Titelthema

Niemand baut für sich allein

Farah Lenser portraitiert den Commons-Netzwerker Franz Nahrada.von Farah Lenser, erschienen in Ausgabe #20/2013
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Es ist schon etliche Jahre her, dass ich Franz Nahrada als großzügigen Gastgeber in seinem Hotel Karolinenhof in Wien kennenlernte. In der ersten Etage hatte er ein verwinkeltes, mit Büchern, Papieren und Computern vollgestopftes Büro, wo er per Telefon, Skype oder E-Mail kommunizierte, und ich hatte bald das Gefühl: Franz kennt die halbe Welt.

Ich erinnere mich auch an einen Abend, den wir mit Freunden in seiner Wohnung verbrachten. Dort schien er wie auf Besuch zu sein, Töpfe und Gewürze für das Abendessen musste er lange in den Schränken suchen, und bald fuhren wir zurück ins Hotelbüro, wo zugleich sein Schlafplatz war. Bei einem weiteren Besuch feierten wir seinen Geburtstag bei einem kontemplativen Konzert persischer Musiker, und beim Gegenbesuch in Berlin drängte es ihn zu langen Spaziergängen im Park. Er erschien mir schwankend zwischen einer künstlichen, virtuellen Welt und einer sinnlich-kontemplativen Sehnsucht nach Natur und Kultur.
Zum Interview treffen wir uns per Skype. Konzentriert spricht er langsam druckreife Sätze, seine Augen sind dabei geschlossen; immer wieder legt er sein Gesicht zwischen die Hände, während seine Gedanken nach innen wandern.

Das System des Glücks
»Ich wollte immer aus diesem Hotel flüchten«, erzählt Franz. Nie wollte er dieses ihm vorbestimmte Erbe antreten: das Führen eines Familienhotels in der vierten Generation. Dieses Jahr im September wird er zusammen mit seiner 83-jährigen Mutter und seiner Schwester, mit der er im Jahr 2000 nach dem Tod des Vaters die Geschäftsführung des Hotels übernahm, eine Feier zum 100-jährigen Jubiläum des Karolinenhofs ausrichten. »Mein Vater war wie ein geschickter Fischer, er hat mir die lange Leine gegeben und dann wieder angezogen.«
Viele Jahre zog er mit Unterstützung der Familie im Hintergrund durch wirkliche und geistige Welten, immer mit der Frage im Hinterkopf: Wie kann der Mensch bewusst gesellschaftlich ­leben? Er bezeichnet seine Suche selbst als eine Odyssee, die erstaunliche Schätze und Erkenntnisse zu Tage gefördert hat. Für Franz ist der Mensch schon von Anfang an mit allen anderen verbunden, bewegt sich zwischen den Polen des Privaten und Politischen. Das Individuum als eine unabhängige Einheit hält er für eine künstliche und ziemlich unmögliche Konstruktion.
Als äußerst sensibler Junge nimmt er die Gefühle anderer Menschen auf und leidet mit, wenn sich jemand durch das Verhalten anderer verletzt fühlt. Er weiß, dass Menschen dabei oft unbewusst von ihren Konditionierungen geleitet werden, und das möchte er verändern. Die Verbundenheit aller Menschen und ihre gegenseitige Bereicherung beschreibt Franz als sein existenzielles Grundgefühl. Gleichzeitig fragt er sich: »Wie kann es sein, dass eine Gesellschaft, die geistigen und materiellen Reichtum im Überfluss erzeugt, auf der anderen Seite soviel Unglück anhäuft?« Inspiriert durch das Buch »Walden Two« des Psychologen Burrhus Frederic Skinner, versucht der 17-jährige Franz, diese Frage zu beantworten, und verfasst ein Buchmanuskript mit dem Titel »Das System des Glücks«. Die Vision Skinners von einer aggressionsfreien Gesellschaft, in der Unglück vermieden werden kann, ruft bei ihm eine Art Erweckungserlebnis hervor. Von da an wird Bildung für ihn zum Schlüssel, um die Gesellschaft zu verändern. Später erkennt er jedoch, dass eine Bewusstseinsveränderung des Menschen durch einfache Erziehungsmaßnahmen nicht gelingen wird. Er ist einem technokratischen Denken auf den Leim gegangen.

Aus der Kritik der alten Welt die neue finden
In Wien studiert Franz in den 1970er Jahren folgerichtig Soziologie; er will wissen, wie Gesellschaft anders und besser organisiert werden könnte und woher ihr chaotischer Zustand rührt. Das Studium gibt ihm jedoch nicht die ersehnten Antworten. Stattdessen fragt er sich: »Was soll man politisch gegen einen Zustand von Wissenschaft tun, die nicht tut, was ihr nottut?«
Die wissenschaftliche Reflexion der gesellschaftlichen Natur des Menschen und das Verhältnis zur Praxis kommt ihm an der Universität zu kurz, auch die von ihm noch zusätzlich belegten Fächer Philosophie, Ökonomie, Psychologie und Politikwissenschaft beziehen sich nicht auf diese essenziellen Fragen. Im Rückblick erlebt Franz die »soziologischen Exkursionen« in Fabriken und Gefängnisse noch als die lehrreichsten Einblicke in reale Verhältnisse.
An den Unis jener Zeit spaltet sich die Studentenschaft: Die einen richten ihren Blick auf den subjektiven Faktor und konzentrieren ihre Anstrengungen auf das Ausleben unterdrückter Bedürfnisse, die anderen werden politisch immer dogmatischer und spalten sich in unzählige marxistische Splittergruppen auf. Franz versucht, beiden Seiten gerecht zu werden, entscheidet sich aber für den »redlichen« Marxismus. Er zitiert den Leitspruch dieser Richtung: »Wir wollen nicht dogmatisch die Welt antizipieren, sondern aus der Kritik der alten Welt die neue finden.«
Seine Diplomarbeit schreibt Franz – weil er mit dem Dozenten für Kunstsoziologie noch das beste Einvernehmen hat – über die Rolle von Kunst und Literatur in der marxistischen Gesellschaftstheorie. Darin unterstreicht er, auch in Auseinandersetzung mit Adorno, Benjamin, Lukacs und anderen Gesellschaftstheoretikern, dass er die zeitgenössische Kunst für ein bestenfalls folgenloses Tun hält: »Gerade hier in Österreich bildet man sich viel auf die Freiheit des Subjekts ein und fördert die Kunst nach Kräften. Genau diese Abspaltung vom Leben und die Beteuerung eines Eigentlichen, dem man ein moralisierendes Denk-Mal setzt, ist die affirmative und ideologische Funktion von Kunst.«
Franz will hingegen die Kriterien für Veränderung aus der wissenschaftlichen Einsicht in selbstgeschaffene Schranken der Gesellschaft gewinnen. Nicht Moral oder Utopie sollen die Richtschnur des Handelns sein, sondern die Analyse der Verkehrungen und Gegensätze des wirklichen Lebens. »Die Studenten wollen jedoch studieren und scheren sich wenig um wissenschaftliche Redlichkeit. Unser Versuch, sie an der Wissenschaft und ihren Fehlern zur Empörung über ihre Elitefunktionen und zum Einsatz ihrer Fähigkeiten für breitere Aufklärung zu agitieren, scheiterte«.

Der Himmel ist Harmonie und Zahl
Nach einem langen Krankenhausaufenthalt fährt Franz 1979 zur Erholung erstmals nach Griechenland; die griechischen Inseln faszinieren ihn, und auf Samos findet er eine zweite Heimat. Hier entdeckt er die Qualität des Raums: »Jedes griechische Dorf ist um eine Quelle gebaut. Das hat mit der Landschaft und der Knappheit des Wassers zu tun. Das Dorf gestaltet sich als verdichtete Form um den Dorfplatz in der Mitte; auf der Platea findet das sozia­le Leben im öffentlichen Raum statt.«
Die Raumgestaltung steht in enger Resonanz mit der Natur, aus der sich die je spezifische Kultur der Regionen entwickelte. Franz empfindet die Harmonie der Formen wie Schutzhüllen von Energie. »Schau mal«, sagt er und zeigt mir das Foto eines griechischen Klosters: »Hier siehst du die Bäume und Berge hinter dem Gebäude; die architektonische Form harmoniert mit der sie umgebenden Natur.«
Der Himmel ist Harmonie und Zahl, erkannte bereits Pythagoras von Samos, ein Prinzip, das Franz später in dem bahnbrechenden Werk »A Pattern Language« (»Eine Mustersprache«) des Architekturtheoretikers und Mathematikers Christopher Alexander wiederfindet. Dieser entwickelte eine Art Planungsmethodik, in der Form und Inhalt sich in einer bestimmten Qualität zusammenfinden und die Orientierung an der Natur zu strukturerhaltenden Transformationen führt. Franz ist begeistert von den architektonischen Skizzen, in denen Alexander, beginnend mit der politischen Organisation der Welt im Großen bis zum Detail der Dekorationen eines Schreibtischs, die ganzheitliche Sicht auf eine Vielzahl strukturgebender Muster eröffnet. Die Entdeckung des Raums als Matrix der gesellschaftlichen Gestaltung führt Franz zur Idee von den globalen Dörfern, die sich bei seinen nächsten Exkursionen in das Land der unbegrenzten Möglichkeiten noch weiter ausdifferenzieren wird.
Ein Freund borgt ihm 1985 einen Apple-Computer, und Franz entdeckt dessen grafische Benutzeroberfläche: »Plötzlich wurde mir klar: Das ist das Werkzeug von morgen, das ist keine bloße Rechenmaschine, sondern ein sinnliches Wissens- und Kommunikationswerkzeug. Wenn es in jedem Dorf zur Verfügung stünde, wäre das Monopol der Stadt auf Wissen und Lebensqualität gebrochen.« Die Faszination für Kommunikationstechnik und seine wiederholte Flucht in die menschliche Wärme der griechischen Dorfwelt entfremden ihn von seinem Umfeld an der Universität: »Meine politischen Freunde haben sich von mir getrennt, weil ich ihnen plötzlich kein Vorbild mehr war – sondern ihre verdrängten Zweifel verkörperte.«

Beauftragen Sie sich selbst!
Die Sehnsucht, mehr über die neue Kommunikationstechnik zu erfahren, und die Einladung einer persischen Freundin bringen Franz erstmals in die USA. Seine ersten Eindrücke von Amerika erlebt er wie endlos aneinandergereihte Klischees. In San Francisco findet er jedoch ein anderes Amerika. Mit Initiativen wie Co-Housing, Permakultur und Health Food Stores, die zugleich Caféhäuser und Bildungsstätten sind, erscheint ihm diese aus Nachbarschaften aufgebaute Stadt wie ein Markt der realisierten Möglichkeiten kleiner Alternativbausteine. In den Wäldern der Umgebung entdeckt Franz kulturkrea­tive Gemeinschaften – getragen von gesellschaftlichen Minderheiten, wie zum Beispiel der homosexuellen Community: »Die Liebe strahlt dir entgegen, da sind tief empfindende Menschen, Männer und Frauen, die sich eine Insel bauen. Das wahre Leben ist dort im Privaten, aber durch die extreme Mobilität findet man für alles immer Gleichgesinnte.«
Franz wird durch seine Computeraffinität Berater für Anwender, die sich ihre eigene Software bauen wollen. Siebenmal reist er in die Computerhochburg Silicon Valley, um dort Recherchen zu betreiben. »Ich habe Glück gehabt und entdeckt, wie vielfältig dieser alternative Bereich in den USA war. Dann hatte ich noch ein Riesenglück: Ich traf den ›Papst‹ des Silicon Valley.« Doug Engelbart gilt als Pionier der amerikanischen Computertechnik und ruft dem Soziologen Nahrada tatsächlich auf Augenhöhe zu: »Experimentieren Sie mit neuen sozialen Strukturen! Man muss zugleich mit der Technik auch die soziale Struktur bauen, sonst wird Technik ein Fluch für die Menschheit und kein Segen. Gründen Sie ein ›Dorf der Zukunft‹!«
Die zivilgesellschaftliche Denkweise der Amerikaner wirkt wie eine Befreiung auf Franz, für den es bis dahin selbstverständliche Praxis war, erst mit den entsprechenden akademischen Weihen an anerkannten Institutionen grundlegende Forschungen betreiben zu können. »Bis dahin dachte ich, ein Forscher müsse beauftragt werden. Und jetzt sagt Engelbart zu mir: Beauftragen Sie sich selbst!« Mit diesem neuen Geist vollzieht sich in Franz zu Beginn der 1990er Jahre eine innere Revolution.

Das griechische Dorf des 21. Jahrhunderts
Franz kehrt nach Europa zurück und definiert seine Lebensaufgabe als Erforscher und Entwickler des griechischen Dorfs des 21. Jahrhunderts. »Bei dem Thema bin ich geblieben, nur der Schwerpunkt hat sich verlagert. Mal lag er bei der Architektur, mal bei der Struktur der Kommunikation, mal bei der Ökologie oder der Arbeit.« Der archimedische Punkt ist und bleibt für ihn jedoch die Bildung sowie die Schaffung einer virtuellen Universität der Dörfer.
Die Prognose der UNO, dass in kaum 50 Jahren fast 75 Prozent der Menschen in Städten leben werden, ist für Franz der schlichte Alptraum. »Wir haben das optimale Verhältnis zwischen Stadt und Land zerstört. Wir haben erlaubt, dass Städte wie große Staubsauger alles Wissen und Können absorbieren.« Diesen Prozess will er umkehren, indem er sich dafür einsetzt, die Lebensqualität des ländlichen Raums zu erhöhen – durch Optimierung der Kommunikationsmedien.
In den 90er Jahren sah ich erstmals ein Video des theoretischen Physikers und Psychologen Peter Russel über das »Globale Gehirn«: Seine Idee, dass die Menschheit ähnlich wie das physische Gehirn nach der quantitativen Vermehrung der Neuronen einen qualitativen Sprung der unendlichen Vernetzung der Neuronen macht, elektrisierte mich. Franz bringt in diese Methapher eine architektonische und handgreifliche Lebensrealität hinein: »Das globale Gehirn ist für mich kein Abstraktum, sondern eine greifbare Institution mit ihrer eigenen Formensprache. Stell dir vor, in der Mitte des Dorfs gibt es einen Ort des Lernens, eine Dorfmediathek; du gehst mit jeder beliebigen Frage hinein und kommst mit den besten Antworten der Welt heraus. Dieser Ort ist selbst ein Globus; er umfasst alle Dimensionen der menschlichen Existenz, das Unbewusste, das Bewusste, das Überbewusste, Körper, Geist und Seele.«
Wenn Franz von seiner konkreten Utopie der globalen Dörfer spricht, sprudelt es nur so aus ihm heraus, und ich verliere mich fast in all den inspirierenden Informationen, die ich von ihm im Internet zur Verfügung gestellt bekomme. Seit 20 Jahren treibt er mit der Forschungsgesellschaft GIVE die Gestaltung globaler Dörfer vor­an und entwickelt konkrete Projekte wie die »Dorfinnovationsgespräche 2011«, die erstmals sechs Dörfer als mögliche »Themendörfer« synchron in Dialog brachte, oder die »Videobrücke« in Kirchbach in der Steiermark, die über hundert Universitätsveranstaltungen zum interaktiven »Public Viewing« in den ländlichen Raum übertrug.
»Ich bin stärker darin, Projekte zu ini­tiieren, als sie zu Ende zu führen«, meint Franz seufzend am Ende unsers Gesprächs. Ich erinnere ihn hingegen an das Medizinrad der Indigenen Amerikas, denn zu Beginn hatte Franz mir von seiner prägenden Begegnung mit Wind Eagle und Rainbow Hawk erzählt: »Während wir davon ausgehen, dass alle Menschen gleich sind – was nur als juristische Definition Sinn ergibt – begreifen sie, dass alle Menschen verschieden sind. Die unterschiedlichen Positionen im Medizinrad sind die möglichen Kräfte für ein lebendiges Ganzes.«
»Niemand baut für sich allein«, ist der Leitspruch des Architekten Franz Fehringer für die niederösterreichische Dorferneuerung. Und er geht noch weiter: »Jeder, der baut, baut die Welt des anderen mit.« Da werden die beiden Fränze wohl übereinstimmen.•


Farah Lenser (59) ist Sozialwissenschaftlerin und als freie Journalistin und Lektorin in Berlin tätig. www.open-forum.de
www.farah-lenser.de


Zum Weiterschmökern und Recherchieren
www.dorfwiki.org/wiki.cgi?OYA

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