Jenny Karpawitz und Udo Berenbrinker leiten die Tamala Clownschule in Konstanz. Sabrina Gundert sprach mit den beiden über das Wiederfinden des inneren Clowns.von Sabrina Gundert, Jenny Karpawitz, Udo Berenbrinker, erschienen in Ausgabe #21/2013
Sabrina Gundert Liebe Jenny, lieber Udo – als ich mit Freunden über das Thema Clown gesprochen habe, sagten viele: Da geht es doch nur um ein bisschen Blödelei. Was steckt für euch in der Figur des Clowns?
Jenny Karpawitz Der Clown ist ein Persönlichkeitsanteil, der in jedem von uns vorhanden, aber bei den meisten durch die Erziehung oder Sozialisierung versteckt ist und nicht gelebt wird – der Clown als die humorvolle Seite, die spontan-kreativ sein kann und die Welt mal aus einem anderen Blickwinkel betrachtet.
Udo Berenbrinker Vielen ist nicht klar, dass der Clown ein Beruf ist, der drei bis vier Jahre Ausbildung braucht, und dass es nicht reicht, einfach nur eine rote Nase aufzusetzen und ein bisschen lustig zu sein.
SG Ist es nicht schwierig, den Clown in uns überhaupt zu entdecken?
JK Die rote Nase ist die kleinste Maske der Welt, und kaum hat man sie auf, trauen sich die meisten ziemlich schnell, die ersten Schritte zu tun. Denn jeder von uns war einmal Kind, und wenn du dir kleine Kinder anschaust, wie sie alles ausprobieren, dann sind sie einerseits Freude pur und andererseits wie kleine Clowns. Kinder fallen hin, stehen wieder auf und gehen weiter – das ist das Motto des Clowns.
SG Wie kann ich mir euch in einer Supermarktschlange oder im Stau vorstellen? Agiert ihr da auch den inneren Clown aus?
JK Ja, oft in kleinsten Kleinigkeiten. Wie es mir heute im Aufzug passiert ist: Die erste Frau hat die Etagenzahl gedrückt, dann die zweite, und ich bin einfach von hinten ein bisschen in Kreisen mit meinem Finger gekommen und habe gesagt: »Oh, schon alles fertig, da brauch ich ja gar nichts mehr tun!« – und schon haben sie alle gelacht. Normalerweise steht ja jeder ernst vor dem Knopf und drückt, aber schon eine kleine, spielerische Leichtigkeit bricht die Norm. Ein anderes Mal war eine Großmutter mit ihrer Enkelin vor uns auf der Straße, und die Enkeltochter ist die weißen Zickzackstreifen entlanggelaufen, die angezeigt haben, dass dort keine Autos parken dürfen. Ich bin hinterhergelaufen – die Kleine strahlte natürlich, doch die Großmutter hat erst einmal sehr verwirrt geguckt. Es geht um diese Kleinigkeiten, um gar nichts Großartiges. Wenn ich mich mit meiner inneren Freude verbinde und dann bewusst wahrnehme, was um mich herum passiert, gibt es meist ganz viele Situationen, in denen ich etwas ganz normal Alltägliches verrückt-anders machen kann.
UB Bei mir ist es mittlerweile wie mit einem inneren Schalter, den ich umlege. Dann fällt mir plötzlich ein witziger Spruch ein, oder die innere Freude ist einfach da, so dass ich jemanden auf eine Weise anlächeln kann, dass er zurücklacht. Mit der Zeit haben Jenny und ich eine ganz andere Art entwickelt, mit Gefühlen nach außen zu gehen. Stressige Situationen fressen wir nicht länger in uns hinein, sondern fangen an, sie zu agieren. Du lebst damit insgesamt auf eine andere Art und lässt den Stress gar nicht mehr so sehr an dich ran. Zum Beispiel, indem du dir Fehler erlaubst. Fehler sind deine Chance. Ein Clown ist dafür da, Fehler zu machen, über den eigenen Schatten zu springen, denn meist ist noch das alte Muster da, das besagt, dass Fehler peinlich sind.
SG Ihr beschreibt den Clown als ein »Symbol für den Aufbruch in eine neue Menschlichkeit und einen humorvollen Lebensstil« – was bedeutet das konkret?
JK Eben das Bewusstsein, dass wir Fehler machen dürfen. Scheitern kann sogar Spaß machen. Wenn Kinder nach dem ersten Gehversuch sagen würden: »Nö, jetzt probiere ich das nicht mehr«, dann würden sie niemals laufen lernen.
UB Durch das Fehlermachen wirst du wieder menschlich. Denn wir sind keine Computer, und unseren Computern gestehen wir dabei noch mehr Fehler zu als uns selbst. Das Verrückte ist, dass inzwischen jeder weiß, dass es in der Gesellschaft so nicht mehr weitergeht. Ich weiß nicht, wie viele Burnout-Fälle wir in diesem Land mittlerweile haben. Wenn du immer perfekt sein willst, wird dein Körper immer enger, du atmest nicht mehr richtig, hältst innerlich fest. Das ist inzwischen der Normalzustand: eine wahnsinnige Verkrampfung. Der Clown öffnet diese Verkrampfung wieder. Indem er die Menschen spiegelt, stellt er dieses System in Frage.
SG Hatte der Clown diese Rolle schon immer inne?
JK Ja, es gibt ihn in jeder Kultur. Er ist der, der stets die Normen und auch das Alte hinterfragt hat. Das heißt, dass er zum Beispiel bei heiligen Zeremonien dabei war und selbst das Heiligste hinterfragen konnte.
UB In indianischen Kulturen konntest du zum Beispiel nur dann Häuptling werden, wenn du einige Zeitlang als Clown gelebt hattest. Der Clown ist wohl 5000 Jahre alt, genauso alt wie Priesterinnen, Priester und Medizinkundige. Der Clown taucht dann wieder vermehrt auf, wenn die Gesellschaft sich festgefahren hat oder etwas Neues kommen muss. Das hatten wir hier in Europa zum Beispiel im Mittelalter, da waren die Narren mal ganz oben. Heute wird wieder in allen Bereichen nach Humor und Clowns gerufen. Als wir in den 1970er Jahren angefangen haben, waren wir Pioniere in diesem Bereich. Bei den Menschen, die heute als Schüler zu uns kommen, spüren wir eine starke Sehnsucht nach dem Clown. Viele – wie der Arzt, der sich jetzt, mit Mitte 50, zum Clown ausbilden lässt – erinnern sich wieder an ihr inneres Kind. Plötzlich spüren sie: Ja, das ist es, dem will ich jetzt folgen. Es ist diese Sehnsucht nach etwas anderem, die Sehnsucht nach dem inneren Clown. In öffentlichen Diskussionen kommt bei vielen Fachleuten auch die Frage nach der Notwendigkeit dieses inneren Clowns auf – verstärkt bei jungen Führungskräften oder Menschen, die sich um das Thema Gesundung in Betrieben oder Vorsorge kümmern. Untersuchungen zeigen, dass wir als Kinder etwa 400 Mal am Tag lachen, als Erwachsene noch 40 Mal und am Arbeitsplatz in der Regel fast gar nicht mehr. Forschungen aus den USA machen deutlich, dass Menschen, die viel lachen, gegen Zivilisationskrankheiten wie Herzinfarkt geschützt sind. Da wird die Notwendigkeit sichtbar.
SG Laufen solche Wege zur Bewältigung von gesellschaftlichem Stress nicht Gefahr, »nur« zur Reparatur des Bestehenden zu dienen, statt die tieferen Ursachen für Zivilisationskrankheiten anzugehen?
UB Der Clown ist eine Urfigur, die in uns steckt, sein Kern ist die innere Freiheit. Deshalb kann ein Clown nie die bestehenden Verhältnisse akzeptieren, er nimmt grundsätzlich eine Widerspruchshaltung ein. Menschen an unserer Schule kommen in der Regel schnell an den Punkt, an dem sie sich zum Beispiel fragen: Kann ich weiterhin an meinem Arbeitsplatz als Rädchen im Getriebe funktionieren? Kann ich dort etwas verändern? Oder muss ich mir einen neuen Weg suchen? Das Funktionieren-Müssen und die Freiheit – das passt nicht zusammen. Durch die Entdeckung des Clowns kommt eine andere Wertigkeit ins Leben. Das erlebe ich an mir selbst: Ich kann all diese Spielchen nicht mehr mitspielen – wenn die Leute darüber sprechen, wohin sie wieder in die Ferien fliegen oder sich dieses und jenes neu gekauft haben. Aus diesen Oberflächlichkeiten klicke ich mich heraus, denn ich habe die Freiheit, das absurde Theater der gegenwärtigen Zivilisation als Clown tatsächlich von außen als ein absurdes Spiel zu betrachten. Darin liegt viel Transformationskraft. Allerdings lasse ich damit auch eine gewisse Einsamkeit zu. Auch das gehört zum Clown.
SG Wenn ich nicht in einer Ausbildung zum Clown bin – welche Wege gibt es, ihn in mein Leben zu integrieren?
JK Freilich kannst du durch Übungen vor dem Spiegel lernen, dich mal aus einer anderen Perspektive zu betrachten, aber mit Hilfe von außen in einem Workshop ist es einfacher. Viele von uns haben als Kinder immer wieder Sätze gehört wie: Was werden wohl die Nachbarn denken? Sei leise! Sei anständig! Diese Sätze wirken auch im Erwachsenenalter unterbewusst in uns weiter. Da braucht es eine Ermutigung, einfach mal etwas Verrücktes tun zu dürfen.
UB Wir sagen auch oft: Schau dir einfach mal die Menschen an, geh wach und bewusst durch deine Umgebung!
JK Es gibt so viel Komisches um uns herum. Im Alltag geht das aber meist unter, weil wir nicht genau hinschauen. Wenn man das erst einmal sieht, schult sich die eigene Wahrnehmung.
UB Wir empfehlen zum Beispiel auch, ein Humortagebuch anzulegen …
JK … und darin zu notieren, wo ich einmal über mich lachen konnte oder wo ich eine komische Situation erlebt habe. Denn sonst vergessen wir es nur allzu schnell wieder.
UB All das braucht Zeit, denn du läufst damit gegen deine eigenen Muster an. Das kann sogar so weit gehen, dass jemand zu dir sagt: Du kannst doch gar nicht glücklich sein in dieser Welt, die so schrecklich ist. Dann sollte man sagen können: Nein, der Clown hat genau die Kraft, die das Schreckliche wandeln kann. Spür da hinein – wo hast du zuletzt Freude empfunden? Manche sitzen dann erst einmal lange Zeit nachdenklich auf ihrem Stuhl. Dabei kannst du selbst beim Betrachten einer kleinen Blume Freude erfahren.
SG Gibt es Ankerpunkte, die uns an den Clown in uns erinnern können?
JK Ja, wir können uns eine Clownsnase in die Hosentasche stecken. Wir müssen sie gar nicht aufsetzen, sondern können in einer Situation, in der wir merken, dass wir das Humorvolle wieder verlieren, die Hand in die Hosentasche stecken und die Nase festhalten. Das wirkt. Oder uns am Morgen als erstes im Spiegel einmal anlächeln.
UB Du wirst deinen Tag anders gestalten, je nachdem, ob du dich morgens im Spiegel anlächelst oder grimmig anguckst, und ob du beim Frühstück hinter deiner Zeitung verschwindest oder die anderen Menschen am Tisch wahrnimmst und anlächelst.
JK Es wird auch ein anderer Tag, wenn du die Menschen in deiner Umgebung anlächelst, auf der Straße zum Beispiel. Und kleine Kinder beobachtest – das sind die besten Clowns überhaupt und die größten Lehrmeister.
Jenny Karpawitz (58) bildete sich nach einem Indologie- und Germanistikstudium in Yoga, Bioenergetik und Energiearbeit aus. Sie ist Trainerin für Clown- und Körpertheater sowie Leiterin und Gründerin des Tamala Centers.
Udo Berenbrinker (61), Pädagoge, Theaterwissenschaftler und Schauspieler, arbeitete unter anderem mit dem Grotowski-Laboratorium. Er bildet seit über 25 Jahren Clowns aus und ist pädagogischer Leiter des Tamala Centers.