Titelthema

Lachend zurück ins Leben

Sabrina Gundert porträtiert die Lachyogatrainerin und Kindertrauerbegleiterin Zühâl Mohren.von Sabrina Gundert, erschienen in Ausgabe #21/2013
Photo

Früher, sagt Zühâl Mohren, habe sie keine eigenen Wünsche, Pläne oder Ziele gehabt. Dennoch habe ihr nie etwas gefehlt – denn sie hatte ja Jochen, den Mann, mit dem sie seit ihrem 17. Lebensjahr zusammen war. Den, der sich als Italiener ausgegeben hatte, um sich ihr nähern zu dürfen, als ihre türkische Familie noch gegen einen deutschen Freund eingestellt war. Und der, den die Familie längst in ihr Herz geschlossen hatte, als der ganze Schwindel aufflog. »Jochen und ich, wir waren unzertrennlich. Wer uns sah, sagte, ja, die beiden gehören zusammen«, erinnert sich Zühâl, und dabei verliert sich ihr Blick aus der heimischen Küche in Kiel in der Ferne.

Es ist der 28. November 1998, der Zühâls bisheriges Leben verändert. Einige Wochen zuvor war Jochen Mohren nach einem Herzinfarkt während eines Handballspiels ins Wachkoma gefallen. Die Ärzte hatten ihn reanimiert, nach vier Wochen erwachte er und wurde in eine Reha verlegt. Doch der 33-Jährige war nicht mehr der Mann, den Zühâl an ihrer Seite kannte. Aus dem witzigen ­Familienvater – zehn und elf Jahre waren ihre Tochter und ihr Sohn zu der Zeit –, dem charmanten Schwiegersohn und Ehemann war ein Mensch geworden, der sich an nichts mehr erinnern konnte. An keine ­Namen, keine Verwandten. Nur eines konnte er noch: Italienisch. »Pausenlos sang er italienische Schlager«, erinnert sich Zühâl ­Mohren. »Und manchmal war es, als würde er mir Codewörter ­geben. Wie das Wort »Lucca«, eine Stadt in Italien, in der wir uns zum ersten Mal geliebt hatten, wovon damals niemand etwas wissen durfte. Die Stadt, nach der wir ursprünglich unseren Sohn nennen ­wollten.«
Ein zweiter Infarkt im November 1998 bläst Jochens schwache Lebenskerze aus. Die damals 29-jährige Zühâl kann sein Sterben nicht begreifen. »Ich habe die letzten Tage in seinem Leben fotografisch festgehalten, sonst hätte ich es nicht glauben können. Die Bilder haben mir geholfen, zu verstehen, was geschehen ist.« Einige Zeit zuvor hatte ein Arzt sie gefragt, was wäre, wenn Jochen sterben würde. »Er wird nicht sterben. Das kann er gar nicht. Er hat sich doch immer um alles gekümmert! Ich habe noch nie eine Überweisung getätigt, habe keine Ahnung von Konten oder Versicherungen. Er wird nicht sterben«, hatte sie immer wieder gesagt.
15 Jahre sind seitdem vergangen, und wer Zühâl Mohren heute trifft, kann kaum glauben, dass solch eine Lebensgeschichte hinter ihr liegt. Von Weitem schon ist sie an ihrem zwanglosen Lachen zu erkennen, hat für jeden ein ermunterndes Wort. In ihrer Freizeit strickt sie Blumenringe – kleine Erinnerungen daran, das Lachen im Alltag nicht zu vergessen. Die heute 44-Jährige weiß mittlerweile genau, wie es in ihrem Leben weitergehen soll. »Nicht, dass ich sie falsch verstehe«, erklärt sie mir, »ich habe nichts vermisst in der Zeit mit Jochen. Es war so klar, dass wir zusammengehören. Ich kannte es auch nicht anders. Meine Eltern hatten auch immer nur einander, und wenn mich Freundinnen fragten, ob ich es nicht vermisste, mal einen anderen Mann zu küssen, dachte ich mir, ich habe doch Jochen, was soll ich mit jemand anderem?«

Die Zeit am Abgrund
Nach Jochens Tod wollte Zühâl nicht mehr aufstehen, nicht essen, sich waschen, nichts war mehr wichtig. »Zudem wusste ich nicht, wie ich trauern sollte. Die deutsche Familie von Jochen sagte, ich müsse stark sein, dürfe nicht weinen, während meine türkische Familie dafür plädierte, dass ich klagen und weinen müsse. Ich war innerlich zerrissen.« Geweint hat sie nur mit ihrer Mutter und der Schwester, während der Kummer sie immer mehr aufzufressen begann. Ihr Körper schmerzte, jede Berührung – und wenn es nur die Paketübergabe durch den Postboten war. Der Kummer drang bis in ihre Organe vor; sie bekam Gebärmutterkrebs, musste sich schließlich zur Totaloperation entschließen. Immer wieder dachte sie an Selbstmord. »Was wollt ihr von mir?«, dachte sie manchmal in dieser Zeit. »Wenn mir hier alles zu blöd wird, gehe ich zu Jochen.«
Wie nah am Abgrund sie sich jedoch wirklich bewegt hatte, wurde ihr erst 2005 auf einem Seminar zu ihrer Ausbildung als Kindertrauerbegleiterin klar. Damals war sie nach einer Umschulung bereits seit einigen Jahren im Bürobereich tätig. In die Gastronomie wollte sie nach dem Tod ihres Mannes nicht mehr zurück – Jochen Mohren war Koch gewesen, zusammen hatten sie einige Jahre in Kiel ein Restaurant geführt. 2005 hatte Zühâl Mohren vom gerade ein Jahr zuvor gegründeten Verein »Trauernde Kinder Schleswig-Holstein e.  V.« erfahren. Sie hatte gemerkt, dass die Bürotätigkeit sie nicht erfüllte, und die Arbeit als Kindertrauerbegleiterin reizte sie. Obwohl ihre eigenen Kinder mittlerweile schon zu alt für die Arbeit des Vereins waren, wollte sie doch wenigstens anderen Kindern bei der Bewältigung ihrer Trauer zur Seite stehen.
Auf einer Bergwanderung bei jenem Ergänzungsseminar zur Ausbildung sollten die Teilnehmenden Steine sammeln – Steine, die ihnen im eigenen Leben im Weg lagen. Auf dem Gipfel angekommen, war Zühâl die einzige ohne Steine. »Hast du denn keine Wut? Gibt es keine Steine in deinem Weg?«, fragte Kursleiter Jorgos Canacakis, ein auf Trauerbegleitung spezialisierter Psychologe. – »Klar, das war schon blöd, dass mein Mann mich hier alleingelassen hat, doch ich hatte auch zwei gesunde Kinder, war am Leben und dachte, dafür müsste ich doch dankbar sein«, erinnert sich Zühâl. Dieses Lebensbild zerbrach jäh, als Canacakis ihr zeigte, welchen Weg sie als einzige der Teilnehmenden zum Gipfel genommen hatte – den Pfad, bei dem ein Fehltritt gereicht hätte, um in einen tödlichen Abgrund zu stürzen. Alle anderen hatten einen sicheren Weg gewählt. Zühâl hatte den Abgrund nicht einmal bemerkt.
»Das war der Moment, in dem ich losrannte. Ich rannte und konnte gar nicht genug Steine auf einmal sammeln. Dann lief ich wieder auf den Gipfel und schrie: ›Jetzt habe ich Steine!‹ Und ich schleuderte sie von mir – für Jochen, für den Krebs in mir, für die Nachbarin, die mich – nachdem ich als Kind aus der Türkei nach Deutschland gekommen war – immer gezwungen hatte zu sagen, dass ich ein braves deutsches Mädchen sei und meine deutsche Heimat liebe. Bisher hatte ich immer gedacht, ich hätte keine Wut. In diesem Moment bin ich zum ersten Mal an meine Gefühle gekommen.«
Das Ritual verdeutlichte ihr, dass sich jede Situation im Leben wandeln lässt, dass nichts endlich oder unveränderlich ist – wie auch ihre Depression, der sie sich bislang ergeben ausgeliefert hatte, hatten doch schon so viele Frauen in ihrer Familie und ihrer Kultur an Depressionen gelitten. »Ich habe mich gefragt, was mir essenziell fehlt, und mir wurde klar: Es ist das Lachen. Früher hatten Jochen und ich ganz viel gelacht, aber nach seinem Tod meinten Freunde und Familie, dass sie nicht mehr mit mir lachen könnten, denn ich müsse jetzt trauern.« Gutgemeinte Ratschläge bekam sie genug: Autogenes Training solle helfen, Meditation, Klangschalen – »das half auch auf einer gewissen Ebene, aber es blieb dieser unglaublich schmerzhafte Verlust des Lachens«.

Vermittlerin zwischen Welten
An einem dieser Ausbildungswochenenden zur Kindertrauerbegleiterin hieß es, man würde nach dem Mittagessen mit einer Meditation in den Nachmittag starten. Als Zühâl nach dem Essen wieder in den Raum trat, wunderte sie sich zwar, warum alle Menschen plötzlich so farbenfroh angezogen sind, aber sie legte sich zu den anderen in den sternförmigen Kreis auf den Boden. »Und dann geschah es: Auf einmal begannen die ersten zu lachen. Immer heftiger wurde um mich herum gegluckst, geprustet und gelacht. Ich dachte nur: Oh je, wo bin ich denn hier gelandet?« Schließlich hatte sie schon seit Jahren nicht mehr gelacht. »Doch plötzlich brach es aus mir heraus, und ich lachte und weinte gleichzeitig, ohne Ende.« Sie hatte sich in der Tür geirrt, war in einer Lachyogaausbildungsgruppe und damit in einer Lachyogameditation gelandet. »Da wusste ich plötzlich: Das ist es, hier bin ich richtig! Es war so, als hätte mich das Lachen unbewusst angezogen.«
Neun Jahre sind seitdem vergangen – Jahre, in denen Zühâl immer wieder Seminare und Workshops für Lachyoga besucht und noch im selben Herbst die Ausbildung zur Lachyogatrainerin bei Madan Kataria, dem Erfinder des Lachyogas, begonnen hat. »Mit dem Lachen kam der große Wandel in meinem Leben. Du kannst den Tod nicht weglachen, aber du kannst so mit anderen Menschen lachen, dass du daraus Kraft für eine ganze Woche schöpfst, die dich trägt, bis du die anderen eine Woche später wiedersiehst.«
Und so ist Zühâl Mohren heute zur Vermittlerin zwischen den Welten geworden – zwischen Lachen und Freude auf der einen und dem Schmerz auf der anderen Seite. Beides liegt oft ganz nah beieinander, gerade in ihrer heutigen Arbeit als Lach­yogatrainerin, Trauerbegleiterin und Hospizhelferin – drei Berufen, die miteinander Hand in Hand gehen. »In vielen der Menschen, die zum Lachyoga kommen, steckt eine tiefe Trauer. Die meisten kommen, weil sie nichts mehr zu lachen haben, wegen Burnout, Schmerzen oder anderen schwierigen Lebenssituationen. Der Weg vom Lachyoga hin zu einer Sitzung mit Gespräch oder Klangschalen ist dann oft nicht weit.« Im oberen Stockwerk ihres Hauses hat sich Zühâl Mohren eine Praxis eingerichtet, wo sie all ihr Wissen, das sie sich in den vergangenen Jahren angeeignet hat, weitergibt: Affirmationen, Qigong-Übungen, positives Sprechen, NLP-Coaching, die EFT-Klopftechnik und ­vieles mehr. Es sind Elemente, die sie auch in ihre Lachyogastunden, die sie an Schulen, privat und bei Volkshochschulen gibt, einfließen lässt. Im Herbst steht ihre Prüfung zur Heilpraktikerin für Psychotherapie an. »Dann kann ich therapeutisch tätig sein, denn letztlich greifen all diese Bereiche und ­Lebensthemen ineinander.«
Heute, sagt sie, würde sie all das an eigenen Wünschen, Plänen und Projekten nachholen, was sie damals mit Jochen nicht gelebt habe. »Ich möchte so lange weiterarbeiten, bis ich 88 Jahre alt bin, will Wochenend­seminare geben, Frauen dabei stärken, ihren eigenen Herzensweg zu gehen, mit weiblichem Tanz, Begleitung, Spüren, möchte Vermittlerin zwischen den Kulturen sein ebenso wie zwischen Lachen und Schmerz.«
»Ein Gedanke hat mich all die Jahre getröstet«, erzählt Zühâl: »Wäre Jochen nicht gestorben, hätte ich nie erfahren, dass ich einmal Kindertrauerbegleiterin und Hospizhelferin werden will – ebensowenig, wie ich Lachyogatrainerin geworden wäre.« Die Trauer, sagt sie, sei heute nicht weg, »doch sie ist leichter geworden, ich spüre mich wieder mehr durch die Trauer. In der Türkei sagt man, dass man durch den Verlust eines geliebten Menschen einen Flügel verliert. Ich selbst habe einen neuen Mann gefunden, dessen einer Flügel ebenfalls angeknackst ist. Bei ihm brauche ich mich nicht zu verstellen, er kennt den Schmerz. Heute ist er das Geschenk und die Stütze für mich geworden, die ich einst für Jochen war.« Und Jochen – der sei sowieso immer mit dabei, ob auf dem Küchentablett mit Fami­lienfotos oder einfach so im Alltag. »Jeden Tag erzähle ich wenigstens eine ­Anekdote über ihn. Ich habe das Gefühl, als sei er ­immer da – als natürlicher Teil meiner ­Familie.« 


Sabrina Gundert (25) ist freie Journalistin, Autorin und ­Seminarleiterin. Ihr Herzblut ist das Schreiben, die Natur und das ­Gehen des eigenen Lebenswegs. www.handgeschrieben.de


Das Lachen selber wiederfinden?
Informationen zu Zühâl Mohrens Lachyogagruppen per E-Mail unter z.mohrenÄTgooglemail.com.


Oya im Ohr
Diesen Beitrag gibt es auch als Hörstück.

weitere Artikel aus Ausgabe #21

Photo
Gemeinschaftvon Pascal Mülchi

Boom für Selbsthilfe-Netze

Seit Oktober 2011 haben sich im südfranzösischen Montpellier mehrere Wohngemeinschaften zusammengeschlossen, um Güter, Wissen und Kompetenzen auszutauschen.

Photo
von Peter Krause-Keusemann

Prinzessinnengärten (Buchbesprechung)

Mitunter scheint das Leben Ideen zu präsentieren, deren Umsetzung eigentlich unmöglich ist. So könnte es sein, dass zwei Leute ohne Geld, ohne Grundstück, ohne Fachwissen und ohne Mitstreite r in nen daran gehen wollen, auf einer verwilderten, kontaminierten, verkehrsnah

Photo
Literaturvon Matthias Fersterer

Der kleine Prinz (Buchbesprechung)

In den letzten Tagen des Jahrs 1935 erleidet der Pilot und Autor Antoine de Saint-Exupéry eine Bruchlandung in der libyschen Wüste. Nach Tagen extremen Dursts, nach Fieberwahn und trügerischen Luftspiegelungen wird er von Beduinen gerettet. Er habe sich in der Sahara, die er fast

Ausgabe #21
Im Ernstfall: Lachen!

Cover OYA-Ausgabe 21
Neuigkeiten aus der Redaktion