Eine menschenzugewandte, professionelle Pflege gelingt durch eine andere innere Haltung.von Carolin Helm-Kerkhoff, erschienen in Ausgabe #21/2013
Vor 30 Jahren habe ich begonnen wie viele Menschen: mit Klagen und Schuldzuweisungen. Ärzte, Politik oder die Chefs trügen daran Schuld, dass es in der Krankenpflege so wenig Anerkennung gibt, dass man sich nur noch abhetzt, aber trotzdem mit der Arbeit nicht fertig wird. Im Lauf der Jahre konnte ich jedoch auch ganz andere Erfahrungen machen. Schon immer war ich an politischen Zusammenhängen interessiert und trug das typische Weltverbesserungs-Genom einer Krankenschwester in mir. So stürzte ich mich nach der Ausbildung in die Pflegepolitik, engagierte mich in freien Arbeitsgruppen und Berufsverbänden und kam mit Gewerkschaften, Journalisten und deren Medien in Kontakt. In Zeiten damaliger Pflegenotstände nahm ich an vielfältigen Aktionen, Sternmärschen, Pressekonferenzen und Gesprächen mit Politikern teil. Auch zukunftsweisende Richtungen in der Pflege reizten mich. Dazu gehörte damals die Idee einer Qualitätssicherung, aus der sich das heute nicht mehr wegzudenkende Qualitätsmanagement im Gesundheitswesen entwickelte. Ich war Gründungsmitglied eines Fördervereins zur Einrichtung einer Pflegekammer, habe dazu Erklärungen verfasst und bin wieder ausgetreten. Die vielfältigen politischen Aktivitäten hatten immer wieder Erfolge – bis auf einen: die Anerkennung der Pflegeberufe als eigenständige, unabhängige Profession im rechtlichen Sinn, wie Ärzte, Rechtsanwälte, Architekten oder Hebammen. Die Pflege hatte zwar begonnen, die gleiche Fachsprache wie andere medizinische Berufsgruppen zu verwenden. Es gab eigene Pflegestudiengänge, der Sprachschatz erweiterte sich um Worte wie »Pflegevisite« oder »Pflegediagnose«, und es wurden jetzt »Pflegeprozesse« und »Pflegestandards« durchgeführt. Ich kann mich noch daran erinnern, wie befremdlich sich das Wort »Evaluation« anfangs anfühlte. Während wir mit immer mehr neuen Entwicklungen konfrontiert wurden, mit Pflegetheorien, Verfahrensanweisungen, Projekten, Standards, Leitlinien und Dokumentationspflichten, die dem praktischen Alltag nicht standhielten, fand gleichzeitig ein eklatanter Personalabbau mit entsprechenden Missständen in Krankenhäusern und Pflegeheimen statt. Bis heute wird um Kosteneinsparungen, Effizienz, Krankenkassenbeiträge, die Privatisierung von kommunalen Gesundheitseinrichtungen bzw. deren Schließung gerungen. Leiharbeit und selbständige Pflege boomen, während Teams aufgrund von Effizienzverschiebungen zerfallen. Erschöpfung und psychische Erkrankungen nehmen gerade bei Menschen in Gesundheitsberufen signifikant zu. Mein Eindruck, dass Professionalität anders aussehen müsste, verstärkte sich. Wo blieben bei all dem die Gepflegten?
Alles können, alles machen, aber nichts dürfen Pflege heute ist eine hochqualifizierte Berufsgruppe, die komplexes Wissen aus allen Gesundheitsberufen umsetzt. Anteile von Krankengymnastik, Ernährungslehre, Psychologie, Seelsorge und Logopädie, ärztliches Wissen und Pharmakologie sowie die Betreuung von Angehörigen werden in Grundzügen mit übernommen. Pflegerinnen und Pfleger sind in vielen ärztlichen Tätigkeiten hervorragend ausgebildet. Was beispielsweise die Dekubitus- und Wundversorgung angeht, sind sie häufig besser qualifiziert und sollen die Ärzte entlasten. Die Genesungserfolge hängen wesentlich von einer kompetenten und selbständig arbeitenden Pflege ab. Nach wie vor darf aber keine eigene Diagnose- oder medizinische Entscheidungskompetenz aus diesem Können abgeleitet werden. Es gibt immer noch unterschiedliche Sozialgesetzgebungswerke für die Kranken- und Altenpflege sowie mannigfaltige Regeln für Psychiatrie oder Rehabilitation. Die Finanzierung der Pflege wird im Krankenhaus über Fallpauschalen abgegolten. In Altenheimen und zu Hause trägt die Pflegeversicherung die Grundkosten. Zusätzliche medizinische Leistungen, wie ein Verbandswechsel, müssen über den Hausarzt angeordnet und über die Krankenkassen abgerechnet werden. In diesem rechtlichen und finanziellen Gemischtwarenladen findet professionelle Pflege als eigenständiges Berufsbild nicht statt, obwohl auf Veranlassung der EU sogar die Fachhochschulreife als Zugangsvoraussetzung diskutiert wird. All diese Beobachtungen und Erfahrungen stellten mich immer wieder vor die gleichen Fragen: Was macht Professionalität in der Pflege aus? Wie kann sie als Grundlage für alle pflegerischen Fachrichtungen gelten, unabhängig von bestimmten Orten, Einrichtungen oder Ausbildungsinhalten? Was brauchen Menschen in existenziellen Situationen an Unterstützung? Wie kann man ihnen diese als Pflegekraft im heutigen Gesundheitssystem zukommen lassen? Was in meiner eigenen Arbeit hat dazu beigetragen, dass Menschen Vertrauen fassen konnten? Was war es, das anders war? Fachwissen allein konnte es nicht sein. Ich machte mich selbständig, und statt weiter nach Anerkennung im Außen zu suchen, wandte ich mich voll und ganz meinem eigenen Tun zu. Statt in Patienten, Bewohnerinnen und Pflegebedürftige zu unterteilen, begann ich, eine andere Sichtweise in meinem Denken und meiner Dokumentation einzuüben: Es waren immer individuelle Menschen, die einen individuellen Grund hatten, eine Einrichtung des Gesundheitswesens aufzusuchen oder sich dort aufzuhalten. Ich hatte keine Berechtigung, über sie oder ihren Aufenthaltsgrund zu urteilen. Heute schenke ich in diesen Menschen und der Situation, in der sie sich befinden, meine volle Aufmerksamkeit. Oft sind es dann vermeintlich unwichtige Dinge, die einen Unterschied bewirken. Wenn jemand mit Herzinfarkt auf der Intensivstation eingeliefert wird, hat er meist schon viele Untersuchungen hinter sich, hat Angst, Hunger, Durst und Druck auf der Blase. In der üblichen Betriebsamkeit werden Kabel und Infusionen angeschlossen, Fragen nach der Vorgeschichte und mitgebrachten Befunden gestellt, Medikamente und Untersuchungen über seinen Kopf hinweg angeordnet. Das alles findet auf eine laute, schnelle Weise statt, und es gibt kaum Raum, sich mit persönlichen Bedürfnissen Gehör zu verschaffen. Dabei kann die Beschaffung einer Urinflasche durchaus zur Entspannung von Pulsfrequenz oder Blutdruck beitragen. Zudem fühlt der Mensch sich dadurch wahrgenommen und kann Vertrauen fassen. Es gibt verschiedene Pflegetheorien und -konzepte, die sich allesamt hervorragend lesen, in der täglichen Praxis aber nicht umgesetzt und teilweise sogar ins Gegenteil verkehrt werden. So hat Prof. Dr. Monika Krohwinkel zwölf »Aktivitäten und existenzielle Erfahrungen des täglichen Lebens« definiert, anhand derer der individuelle Pflegebedarf eines Menschen eingeschätzt werden kann. Der ursprüngliche Sinn, jemanden unter gegebenen Umständen in seiner Individualität zu betreuen, reduziert sich unter den heutigen Arbeitsverhältnissen jedoch nur allzu oft auf: satt, sauber, ruhig und bestenfalls irgendwie abgelenkt. Alte Menschen, die nicht gehen können, werden häufig im Bett gewaschen, weil es schneller geht. Dies lässt besonders in Pflegeheimen die persönlichen Möglichkeiten verkümmern und fördert Einsamkeit in ihrer schlimmsten Form. Eine gute, individuelle Pflege erkennt man nicht an sauberen Bettdecken oder Kleidungsstücken, sondern an Körperhaltung, Mimik und Kommunikation des Gegenübers.
Authentische Begegnungen Es erwies sich als glücklicher Umstand, dass ich im Rahmen meiner Selbständigkeit keine internen Dienstanweisungen, Tarifvereinbarungen oder eingefahrenen Kommunikationswege beachten musste. Mein Arbeiten war nur den zu versorgenden Menschen vor Ort geschuldet. So konnte ich eine eigene professionelle Struktur entwickeln, die meiner Vorstellung von einer kompetenten Versorgung entsprach. Diese zu erkennen, zu beschreiben, bewusst zu üben und zu verinnerlichen, ist ein bis heute andauernder Prozess. Ich habe meine Arbeitsweise mit unzähligen Pflegebedürftigen und deren Angehörigen erprobt, mit Kolleginnen und Kollegen aus allen Berufen und allen Ebenen des Gesundheitssystems diskutiert und reflektiert. Am Schluss stand die einfache Erkenntnis, dass ich, äußerlich betrachtet, nichts anderes tue als die anderen, sondern dass lediglich meine Haltung dabei eine andere ist. Ich verhalte mich authentisch. Das bedeutet unter anderem, mich in meinen positiven und negativen Gefühlen berühren zu lassen. Vielleicht lache ich mit einem Sterbenden herzlich über einen Witz, oder ich gebe jemandem die Rückmeldung, dass ich seinen Forderungen nur schwer nachkommen kann. Wenn mir danach ist, lade ich spontan zum Kuchenessen ein, breche eine philosophische Diskussion vom Zaun oder erzähle auch Persönliches. Ich arbeite mit dem, was ich vorfinde, selbst mitbringe oder besorgen kann, und höre auf die Sprache, die die Menschen sprechen – sei es verbal oder nonverbal in Form von Gestik, Mimik oder Schmerzlauten. Die pflegerische Behandlung stimme ich mit meinem Gegenüber ab, und es gibt immer unterschiedliche Wege, ein bestimmtes Ergebnis zu erreichen. Ich begegne den Menschen ohne Erwartungen oder Vorurteile. Manche werden mir von Kollegen als »schwierig« geschildert, weil sie viele Wünsche haben oder eine komplizierte Wundversorgung ansteht. Aber das ist Teil der pflegerischen Arbeit, und es ist meine Aufgabe, die Menschen zu begleiten. Mich nur darauf zu konzentrieren, zieht immer wieder erstaunliche Ergebnisse nach sich. Besonders deutlich wurde mir das in einem Pflegeheim, das sich auf die Unterbringung von sozialen Randgruppen eingestellt hatte. Herr S. war ehemals obdachlos, alkoholkrank und familiär gescheitert. Er konnte sich nur mit einem Gehwagen fortbewegen, hielt sich meist in seinem Zimmer auf und hatte eine Schuppenflechte, die über den ganzen Körper bis ins Gesicht verteilt war. Sie verunstaltete ihn und wies besonders an den Unterschenkeln viele offene Wunden auf. Unsere ersten Kontakte zeigten, dass er zwar Leidensdruck in Bezug auf die Wunden, aber kein Interesse an einer weiteren pflegerischen Unterstützung hatte. Also bot ich ihm nur fachlich kompetente Beratung und Behandlung der Unterschenkel an, die ich mit Salben und Verbänden versorgte. Ich riet ihm auch zu Fußbädern, die die alten Hautschuppen besser entfernten als das einfache Abwaschen. Als die ersten Erfolge spürbar und sichtbar wurden, konnte ich vermitteln, dass ein Bad auch alle anderen Körperteile erreichen würde, und dass die Salbe dann auch dort besser wirken könne. In der nächsten Zeit bereitete sich Herr S. immer besser auf meine morgendlichen Besuche vor. Erst waren die Verbände aufgewickelt, dann war er gewaschen und frisch bekleidet, das Bett war gemacht, und einmal in der Woche nahm er mit meiner Hilfe ein Bad. Ich werde nie den Anblick vergessen, wie Herr S. nach sechs Wochen im Speisesaal saß: mit Anzughose und blütenweißem Hemd, einem glänzenden, strahlenden Gesicht ohne Schuppenflechte. Ich habe seine individuelle Lebensweise nicht abwertend in Frage gestellt, habe seine Entscheidungen respektiert und mich nur um das gekümmert, was ihm individuell wichtig erschien. Trotzdem – oder gerade deswegen – habe ich alles pflegerisch Wünschenswerte erreicht: mit Herrn S., nicht gegen ihn. Das Recht auf Selbstbestimmung in allen Fragen des eigenen Lebens erfordert absoluten Respekt vor der Expertise eines jeden Menschen über sein individuelles Sein statt einer wertenden Hinterfragung von außen. Menschen haben das Recht auf fachkundige medizinische Beratung und Behandlung, bleiben aber immer die Experten in Bezug auf ihre persönliche Bereitschaft, Schmerzen, Behandlungen oder Untersuchungen zu ertragen und Risikobereitschaft oder Lebensqualität abzuwägen. In meinem beruflichen Umfeld nehme ich nichts persönlich, weil die meisten Menschen mich gar nicht persönlich meinen können, sondern gebe Freundlichkeit, Vertrauen und Wertschätzung auch dann, wenn mir jemand weniger sympathisch ist. Ich versuche nicht, möglichst schnell fertig zu werden, sondern bleibe ganz bei dem, was ich gerade tue. Nach der Arbeit denke ich allerdings auch nicht mehr über die Dinge dort nach. Wenn ich selber einen schlechteren Tag habe, bin ich ruhiger, aber auch damit authentisch. Wenn ich mich so unwohl fühle, dass ich mich nicht konzentrieren kann, bleibe ich zu Hause. Die Menschen, die diese Einstellung wahrnehmen, fühlen sich kompetent betreut, getröstet und begleitet. Meine Kinder haben mir beigebracht, dass alles, was ich ihnen authentisch vorlebe, einen größeren Widerhall erzeugt als nur Wissensvermittlung oder Ermahnungen. Diese Erkenntnis gilt auch für die Pflege und für alle Berufe, die mit Menschen arbeiten: Es ist möglich, auch unter schwierigen Bedingungen anerkannt, professionell und reflektiert zu arbeiten. Ich habe aufgehört, anderen die Schuld für meine Probleme zu geben und zu erwarten, dass sie etwas verändern. Die meisten Menschen in der Pflege weigern sich, zu erkennen, dass sie selbst das professionelle Vorbild für die anderen sind. Ich kann nur mein eigenes Verhalten zu jeder Zeit ändern. Wenn das alle tun, werden wir nicht mehr nach der professionellen Anerkennung fragen müssen, weil wir sie dann aus uns selbst heraus haben.
Carolin Helm-Kerkhoff (57) ist Krankenschwester für Intensivmedizin, Pflege- und Qualitätsmanagerin. Sie ist freiberuflich »am Bett«, als Dozentin sowie in der Projekt- und Teamentwicklung tätig. Aktuell arbeitet sie an der Entwicklung einer eigenen Pflegetheorie. Authentischer Austausch gewünscht? www.helm-kerkhoff.org