Wie ein sorbisches Dorf den Gemeinsinn kultiviert.
von Lara Mallien, erschienen in Ausgabe #20/2013
Am Abend verliere ich für einen kurzen Moment die Orientierung. Wo bin ich? Tatsächlich in Deutschland? Im 21. Jahrhundert? Kein Grund zur Sorge: Neben mir sitzt Johannes Heimrath, mit dem ich in das sorbische Dorf Nebelschütz in der Oberlausitz gereist bin; uns gegenüber sitzen Beate und Thomas Zschornak, letzterer Bürgermeister der Gemeinde. Nein, ich bin nicht in ein Raum-Zeit-Loch gefallen, aber erst jetzt registriere ich mit allen Zellen, dass ich in einer anderen Kultur gelandet bin.
Frühling 2007 – den ganzen Tag waren wir mit Thomas unterwegs gewesen. Begonnen hatte die Tour im Dorf Nebelschütz, das der 1200-Seelen-Gemeinde ihren Namen gibt, auf dem Gelände einer ehemaligen Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG). Hier steht ein feinsäuberlich geordnetes Labyrinth aus Stapeln malerischer Biberschwanz- und sonstiger Ziegel, weniger malerischer Betonplatten, Pflastersteinen, Bauholz und weiteren Schätzen. »Zwei Millionen Dachziegel, gut 20 Sorten, haben wir inzwischen«, erklärt Thomas. »Der Recycling-Baustoffhof war einer der ersten Grundsteine für unsere Arbeit.« Nach der Wende wollte die Gemeinde ihr ältestes Fachwerkhäuschen denkmalgerecht zur Herberge umbauen. Weil das benötigte historische Baumaterial schwierig zu beschaffen war, fragte Thomas seine Einwohner und örtliche Abrissfirmen, ob sie nicht etwas abzugeben hätten. Bald war dermaßen viel Material zusammengekommen, dass die Gemeinde mehrere tausend Ziegel für die Sanierung der »Schwarzen Mühle« in Schwarzkollm spenden konnte. Nebelschütz liegt nämlich am Rand jener Landschaft, in der die Sage vom guten Zauberer Krabat spielt, Stoff für die berühmten Romane von Jurij Brězan und Otfried Preußler. »Erst mit der Zeit ist im Ort die Sensibilität für die alten Baustoffe gewachsen«, erzählt Thomas. »Die Leute waren von den guten Ergebnissen beeindruckt, zum Beispiel, dass beim Ausbau des Sport- und Gemeindezentrums so viele historische Baumaterialien wiederverwendet werden konnten.« Meist fehlen ländlichen Kommunen die Mittel, ihre Häuser zu sanieren, doch Nebelschütz verfolgt eine besondere Strategie. Nach der Wende wurde Thomas Zschornak mit 26 Jahren jüngster Bürgermeister Sachsens. »Mir war bald klar, dass eine Gemeinde nur dann Einfluss auf ihre ökologische und wirtschaftliche Entwicklung nehmen kann, wenn sie selbst Flächen besitzt. Gerade Landschaftsgestaltung ist so wichtig für die Lebensqualität. Also haben wir nach der Wende erstmal gekauft: Straßen, Wege, Sportplätze, Scheunen, Wald, Wiesen und Ackerflächen.« Wo immer möglich, organisiert der Gemeinderat Fördermittel. Zugleich erarbeitete sich die Gemeinde mehr Eigenständigkeit durch Miet- und Pachteinkünfte sowie ökologische Ausgleichsmaßnahmen für sächsische Unternehmen.
Dem Allmende-Geist auf der Spur »In dieser ehemaligen LPG-Baracke entsteht unsere Hühner-›GmbH‹«, hatte uns Thomas auf seiner Führung übers Bauhof-Gelände erklärt. »Ein paar Freunde und ich werden zusammen Hühner halten. Ich möchte mehr Selbstversorgung ins Dorf bringen, aber nicht mit dem Zeigefinger. Vielleicht steckt es andere an, wenn wir uns hier zusammentun. Und dort drüben«, hatte er stolz gezeigt, »seht ihr die Flechtzäune, die unser Johannes Bedrich gebaut hat, nachdem er das von den Freunden aus Wangelin gelernt hat«. Eine beachtliche Zaun-Galerie, teils aus lebenden Weiden, teils aus geflochtenen Haselzweigen, rahmt die Kräuterbeete vor der großen LPG-Halle neben dem Baustofflager ein. 2005 hatten wir den Kontakt zwischen Nebelschütz und Wangelin bei Plau am See in Mecklenburg hergestellt, nachdem im Jahr zuvor eine Busladung Gemeinderatsmitglieder aus Nebelschütz in Klein Jasedow im Lassaner Winkel (hier entsteht unter anderem Oya), gelandet war, um die hiesigen Strategien der Dorfentwicklung kennenzulernen. Damals waren wir überwältigt von der Wissbegierde und spontanen Freundschaft, die diese Leute mitbrachten. Wie selbstverständlich waren sie bereit, ihr eigenes Wissen und ihr Netzwerk mit uns zu teilen. Kurz darauf war eine Delegation aus dem Lassaner Winkel in der mit den Nebelschützern befreundeten Gemeinde Barleben eingeladen, und selbstverständlich fuhren unsere neuen sorbischen Freunde, unserem Hinweis folgend, nach Wangelin, wo es eine internationale Schule für Lehmbau gibt. Die Idee für den Kräutergarten beim Bauhof wiederum reiste vom Duft- und Tastgarten im Lassaner Winkel nach Nebelschütz. »Teile, was du hast und was du weißt!« So geht Commoning. Je mehr wir über die Oberlausitz erfahren dürfen, desto mehr begreifen wir den besonderen Allmende-Geist, der dort unter dem Schutz mancher Tradition noch weht. Auf unsere Frage, warum die Sorben mit ihrer Sprache, ihren vielen Festen im Jahreskreis, ihrer starken Naturverbundenheit und ihrem Gemeinschaftssinn als indigene Kultur über die Jahrhunderte hinweg überlebt haben, meint Thomas verschmitzt: »Vielleicht lag es an den Großmüttern. Bei den Sorben waren die Mütter und Großmütter wichtiger als die Häuptlinge. So haben sie sich nicht in Kriegen aufgerieben.« Als in Hamburg geborenes Kind in Oberbayern aufgewachsen, kenne ich traditionelle Volkskultur nur als Abgrenzung: »Mia san mia!« Bei den Sorben erlebe ich das Gegenteil: Komm, du darfst teilhaben! Sorbe wird man nicht nur durch Geburt, sondern jeder Mensch, der sich zu dieser Kultur hingezogen fühlt, kann sich frei zum Sorbentum bekennen. Das unermüdliche Interesse der Nebelschützer Gemeinderatsmitglieder an Beispielen gelungener Dorfentwicklung entsprang unter anderem einem Mammut-Projekt, das sie über fünf Jahre hinweg gestemmt haben: die Erarbeitung einer Erhaltungs- und Gestaltungssatzung, mit der eine nachhaltige Entwicklung gesichert werden sollte. Den Prozess prägten heftige Diskussionen mit Bürgerinnen und Bürgern, die sich von Vorgaben für den Erhalt traditioneller Architektur eingeschränkt fühlten. Schließlich fand die Satzung jedoch eine Mehrheit. »Wir sind mit den Gemeindeversammlungen in alle Ortsteile gegangen, um möglichst viele in die Entscheidungsfindung einzubinden«, erzählt Thomas. Spätestens als Nebeschütz 2006 die Goldmedaille im sächsischen Wettbewerb »Unser Dorf soll schöner werden« gewonnen hatte, waren alle stolz auf den Weg, der gemeinsam beschritten worden war. Mittags waren wir mit Thomas zum »Krabatstein« gefahren. So heißt ein Festgelände bei einem gewaltigen aufgelassenen Steinbruch auf einer der landschaftsprägenden Granitkuppen. Seit 2006 findet hier Mitte August zwei Wochen lang ein Bildhauerworkshop für regionale und internationale Künstlerinnen und Künstler statt. »Ah, das ist neu«, bemerkte Thomas auf dem Pfad zum Steinbruch. »Unser Wegewart Johannes hat hier Wildrosen gepflanzt.« Die Gemeinde kann sich keine Angstellten leisten, aber sie hat ein Team, das ehrenamtlich oder für eine symbolische Aufwandsentschädigung wichtige Aufgaben übernimmt. Da gibt es nicht nur Herrn Bedrich, den Wegewart, sondern auch den Baumschutzbeauftragen, die Bibliothekarin, die Sekretärin, den Fachmann für die Kulturarbeit und einen Tourismusbeauftragten. Jeden Donnerstag treffen sie sich und besprechen mit Thomas und anderen Gemeinderäten, was anliegt. Diese Kommunikation macht es aus, dass hier nicht Dienst nach Vorschrift, sondern gemeinschaftliches Gestalten praktiziert wird. Darum wachsen nun am Wegrand wilde Rosen und oben am Krabatstein Kürbisse, Salate und Tomaten.
Ein Tal für die Gemeinschaft Das Gespräch am Krabatstein über den gemeinsinnstärkenden Wert von Kunst hatte eine neue Idee gezeugt: eine Land-Art-Biennale, die im Tal zwischen Miltitz und Nebelschütz vergängliche und bleibende Werke in und mit der Natur schafft. Das Tal war die letzte Station unserer Tagestour gewesen. Von Erlen umsäumt, mäandert der Jauerbach durch die Aue, Bauminseln stehen um Feldsteine auf grünen Wiesen. Weiter als bis zum Waldrand kamen wir nicht, ein Zaun versperrte den Weg. Den ganzen Abend nach unserer Tagestour sprechen wir darüber, wie wichtig es sei, dass ein Wanderweg zwischen den Orten Miltitz, das sich immer ein wenig benachteiligt fühlt, und Nebelschütz durch das Jauertal entstehe. Das sei schwierig, meint Thomas, denn viele Flächen hätten die örtlichen Agrargesellschaften gepachtet. Ein Jahr später sind wir zu Beratungen über einen Kunstverein, der das Management am Krabatstein übernehmen soll, wieder vor Ort und fahren als erstes zu unserem Lieblingsplatz am Jauerbach, dem »Miltitzer Frosch«, einem riesigen, natürlichen Menhir. Wir schauen auf das von der Abendsonne in goldenes Licht getauchte Tal, und Thomas sagt fast nebenbei: »Inzwischen hat die Gemeinde dieses Stück Jauertal für das Land-Art-Projekt gekauft. Die Pachtverträge mit dem Agrarbetrieb laufen bald aus.« Welch ein Geschenk! Dieses kleine Paradies wird jetzt eine Kunst-Allmende. Heute, im Jahr 2013, ist der Wanderweg an der Jauer im Bau. Es gibt ein ökologisches Hochwasserschutzkonzept, und 2009 und 2011 konnten die ersten beiden Land-Art-Aktionen stattfinden. Diesen Sommer muss das Projekt pausieren, weil die gesamte Energie der Gemeinde in die Planung eines neuen Kindergartens ging. »Warum baut ihr den Kindergarten nicht in der Dorfmitte, wo ihr immer sagt, dass die Kinder für euch das Wichtigste sind?«, hatte Johannes in einer seiner Zukunftswerkstätten mit den Nebelschützern gefragt. Seit er die Gemeinde erfolgreich bei ihrer Bewerbung zum Europäischen Dorfpreis 2008 begleitet hat, ist er ihr regelmäßiger Berater. Das einzige für den Kindergarten in Frage kommende Baugrundstück mitten im Ortszentrum gehörte einer jungen Familie. Das zum Jauerbach hin sanft abfallende Gelände von einem Drittel Hektar Größe ist ein Filetstück – kein rechnender Mensch gibt so etwas einfach her. Doch wir sind in Nebelschütz. Die Eigentümer waren bald überzeugt: Selbstverständlich gehören die Kinder hier in die Mitte! Also wurde das Grundstück an die Gemeinde verkauft. Als wir es besichtigen, kommt der ehemalige Besitzer freudestrahlend angelaufen und ist stolz darauf, dass auf »seinem« Gelände der schönste Kindergarten Sachsens entstehen wird. 2013 wird er nach einem bundesweit ausgeschriebenen Architektur-Wettbewerb und Ideenwerkstätten von Eltern und Kindern tatsächlich gebaut. Wieder ein Nebelschützer Wunder. Die Zutaten? Mut, Initiativkraft – und Allmende-Geist! •