Nach einer langen Zeit mit Depressionen hat Matthias Hanke eine neue Lebensweise für sich entdeckt.von Annica Müllenberg, erschienen in Ausgabe #22/2013
Es fing an mit Schweißausbrüchen, Herzrasen und panischer Angst: Matthias Hanke aus Bremen, sonst ein Energiebündel und mit beiden Beinen fest auf der Erde, schwankte plötzlich, hatte das Gefühl, sein Leben nicht mehr in der Hand zu haben. Er war Anfang 20, hatte vier Tage mit Freunden gefeiert, und dann kam dieser Spaziergang über den Friedhof. Es war nur eine Schnapsidee gewesen, nachts an den Gräbern vorbeizulaufen, doch für Matthias wurde es ein Horrortrip. Er blieb stehen, und seine Sinne schienen sich aufzulösen. Eine große Leere machte sich in ihm breit, beherrschte ihn: »Ich konnte nicht mehr gehen und nicht mehr sprechen. Meine Freunde mussten mich nach Hause bringen. Ich hatte nichts mehr unter Kontrolle.« Matthias leidet seit knapp 30 Jahren an Depressionen. Sein Leben ist geprägt von Zeiten, in denen es ihm gutgeht, aber auch von vielen Krisen. »Die Ursprünge liegen vermutlich in meiner Kindheit. Mit 18 Jahren kam ich mir unfertig vor«, erklärt der 49-Jährige. »In meiner Familie gab es viel Gewalt.« Schon im Teenageralter tröstete er sich mit Alkohol und Zigaretten. Gegen das schwarze Loch, das ihn an besagtem Abend umhüllte, gab es jedoch kein Mittel. Matthias suchte Hilfe in einer psychologischen Beratungsstelle. Vier Wochen lang besuchte er Einzelgespräche, dann folgte eine Gruppentherapie, in deren Verlauf er Situationen seiner Kindheit in Rollenspielen noch einmal erlebte. Geholfen habe das anfangs. »Ich konnte wieder planen und war Herr meiner selbst«, blickt Matthias zurück. Er wechselte den Job und orientierte sich neu, steckte sich hohe Ziele. Sie waren zu hoch: »Ich konnte meine Grenzen schwer einschätzen, forderte von mir immer 200 Prozent und setzte mich selbst unter Druck.« Die Konsequenz war komplette Überforderung. In seiner Position als Betriebsleiter wuchsen ihm die Aufgaben über den Kopf. Matthias konnte nicht mehr abschalten, aß nicht mehr ausreichend und vernachlässigte seine Körperpflege. Völlig übernächtigt schleppte er sich zur Arbeit, und dann ummantelte ihn wieder die schwarze Leere. Er, der sonst alles anpackte, verlor erneut die Macht über seinen Körper. Die Ärzte diagnostizierten einen klassischen Burnout. So und ähnlich erging es Matthias noch mehrfach. Dennoch rappelte er sich immer wieder auf, schaffte den Sprung zurück ins Leben. Bewegung, Naturerlebnisse und auch Antidepressiva halfen ihm dabei. Doch die Tücke der Krankheit offenbarte sich immer häufiger, und manische Phasen wechselten sich mit Depressionen ab. Die schlimmste Zeit, die er bisher hinter sich gebracht hat, liegt nur wenige Jahre zurück. Damals sei er eine Qual für Familie und Freunde gewesen, ohne es zu merken. »Ich habe sie nachts angerufen, randaliert und unglaublich viel gekauft.« Im Lauf dieser Phase bekamen selbst seine Eltern Angst vor ihm. Seine Frau hielt es nicht mehr aus und reichte die Scheidung ein. Geld- und Wohnungsnot trieben ihn schließlich in die Klinik – noch immer überzeugt davon, dass der Rest der Welt erkrankt sei, nur nicht er. Doch bald musste Matthias einsehen, dass Hilfe nötig war. Es war sein bisher tiefster Fall, begleitet von Einsamkeit und Lustlosigkeit. 80 Prozent seines Langzeitgedächtnisses erloschen damals. »Ich habe aber meinen Glauben neu entdeckt und dadurch die Kraft gefunden, ein neues Leben zu beginnen«, sagt der Katholik. Im Mai 2012 hörte er von der »Mood-Tour«, die zum Ziel hatte, Stimmung (englisch »mood«) für einen offenen Umgang mit Depressionen zu machen. Menschen mit und ohne Depressionserfahrung radelten insgesamt 4500 Kilometer auf Tandems durch Deutschland, zelteten in der Natur und suchten an jeder Station das Gespräch mit den Menschen vor Ort. »Ich träumte davon, eine Pilgertour zu machen, traute mich aber nicht. Also war die begleitete Mood-Tour eine gute Gelegenheit.« Matthias meldete sich spontan an. Die Fahrt sollte ein großes Abenteuer werden, von dem gewonnenen Mut zehrt er noch immer. Als Ehrenamtlicher begleitet Matthias, der inzwischen Frührentner ist, einen Rollstuhlfahrer, leitet eine Rad- und Wandergruppe im Mehrgenerationenhaus und hilft bei der Betreuung geistig und körperlich behinderter Menschen. »Durch die Arbeit mit diesen Menschen habe ich eine andere Sichtweise auf mein Leben erfahren. Obwohl sie sehr krank sind, haben sie so viel Lebensmut. Ich fühle mich von ihnen gebraucht und weiß, dass ich gute Arbeit leiste«, lächelt Matthias, für den Pflichtbewusstsein und Struktur im Leben immer eine übergeordnete Rolle spielten. Nun bestimmen andere Ideale sein Leben. Morgens schenkt er sich zwei Stunden völlige Ruhe. Weder ein plärrendes Radio noch ein kreischender CD-Player stören diese Atmosphäre. Energie zieht er aus Entspannungsmusik und Naturklängen. Das wöchentliche Heilsingen bedeutet ihm viel. Halt geben auch Gespräche in der Selbsthilfegruppe. Matthias kann sogar der fortschreitenden Vergesslichkeit einen Vorteil abgewinnen. »Man hat nicht mehr soviel Schrott im Kopf«, lacht er. Neue Ziele stehen ebenfalls an: An der nächsten Mood-Tour, die 2014 stattfinden soll, möchte der passionierte Radfahrer wieder teilnehmen.•