Was in einer kleinen Initiativgruppe begann, ist überraschend groß geworden: Mehr als 700 Menschen gärtnern im Berliner Allmende-Kontor. Wie regelt diese große Gruppe ihre Angelegenheiten?
von Lara Mallien, erschienen in Ausgabe #22/2013
Ein warmer Sommerabend auf dem Tempelhofer Feld. Auf Fahrrädern und Skateboards gleitet ein Schwarm rollender Menschen auf den alten Rollbahnen rasch zwischen gemächlich im Dämmerlicht Schlendernden dahin. Sprachfetzen auf Sächsisch, Schwäbisch, Türkisch, Englisch und Berlinerisch fliegen uns von den vielen Grillplätzen ins Ohr. Seltsamerweise findet das abendliche Getriebe nur auf schmalen Streifen des Geländes statt, die größten Flächen bewohnen nur Gräser. Wir sind zum ersten Mal hier. Als die Bretterverschläge des Allmende-Kontors zwischen Sonnenblumen, Bohnenstangen und Kürbisranken vor der Kulisse der ehemaligen Flughafengebäude auftauchen, breitet sich das Gefühl aus, in den Beginn eines Science-Fiction-Romans über eine uns ähnliche, aber doch ganz andersartige Zivilisation einzutauchen.
Eine kleine Gruppe erwartet Johannes Heimrath und mich neben dem »Dorfplatz« des Allmende-Kontors – eine erhöhte Sitzfläche aus Holzdielen, beschützt von einem riesigen Sonnensegel. Niemand hat einen Plan, wie unser Treffen beginnen soll, denn sowohl wir als auch Severin, unser Kontaktmensch aus dem Gartenteam, treffen etwas verspätet ein. Es wird dunkel – also besser nicht lange überlegen, sondern loslegen. Wo sind Bierbänke? Wir holen sie aus dem Container eines benachbarten Projekts. Aber für die Mitte des Redekreises wären Stühle doch besser. Die schnell herbeigezauberten, pittoresken Exemplare ihrer Art fallen zwar fast auseinander, aber mit etwas Vorsicht sind sie besetzbar. Wie funktioniert das nun mit der angedachten Fishbowl? »Vier Stühle stehen in der Mitte, drei werden besetzt, einer bleibt frei für jemanden aus dem äußeren Kreis, die oder der sich einbringen will. Dafür gibt jemand aus dem Innenkreis seinen Platz frei.« Wer moderieren würde, hatten wir nicht beschlossen. Wir wollten sehen, was sich stimmig anfühlt. »Für uns ist dieser Abend mit Oya ein Gartentreffen, das wir nutzen wollen, um unsere Prozesse ein wenig genauer zu reflektieren«, erklärt Severin. »Dann bin ich ein aktiver Zuhörer im inneren Kreis«, entscheidet Johannes und nimmt sich einen fünften Stuhl. Ich selbst werde mitschreiben.
Am Anfang stand die Einladung Auf der Fläche, die dem Allmende-Kontor von der Stadt Berlin zur Verfügung gestellt wurde, sind gut 700 Menschen auf 300 Beeten aktiv. Am Anfang, das war 2011, stand nur eine Einladung: Wer möchte, kann sich hier ein wie auch immer gestaltetes Beet anlegen. Kein Eintritt in einen Verein und keine definierte Gebühr schreckten ab. Das zog Menschen sämtlicher Altersstufen aus allen Winkeln Berlins an. Ausgesprochen wurde die Einladung von einer Initiativgruppe. Sie bildet ein dreizehnköpfiges Team, das den Garten bis heute unterstützt. Einige von ihnen wie Frauke, Gerda, Kristin, Niels und Severin sind in der abendlichen Runde dabei. Für sie ist das Experiment, mit Hunderten Menschen Selbstorganisation zu erproben, genauso wichtig wie das Gärtnern selbst. Die anderen Beetpflegerinnen und -pfleger, die sich vor allem an ihrer grünen Oase erfreuen, teilen diese Perspektive nur begrenzt. Doch alle sind davon betroffen, dass die Tage des Allmende-Kontors an diesem Ort aller Voraussicht nach gezählt sind. Frauke beginnt die Fishbowl-Runde. »Ich habe einen Vertrag unterschrieben, der Ende dieses Jahres endet, und zwar in meiner Rolle als Vorstand des gemeinnützigen Vereins Workstation. Dieser Verein ist für das Projekt Allmende-Kontor bei der ›Grün Berlin GmbH‹ Vertragspartner. Jetzt frage ich mich, was wir tun sollen. Kämpfen, dass er verlängert wird? Oder sage ich allen, sie sollen im Herbst ihre Kisten packen? Die Initiativgruppe hat in den Garten hineingefragt und von knapp 100 Beeten Rücklauf bekommen. Der heißt klar: Die allermeisten, 87 Prozent, möchten bleiben, solange es irgend möglich ist. 13 Prozent wären auch bereit, umzuziehen, wenn es an einem neuen Ort bessere Bedingungen gibt. Wie entscheiden wir uns nun? Ich habe Grün Berlin das Umfrageergebnis mitgeteilt und warte auf deren Reaktion.« »Wie geht es weiter? Darüber wird auf unseren Gartentreffen am meisten diskutiert«, ergänzt Severin. »Die Frage bringt uns dazu, miteinander intensiver zu sprechen. Für viele ist es schwierig, zu verstehen, dass eine einzelne Stellvertreterin wie Frauke für das Projekt als Ganzes einen Vertrag unterschrieben hat. Noch hat sich keine klare, kollektive Strategie entwickelt, aber das steht jetzt an. Ich frage mich, wie wir dieses große Thema genauso konkret angehen können wie die Frage, wer das Wasser auffüllt? Wie kommt es wirklich hinein in den großen Kreis aller Beteiligten?« »Für mich ist das Team der Gründerinnen und Gründer die Hebamme des Allmende-Kontors«, meldet sich Dorothee zu Wort. »Ich gehöre nicht dazu, bin hier nur Gärtnerin. Aber mir ist klar, dass die Hebammenrolle irgendwann vorbei ist und sich das Ganze aus eigenen Kräften gestalten muss. Ich erinnere mich an eine letzte wichtige Entscheidung, die wir auf den Gartentreffen erarbeitet haben: dass wir Nachbarschaften bilden. Wir haben überlegt, dass überschaubare Nachbarschaften besser miteinander kommunizieren und zusammen etwas reißen können als Großgruppen. Für dieses Modell gab es in unseren Runden eine große Fürsprache. Aber als die Sache reif war, lag auch Zurückhaltung in der Luft: Können die, die gerade da sind, diese Entscheidung wirklich treffen?« Auf den alle zwei Wochen stattfindenden Gartentreffen entscheiden die Anwesenden im Konsens. Die Initiativgruppe hat keine Entscheidungsbefugnis, sondern versteht sich als unterstützende und ausführende Struktur im Hintergrund. Was gilt und was passieren soll, beschließen also diejenigen, die sich einbringen. Der Zauber des Gartens ist seine Niedrigschwelligkeit, da sind sich alle in unserem abendlichen Fishbowl-Kreis einig. Jeder konnte ein Beet bauen, niemand wurde anfangs aufgefordert, alle zwei Wochen zum Gartentreffen zu erscheinen. Diese Runden etablierten sich mit der Zeit, und naturgemäß nehmen von den 700 Beteiligten selten mehr als 50 daran teil. Wann sie stattfinden, verkündet ein Plakat am Dorfplatz und ein Mailverteiler.
Wasserwochen-Alarm »Dass sich jede Woche jeweils eine der zehn Nachbarschaften um das Wasser kümmert, klappt erstaunlich reibungslos, obwohl diese Regelung noch kein Jahr alt ist«, freut sich Severin. »Manche Nachbarschaften haben schon eigene Gartenpicknicks organisiert – genau wie wir es uns erhofft hatten.« »Ich hatte gerade mit meiner ›roten‹ Nachbarschaft die Wasserwoche zu wuppen«, erzählt Dorothee. »Erst habe ich in einer Rundmail allen Nachbarbeeten Bescheid gesagt, dass wir dran sind – keine Reaktion. Dann habe ich meine Nachbarn direkt angesprochen, und einer sagte zu mir: ›Ich kann den Tank einmal auffüllen. Aber eigentlich möchte ich mit euch nichts zu tun haben, ich möchte hier nur abhängen.‹ In diesem Moment habe ich die Blumen und Pflanzen hier so sehr beneidet: Sie wissen, was zu tun ist, sie brauchen nur zur Sonne zu wachsen. Warum ist bei den Menschen alles so kompliziert? Aber ich habe auch viel Schönes erlebt. In einem Beet meiner Nachbarschaft, das von einer türkischen Familie gepflegt wird, waren fast alle in Ferien. Ein Neffe kümmerte sich um die Beete. Er nahm das Auffüllen der Wassertanks so ernst, dass er mich mit dem Handy aus Leipzig angerufen hat, wo er im Stau stand und mitteilen wollte, dass er nicht, wie versprochen, in den Garten kommen konnte. Letztlich habe ich durch diesen Prozess begriffen, wie wichtig es ist, dass wir persönlich miteinander sprechen. E-Mail kann niemand mehr leiden. Mir fiel dann ein gutes Argument ein, um zu erklären, wie großartig es ist, Wasserwoche zu haben: Wir können dann den Gartenschlauch nutzen und viel einfacher als sonst die Beete gießen.« Die Idee der Nachbarschaften hat es schon seit Beginn des Projekts gegeben, aber erst Ende letzten Jahres war die Zeit reif, sie auch umzusetzen. Ein paar andere Regeln galten von Anfang an: Es darf nur in Kisten, nicht in den Boden gepflanzt werden; der Ort der Beete soll mit dem Gründungsteam abgestimmt werden; die vorgegebene Größe soll eingehalten werden; der Abstand zwischen den Beeten soll mindestens eine Schubkarre breit sein; Kompost darf nur an einem definierten Platz abgelegt werden. Ein Grafiker gestaltete Zettel, auf denen diese grundlegenden Umgangsformen in Bildsprache und auf Deutsch und Türkisch kommuniziert werden. »Der Regelbaum wächst«, sagt Dorothee. »Aus dem Bedarf entstehen Regeln, aber so zögerlich wie möglich. Das nehme ich als angenehm wahr. Die Dinge brauchen Zeit, wenn sie sich nicht so anfühlen sollen wie ein Raster, das über den Garten gelegt wird.« Dieser Kultur entsprechend, wird auch das Thema Geld gehandhabt. Die Initiativgruppe gab bekannt, dass das pauschale Nutzungsentgelt im Jahr 5000 Euro beträgt. Daraufhin kam der Betrag durch viele einzelne Spenden fast ganz zusammen.
Wo ist denn hier der Verantwortliche? »Wir bewegen uns hier in einem anderen gesellschaftlichen Weltbild als demjenigen, das die meisten gewohnt sind«, reflektiert Frauke. »Im Garten geht es nicht um die Frage: Was kostet wieviel? Sondern: Was kann ich beitragen? Es kommen ganz viele Beiträge. Dorothee hat zum Beispiel angeboten, Plenen zu moderieren. Manche tragen Geld bei, andere Wissen, indem sie Workshops geben. Jemand hat das Spiel ›Allmendoly‹ erfunden, und wieder andere schenken Zeit, indem sie als Ansprechpartner fast immer vor Ort anzutreffen sind, so dass sie helfen und vermitteln können.« »Wo ist denn hier der Verantwortliche?!«, ruft da plötzlich eine sich überschlagende Stimme aus dem dämmrigen Hintergrund. Eine Frau mit Schirmmütze kommt aufgebracht zum Dorfplatz gerannt. »Keine Sau kümmert sich um die Überschwemmung an der Wasserstelle!« Wortlos steht ein Mann von unseren Bierbänken auf und geht mir ihr mit. »Überschwemmung ist hier Alltag«, bemerkt Severin, »kein Grund für Panik oder Konflikte. Es wird bei uns schon auch mal drastisch geredet.« Alle lachen. »Der Name ›Allmende-Kontor‹ vermittelt einen hohen Anspruch«, meldet sich ein Gärtner namens Johannes zu Wort. »Es ist für mich spannend, das Gespräch hier mitzuerleben, das auf den Punkt bringt, worum es geht. Der Garten erfindet seine eigene soziale Kultur. In meiner Nachbarschaft wollen die Leute auch ihre Ruhe haben, sie wollen kein umfangreiches Regelwerk, und das gibt es auch nicht. Die schönsten Dinge entstehen nicht über einen Regelkatalog, sondern über Momente des Gelingens. Ich kann mich hier auf eine Bank setzen, die mir nicht gehört, und bin willkommen. Wo können Menschen so etwas schon erleben?« Auch jetzt, gegen 22 Uhr, sehe ich um den Dorfplatz herum bunte Gestalten auf allen Bänken. Auf einmal meine ich, eine Gruppe von Frauen auf Eseln vorbeireiten zu sehen. Als ich genauer ins Dunkel schaue, schieben sie doch nur Fahrräder. Bestimmt ist dies ein guter Ort für Tagträume, die in die Ferne führen. Auch wenn es nicht explizit geplant war, ist der Allmende-Kontor ein interkultureller Garten geworden. Bei den Gartentreffen bräuchte es eigentlich Simultan-Übersetzung in verschiedene Sprachen. »Die Menschen eignen sich den Raum hier an. Mir als Landschaftsplaner fällt das angenehm auf«, ergänzt Gärtner Johannes. »Genau dies ist das Ziel vieler Planer bei der Gestaltung von Plätzen, aber es wird nur selten erreicht. Tagsüber wird der Garten auch von vielen Menschen besucht, die hier gar kein Beet haben. Sie streifen die Wege entlang, setzen sich auf eine Bank, lesen die Nachrichten an den schwarzen Brettern der Nachbarschaften und bemerken mit der Zeit, dass hier andere Strukturen lebendig sind als in einem Schrebergarten.«
Mündliche Tradition Im Lauf des Abends ensteht in mir ein Gefühl für die Qualität dieser Strukturen. Langsam begreife ich, was das Besondere ist, wenn jemand wie Dorothee mit dem Ethos als verantwortliche Allmendefrau von ihrem Nachbarn hört: »Ich will nur meine Ruhe, du bist mir egal«, aber sie sich trotzdem nicht entmutigen lässt, sondern weiterhin auf Menschen zugeht. Im ersten Jahr hat es im Garten Diskussionen in Form eines »World Cafés« gegeben. Ein Tisch zum Thema »Regeln« kam zu dem Ergebnis: Wir stellen keine zusätzlichen Regeln auf, die Leute sollen sich erst besser untereinander kennenlernen. Wir werden im Garten nicht von Regeln sprechen, sondern von einem Leitfaden, der ganz einfache Grundlagen vermittelt: Gärtnert mit, klaut nicht, bringt euren Müll nach Hause. »Das ist ein Musterbeispiel für das Entstehen einer mündlichen Tradition«, fasst Johannes Heimrath seinen Eindruck zusammen. Eine Allmendekultur kann nur als mündliche Tradition heranwachsen, sie wird von Mensch zu Mensch weitergegeben. Schriftlich mag sie sich in einer tiefsinnigen Präambel der Initiativgruppe und in ein paar wenigen Hinweisschildern wiederfinden, aber das ist nur ein matter Widerhall des Reichtums und der Komplexität der Prozesse zwischen den Menschen. Wie die Hefe in einem Teig lassen sie den Allmendekuchen wachsen. Miteinander etwas Praktisches tun, miteinander palavern – offenbar kommt es genau darauf an, und nicht auf ausgeklügelte Moderations- oder Gesprächstechniken. Essenziell scheint jedoch der Kern von Menschen zu sein, der mit viel Geduld den Allmendegeist hütet – und ihn ständig neu überliefert. Irgendwann wird er auch beim Nachbarn, der nur auf der Bank liegen will, ankommen. »Ich habe hier ein Gästebuch. Noch hat es keinen Platz im Garten gefunden, deshalb trage ich es mit mir herum. Wollt ihr etwas hineinschreiben?«, fragt uns nach der Gesprächsrunde Gerda, die schon seit Jahrzehnten in der Bewegung für interkulturelle Gärten aktiv ist. Ich schreibe im Schein einer Taschenlampe ein paar Sätze und bin berührt von der mütterlichen Qualität, die von der Art ausgeht, in der sie das Buch behütet. Auch Gerda scheint viel Erfahrung damit zu haben, dass die Dinge Zeit brauchen. Irgendwann wird sich der Platz für das Buch schon finden. Es fühlt sich so an, als sei hier ein Ort für einen langen Lebensbogen geschaffen worden. Dabei könnte nächstes Jahr schon alles vorbei sein. »Wenn eine essenzielle Bedrohung in Sicht ist, musst du dich engagieren«, wiederholt Frauke am Schluss des Gesprächs. »Das ist eine Chance, alle im Garten einzuladen und in intensiven Austausch darüber zu treten, warum wir hierbleiben wollen und wie wir das erreichen. Wir werden noch viel mehr darüber reden.« •