einige Zeit auch ohne Kontakt zu anderen Menschen. Wenn wir nach solchen Zeiten unsere Erfahrungen austauschten, wurden wir dazu ermutigt, nicht nur zu berichten, was funktioniert hatte, sondern auch, wo wir gescheitert waren. Die Kultur der gemeinsamen Reflexion individueller Fehler in einer liebevollen, freundschaftlichen und humorvollen Atmosphäre steigerte die Lernfähigkeit und die Intelligenz des Kollektivs enorm. Dafür zeigte sich die Gruppe dankbar. Ein grandioses Scheitern, vom einzelnen aus freien Stücken und offen dargestellt, wurde von der Gruppe oft mit kleinen Geschenken belohnt.
Ich habe diese Haltung und diesen Umgang mit Fehlern in meine eigene Arbeit als Theatermacher, -pädagoge und –therapeut integriert. Dabei musste ich im Lauf der Jahre feststellen, dass dieser Umgang mit Fehlern von Menschen verschiedenen Alters höchst verschieden angenommen wurde. Während diejenigen, die mir altersmäßig näher waren, meistens mit Erleichterung, Freude und Leichtigkeit reagierten, erntete ich bei jüngeren Teilnehmenden zunächst oft Misstrauen. »Ist der nicht ganz dicht?«, las ich auf so mancher Stirn, »der will mich dazu bringen, etwas auszuprobieren, das ich noch gar nicht sicher kann. Die Gefahr, sich zu blamieren, ist da doch riesengroß! Ist das nicht unseriös, Leute zum Fehlermachen einzuladen? Jeder weiß doch, dass die Welt so nicht funktioniert! Wo kommt der denn her? Fehler machen, sie auch noch freiwillig darstellen und dafür Dankbarkeit oder gar ein Geschenk erhalten? Das ist sicher irgendein Gutmenschengedöns aus der Hippiezeit, heute aber tickt die Welt anders!«
Recht haben sie, die Jüngeren! Ein immer schnellerer und härter selektierender Wettbewerb zwingt heute viel eher zur Siegerattitüde. Notfalls »gefaked« statt »gemaked«, gefälscht statt geschafft. Tieferes Lernen und ein ganzheitliches Verstehen komplexer Zusammenhänge, das ohne entsprechende Erfahrungen kaum möglich ist, bleibt so zunehmend auf der Strecke.
Ungefähr vier Jahre müssen wir heute für eine fundierte Weiterbildung in einer etwas komplexeren Materie wie der Theatertherapie deshalb ansetzen, weil wir eine solche Ausbildung nicht nur mit Wissensvermittlung vollstopfen können, sondern Erfahrungsräume brauchen – auch Räume und Zeiten, in denen nichts Neues geschieht, die offen bleiben für geistig-seelisches Verdauen, für das Wiederholen, Einüben und eben für Fehler und deren Aufarbeitung. Insbesondere Kunst bleibt ohne das Risiko und die Verarbeitung von Fehlern und Krisen bloße Handwerkelei.
Wenn wir uns wirklich darauf einlassen, aus Fehlern zu lernen, stellen letztlich die Begrenzungen lebenshinderlicher Systeme keine unüberwindbaren Hindernisse mehr dar. Dazu müssen wir nur etwas tiefer in diese heute wenig bekannte Kunst einsteigen.

Das Rad der Fehler
In der indianischen Philosophie wird weniger in Hierarchien und Dualismen als in Polaritäten und in der Balance zwischen verschiedenen Aspekten gedacht. Während die europäischen Traditionen den Fokus auf die Verbindungsachsen zwischen den jeweils entgegengesetzten Polaritäten richten, so dass beispielsweise zwei Paare von Polaritäten eher als Kreuz wahrgenommen werden, richtet sich die Aufmerksamkeit in den indianischen Traditionen oft auf das Umfassen sämtlicher Aspekte eines Themas und stellt es als Kreis oder Rad dar. Jedes Thema kann »aufs Rad gelegt«, also einer ganzheitlichen Betrachtung durch verschiedene – in der Regel mindestens fünf – Aspekte der Wirklichkeit zugeführt werden. Ich will hier ein »Rad der Fehler« vorstellen, das mir zur Orientierung beim Umgang mit Fehlern sehr geholfen hat. Seit meiner Zeit mit dem »Deer Tribe« habe ich es zunehmend in meine eigene Arbeit integriert und stelle es in der Folge sehr vereinfacht dar.
Der erste Aspekt ist das Lernen aus den Fehlern der anderen. Dieser scheint uns noch am einleuchtendsten zu sein. Na klar, wenn ich sehe, wie jemand anders Mist baut und etwas so nicht funktio­niert, kann ich diesen Fehler vermeiden und meine eigene Wirksamkeit dadurch etwas steigern. Doch schon hier steckt der Teufel im Detail: Es kommt darauf an, in welcher Haltung ich auf die Fehler von anderen schaue.
Häme, Überheblichkeit und Missgunst schmälern den Gewinn, den ich aus dem Blick auf die Fehler der anderen ziehen könnte. Ein verständnisvoller Blick hilft, die Motive für den Fehler zu erkennen, die eigene Anfälligkeit für den gleichen Fehler einzuschätzen und zu entscheiden, ob der Fehler überhaupt ein Fehler war.
Der zweite Aspekt ist schon etwas schwieriger: Aus den eigenen Fehlern lernen! Je mehr ich in einer Umgebung lebe, wo re­spektvoll aufeinander geschaut wird, desto leichter fällt mir diese Kunst. Wo ich mich nicht tarnen, verstecken, den Fehler kaschieren und mich verteidigen muss, kann ich auch gelassener und liebevoller mit meinen eigenen Fehlern umgehen. Das Lernen aus diesen Fehlern geht tiefer und ist nachhaltiger als das aus den Fehlern der anderen. Allein wenn wir alle nur diese beiden Aspekte vonein­ander unterscheiden und in ihrer Differenziertheit wahrnehmen könnten, würde sich unsere Kultur dramatisch verändern. Aber das Rad der Fehler lehrt uns noch mehr.
Der dritte Aspekt heißt: Aus den Fehlern der Ahnen lernen! Mit Ahnen sind nicht nur unsere Eltern, Groß- und Urgroßeltern gemeint, sondern in einem umfassenderen Sinn auch alle Vorgänger und prägenden Gestalten unseres gesellschaftlichen Umfelds. In einer Tradition, die den Bezug zu den Ahnen bei jedem wichtigen Thema der Gemeinschaft herstellt, wäre die oben gestellte Frage, ob wir aus der Geschichte lernen können, eine Absurdität. In einem Welt- und Menschenbild, in dem wir unsere lebendige Geschichte selbst sind, käme sie der Frage gleich, ob Lernen überhaupt möglich sei. Wenn wir außerdem berücksichtigen, dass wir nicht nur mit unseren menschlichen Vorfahren, sondern mit der Schöpfung insgesamt verbunden sind, geht das Lernen weit über die menschliche Geschichte allein hinaus.
Der vierte Aspekt heißt: Aus den Fehlern meiner Lehrerinnen und Lehrer lernen. Das ist heutzutage eine heikle Angelegenheit. Entweder haben wir gar keine Lehrer, Meisterinnen oder Gurus, denen wir einen höheren Wissens- und Bewusstseinsstand als uns selbst zuschreiben – dann entfällt diese Quelle. Wenn wir aber eine Person als Lehrer akzeptieren, dann neigen wir zu einer patriarchatsgewohnten Demutshaltung und betrachten diesen Menschen als unfehlbar oder uns selbst als nicht in der Lage, sein Handeln auf Fehler hin zu bewerten. Wenn es gelingt, die Ebene der Lehrenden ohne eine falsch verstandene Hierarchie in unser Leben zu integrieren, und wenn wir beginnen, die Fehler unserer Lehrer zu erkennen, wird unser persönlicher Weg in Richtung Freiheit beinahe unumkehrbar.
Der fünfte Aspekt birgt noch mehr Herausforderung für das westeuropäische Bewusstsein: Aus den Fehlern des »Großen Geists« lernen! Da wir den indianischen Begriff des Großen Geists hierzulande meistens mit »Gott« übersetzen, erscheint uns ein solches Ansinnen fast wie Blasphemie. Aber auch zu diesem Mysterium gibt es einen Schlüssel, der selbst einer atheistischen Philosophie standhält: Die moderne Tiefenökologie spricht von der schöpferischen Mitverantwortung des Menschen für die Welt. Und während wir in Europa beten »Dein Wille geschehe«, neigt die indianische Tradition eher zu Formulierungen wie »mögen Dein und mein Geist eins werden.« Doch hier will ich es bei diesen Andeutungen belassen, um wieder zu den Ausgangsfragen zurückzukommen.

Unsere Fehlbarkeit und Intelligenz
Am Anfang dieses Artikels steht die Behauptung, dass ohne Hoffnung, Zuversicht und eine gewisse Sinngebungskompetenz die Entwicklung unserer sozialen und kreativen Intelligenz stark behindert ist. Aus Sicht des indianischen Räder-Denkens könnte man nun auch die Intelligenz aufs Rad legen und ausführlicher darstellen. Ich beschränke mich hier auf die reine Benennung der Aspekte und ihrer polaren Beziehungen: Unser Alltagsbewusstsein pendelt zwischen mentaler und emotionaler Intelligenz hin und her. Je nach Typ neigen wir dazu, uns selbst entweder für »vernünftig« zu halten und auch mit Gefühlen vernünftig umgehen zu können, oder wir sind stolz auf unsere emotionale Kompetenz und Authentizität und bemühen uns, unser Verhalten dementsprechend zu gestalten. In Wirklichkeit gibt es kaum größere Denkzusammenhänge, die nicht auf emotionalen Gewohnheiten basieren, und ebensowenig »reine« Gefühle, die nicht in unseren Denkgewohnheiten wurzeln. Ähnlich verhält es sich mit der Polarität von seelischer und körperlicher Intelligenz.
Es ist ein beweglicher und höchst veränderlicher Prozess, welche Aspekte wir von der Welt und unserem eigenen Bewusstsein gerade wahrnehmen können und wollen. Das aus Erfahrung geschöpfte Wissen von unserer Fehlbarkeit gehört zu den tiefsten Einsichten, die unser Menschsein ausmachen. Ohne Fehler gibt es nicht nur kein Lernen, sondern auch kein menschliches Leben.
Wem das zu abgehoben oder philosophisch erscheint, der möge den Blick auf die friedliche Nutzung der Atomenergie werfen. Ihre Unverantwortbarkeit besteht vor allem darin, dass sie einerseits eine von Menschen gemachte Technologie, also fehleranfällig ist, dass aber andererseits gerade dort keine Fehler passieren dürfen. In einer fehlervermeidungssüchtigen Gesellschafft ist das die Steilvorlage für Fehlervertuschung. Doch auch aus diesem Fehler werden wir lernen, mit Sicherheit! Und hoffentlich freiwillig! •

 

Gandalf Lipinski (63) ist Schauspieler und Dozent für Körpertheater, Stimmarbeit und Rituelles Spiel. Er ist Mitbegründer der Theaterwerkstatt Hannover, der DGfT und des Labortheaters »ensemble 90« sowie Dozent in der Weiterbildung zum systemorientierten Theater- und Soziotherapeuten.

weitere Artikel aus Ausgabe #19

Photo
Literaturvon Matthias Fersterer

Tod durch Granit (Buchbesprechung)

Ein junger Mann reist von der amerikanischen Westküste zurück nach Europa. Verstaut in einer mannsgroßen Cargokiste, führt er eine besondere Fracht mit sich. Wenn irgend möglich, muss er mit eigenen Augen bezeugen können, wie sie von Transportbändern verbracht,

Photo
Bildungvon Bastian Barucker

Im Wald sind keine Räuber

Wer ein Studium im Wald beginnt, muss bereit sein, sich auf unmittelbare Erfahrungen einzulassen. Statt einem festgelegten Lehrplan zu folgen, geht es darum, die ­eigene Wahrnehmung zu schulen.

Photo
von Elena Rupp

Kein Fleisch macht glücklich (Buchbesprechung)

Kein Fleisch …… macht glücklich – und zwar wirklich gar keines: Auch nicht, wenn es aus Bio-Haltung stammt oder die Tiere – wie Fische oder Wild – vorher ein glückliches Leben hatten. Zumindest findet das der Biologe und Klimaexperte Andreas Grabolle.

Ausgabe #19
Lernorte bilden

Cover OYA-Ausgabe 19
Neuigkeiten aus der Redaktion