Genossenschaften als Teil einer solidarischen Wirtschaft.von Elisabeth Voß, erschienen in Ausgabe #3/2010
Bei ihrer Entstehung vor über 160 Jahren galten Genossenschaften als »Kinder der Not«. Sie organisierten für ihre Mitglieder das Lebensnotwendige, das am Markt entweder überhaupt nicht, in schlechter Qualität oder nicht zu akzeptablen Preisen erhältlich war. Denn mit der industriellen Revolution hatte sich der kapitalistische Warenmarkt herausgebildet und das Leben von Grund auf verändert. Während die Menschen auf dem Land ihre Nahrungsmittel selbst herstellen konnten, entstand mit der städtischen Arbeiterklasse eine wachsende gesellschaftliche Gruppe von Menschen, die darauf angewiesen waren, ihre Lebensmittel am Markt zu erwerben. Wo dieser Markt versagte, wurde wirtschaftliche Selbsthilfe lebensnotwendig.
Die genossenschaftliche Geschichtsschreibung verzeichnet als erste Konsumgenossenschaft die »redlichen Pioniere von Rochdale« in Großbritannien. Es waren Weberinnen und Weber, denen in den Krämerläden nur Brot angeboten wurde, das mit Gips versetzt war. Der Kaffee war mit Sand gestreckt, auch das Gewicht der verkauften Waren stimmte häufig nicht. Aus dieser Notsituation heraus gründeten 28 Weberinnen und Weber im Jahr 1844 eine Genossenschaft. In ihrem eigenen Laden verkauften sie an die Mitglieder korrekt abgewogene Lebensmittel in guter Qualität. In den folgenden Jahren entstanden auch in Deutschland genossenschaftliche Zusammenschlüsse. Arbeiter und Arbeiterinnen, Handwerker und Handwerkerinnen gründeten 1850 im sächsischen Eilenburg eine erste Konsumgenossenschaft, die »Lebensmittel-Association«, die sehr schnell viele hundert Mitglieder gewinnen konnte. Die Händler und Händlerinnen leisteten erbitterten Widerstand gegen die genossenschaftliche Konkurrenz und boykottierten Hersteller und Großhändler, die auch Konsumvereine belieferten. Die Genossenschaften wehrten sich wiederum, indem sie 1894 eine Großeinkaufsgenossenschaft gründeten.
Geschichte und Renaissance einer Bewegung Der genossenschaftliche Grundgedanke »gemeinsam mehr erreichen« wurde überall dort umgesetzt, wo Einzelpersonen oder kleine Unternehmen auf sich allein gestellt am kapitalistischen Markt zu unterliegen drohten. Mit Wohnungsbaugenossenschaften schufen sich Arbeiterinnen und Arbeiter menschenwürdigen Wohnraum, Handwerkerinnen und Handwerker gründeten Einkaufsgenossenschaften zum Erwerb besserer und günstigerer Rohstoffe, Landwirtinnen und Landwirte schlossen sich zur Weiterverarbeitung und zum gemeinsamen Verkauf ihrer Produkte zusammen.
Neben der SPD und den Gewerkschaften entwickelten sich Genossenschaften Anfang des 20. Jahrhunderts zur »Dritten Säule der Arbeiterbewegung«. Nach weitgehender Zerschlagung oder Gleichschaltung im Faschismus entstanden nach dem Krieg in Ost- und Westdeutschland jeweils eigene Genossenschaftsformen. Im Westen erlebte der Genossenschaftsgedanke nach 1968 eine Renaissance in der Alternativbewegung. Produktion und Konsum sollten ohne Ausbeutung, ohne Hierarchien und ohne Entfremdung gestaltet werden. In den entstehenden selbstverwalteten Betrieben und Projekten spielte die Art der Zusammenarbeit und Entscheidungsfindung oft eine wichtigere Rolle als das wirtschaftliche Ergebnis. Die Produkte der Arbeit sollten für die Gesellschaft nützlich sein, Herstellung und Gebrauch sollten die Umwelt nicht belasten und den Menschen in der sogenannten Dritten Welt keinen Schaden zufügen.
Den Genossenschaftsverbänden waren diese alternativen Unternehmen allerdings fremd. Nicht selten wurden ihnen Steine in der Weg gelegt, so dass sie auf andere Rechtsformen auswichen, denn die Mitgliedschaft in einem genossenschaftlichen Prüfungsverband ist verpflichtend. Heute sind die Verbände alternativen und politisch motivierten Unternehmungen gegenüber viel offener.
Demokratie und Selbstverwaltung Was ist nun das Besondere an Genossenschaften? Zunächst ist eine Genossenschaft eine demokratische Unternehmensform: Jedes Mitglied hat eine Stimme, unabhängig von der Höhe der eingebrachten finanziellen Einlage. Während die basisdemokratische Rechtsform des Vereins – egal ob gemeinnützig oder nicht – ideellen Zwecken dient, geht es bei Genossenschaften um wirtschaftliche Selbsthilfe in Selbstverwaltung.
Jedoch sind viele der alten Großgenossenschaften, zum Beispiel Volksbanken oder Wohnungsbaugenossenschaften, heute bürokratisch und zentralistisch geworden. Von Selbstverwaltung ist nicht mehr viel zu spüren. Die Mitglieder an der Basis resignieren und ziehen sich aus dem genossenschaftlichen Leben zurück. Damit entsteht ein Teufelskreis, denn passive Mitglieder ermöglichen Vorstand und Aufsichtsrat, unangefochten ihre Interessen umzusetzen.
Die Erfahrungen in kleineren, selbstverwalteten Betrieben zeigen, dass die gleichberechtigte Zusammenarbeit in vordergründig hierarchiefreien Strukturen auch Probleme mit sich bringt. Ohne formalisierte Leitungsstrukturen entstehen leicht informelle Hierarchien, die umso mehr Macht entfalten, je weniger greifbar sie sind. Fehlende formale Regeln führen häufig dazu, dass sich diejenigen mit den stärksten Ellenbogen durchsetzen. Und auch die schönsten Regeln nützen nichts, wenn es keine legitimierte Instanz gibt, die verantwortlich dafür ist, die Einhaltung dieser Regeln zu überwachen und Regelverstöße gegebenenfalls zu sanktionieren.
Unabhängig von der Organisationsstruktur und Rechtsform gelingen Demokratie und Selbstverwaltung nur dort, wo eine ausreichende Anzahl an Menschen aktiv ihre eigenen Belange vertritt.
Gemeinsamer Nutzen statt Gewinn Der Zweck einer Genossenschaft ist die Förderung der wirtschaftlichen, sozialen oder kulturellen Belange ihrer Mitglieder. Das ist im Genossenschaftsgesetz festgelegt. Genossenschaftliches Wirtschaften ist darauf ausgerichtet, konkrete menschliche Bedürfnisse zu befriedigen. Auch Genossenschaften müssen ihre Kosten decken und Gewinne für Rücklagen und Investitionen erwirtschaften. Aber diese Gewinnerzielung ist nicht das Motiv und der Antrieb ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit. Diese Orientierung auf den Mitgliedernutzen statt auf den Gewinn unterscheidet Genossenschaften grundlegend von anderen Unternehmensformen.
Aber welcher konkrete Nutzen lässt sich gemeinsam erzielen? Die historischen Weber waren dabei, sich als Klasse zu formieren, und standen vor vergleichsweise einfachen Problemstellungen. In der heutigen komplexen Welt gibt es diese Eindeutigkeiten kaum noch. Genossenschaftliche Unternehmensgründungen erfordern zuerst eine Klarheit darüber, was ich gemeinsam mit anderen Menschen organisieren möchte. Denn eine Genossenschaft ergibt nur Sinn, wenn sie auf einem realen Bedarf basiert, wenn ich etwas brauche, das ich nur mit anderen gemeinsam verwirklichen kann. Beispiele dafür sind die in großer Zahl entstehenden Wohnprojekte und Baugemeinschaften. Ihnen liegt meistens nicht die Wohnungsnot zugrunde, sondern der Wunsch nach gemeinschaftlichem Wohnen. Oder ich möchte etwas anbieten, das ich richtig gut kann, aber es gelingt mir nicht, am Markt zu landen. Häufig haben Menschen, die in ihrem Fachgebiet hervorragende Arbeit leisten, kein Interesse, sich mit Finanzierung oder Marketing zu befassen. Dem trägt der Trend zur Bürogemeinschaft mit gemeinsamem Service Rechnung ebenso wie der Zusammenschluss in einer Unternehmenskooperation. Auch hier bietet sich die Rechtsform der Genossenschaft an, aber es sind auch andere Rechtsformen denkbar.
Ein weiterer Ausgangspunkt für eine Genossenschaftsgründung kann die Frage sein: In welchem Bereich meines privaten oder geschäftlichen Lebens komme ich an Grenzen, die ich nur gemeinsam mit anderen überwinden kann? Oder: Welche Grundwerte oder politischen Überzeugungen möchte ich mit wirtschaftlichen Mitteln umsetzen? Beispiele sind Energiegenossenschaften, Freie Schulen oder Faire Handelsunternehmen.
Hier entstehen Schnittmengen zum Social Entrepreneurship, wie es von Nobelpreisträger Muhammad Yunus mit Mikrokrediten oder von Günter Faltin mit der von ihm begründeten Teekampagne praktiziert wird. Bei diesen Sozialunternehmen haben wir es meist mit einzelnen starken Gründungspersönlichkeiten zu tun, nicht mit Kollektivgründungen. Jedoch stehen auch am Beginn genossenschaftlicher Unternehmungen häufig starke Persönlichkeiten, denn die Fähigkeit, Selbsthilfe und Kooperation in einer Gruppe zu initiieren, haben nur wenige.
Für eine Genossenschaftsgründung sind Fachwissen und soziale Kompetenz erforderlich – beides ist wesentlich abhängig vom Zugang zu Ressourcen, insbesondere zum Wissen über Unternehmensgründungen und zu Finanzierungsquellen. Neben dem Kapital für Investitionen spielt auch das soziale Kapital eine wichtige Rolle, also all die Beziehungen zu potentiellen Mitgliedern und zum unterstützenden Umfeld einer Gründungsinitiative. Im Vorfeld jeder gemeinsamen wirtschaftlichen Tätigkeit muss geklärt werden: Wer sind die Beteiligten, was wollen sie miteinander wirtschaftlich tun, auf welchem Markt bewegen sie sich, und wer sind die Kundinnen und Kunden, welche Investitionen sind erforderlich, und wie sollen sie finanziert werden? Daraus ergibt sich die Entscheidung, mit welcher Rechtsform sich das gemeinsame Vorhaben am besten realisieren lässt. Bei dieser Abwägung sollte die Genossenschaft nicht vergessen werden, auch wenn sie nicht in jedem Fall die richtige Form ist. Zu ihren Vorteilen gehört neben der basisdemokratischen Gestaltbarkeit, dass der Ein- und Ausstieg von Mitgliedern relativ problemlos und ohne notarielle Beurkundung möglich ist. Eine Besonderheit ist auch, dass ein eventueller Gewinn entsprechend dem Umsatz, den ein Mitglied mit der Genossenschaft getätigt hat, steuerfrei als Rückvergütung ausgezahlt werden kann.
Die unbekannte Rechtsform Liegen Genossenschaften im Trend? Bei der Anmeldung eines Gewerbes für eine Genossenschaft kann es immer noch vorkommen, dass es ganz erstaunt heißt: »Eine Genossenschaft? Was ist denn das? So etwas hatten wir hier ja noch nie.« Und beim Kreditantrag in der Bank wird schon mal gefragt: »Warum können Sie denn keine richtige Firma gründen?« Vielleicht ändert sich das in zwei Jahren, denn 2012 wurde von den Vereinten Nationen zum Internationalen Jahr der Genossenschaften erklärt. Sie würdigen damit deren Bedeutung für die Reduzierung von Armut sowie Schaffung von Arbeitsplätzen und für soziale Integration.
Sind Genossenschaften, ebenso wie bürgerschaftliches Engagement oder karitatives Ehrenamt, ein Teil des Kitts, der den Kapitalismus noch eine Weile zusammenhält? Beinhalten sie vielleicht auch ein Transformationspotenzial, so dass sie nach und nach die profitorientierte Wirtschaftsweise ersetzen könnten? In jedem Fall kann genossenschaftliches Wirtschaften die konkreten Lebensbedingungen von Menschen verbessern, und das ist angesichts der heutigen Problemlagen schon sehr viel. Als Teil einer Solidarischen Ökonomie, wie sie heute weltweit entsteht, tragen Genossenschaften zum Erfahrungsschatz bei, der für eine bessere Welt unabdingbar gebraucht wird. Denn das Neue entsteht nicht aus dem Nichts, sondern wächst bereits im Alten heran. In diesem Sinne ist jede Keimform eines anderen Wirtschaftens wertvoll und notwendig.
Elisabeth Voß (55) lebt in Berlin und arbeitet als Betriebswirtin und Publizistin zu Themen rund um Solidarische Ökonomien, Selbstorganisation und Kommunikation. Sie ist seit 20 Jahren Redaktionsmitglied der »Contraste – Monatszeitung für Selbstorganisation«. www.contraste.org
Beispiele für erfolgreiche Genossenschaftsgründungen
Landwege eG
Nach der Atomreaktorkatastrophe in Tschernobyl 1986 entstanden viele Bürgerinitiativen, die sich unter anderem mit strahlungsarmer Ernährung befassten. In Lübeck gründete sich um Bäuerinnen und Bauern, die auf biologischen Landbau umstellen wollten, die Erzeuger-Verbraucher-Gemeinschaft (EVG) Landwege. Aus dem anfangs ehrenamtlich betriebenen Projekt entwickelte sich mit der Eröffnung mehrerer Läden und Bio-Supermärkte einer der größten Naturkost-Anbieter der Region. Der Verein wurde 1999 in eine Genossenschaft umgewandelt. → www.landwege.de
Frauen Energiegemeinschaft Windfang eG
Einen aktiven Beitrag zum Atomausstieg und zur Senkung der CO2-Emissionen leistet die Hamburger Frauen Energiegemeinschaft Windfang eG. In dieser Genossenschaft können nur Frauen und reine Frauenbetriebe die »Mitfrauschaft« erwerben. Neben der energiepolitischen Motivation ging es bei der Gründung 1994 auch darum, dem patriarchalen Herangehen an Technik eine andere Sichtweise und Kreativität entgegenzusetzen. Die erste Windkraftanlage im schleswig-holsteinischen Dithmarschen trägt – wie diese Zeitschrift – den Namen Oya nach der Yoruba-Göttin der Stürme und Schützerin der Frauen. → www.windfang.net
taz eG
Als Reaktion auf den Deutschen Herbst 1977 fand im Jahr darauf in Berlin der legendäre Tunix-Kongress statt. Spontis und Alternative berieten dort unter anderem über die Gründung einer linksradikalen Tageszeitung. Kurz darauf wurde die alternative Tageszeitung »taz« gegründet. Mit Gründung der Genossenschaft 1992 wurde die Leserschaft zu Miteigentümerinnen und -eigentümern, die mit ihren Anteilen ihrer Lieblingszeitung das erforderliche Eigenkapital stellten. → www.taz.de
Stadtteilgenossenschaft Wedding eG
Diese Genossenschaft wurde im Jahr 2000 von 37 Anwohnerinnen, Anwohnern und gemeinnützigen Organisationen gegründet, um der Dauerarbeitslosigkeit und dem Verfall des Kiezes etwas entgegenzusetzen. Heute hat sie fast 100 Mitglieder und sechs Beschäftigte in ihrem Malerbetrieb. Zwischen den Mitgliedern entstand ein Wirtschaftsnetzwerk für Baugewerbe, Gebäudemanagement, unternehmensbezogene Dienstleistungen und Stadtteilentwicklung. Die Genossenschaft vermittelt Aufträge, organisiert Bietergemeinschaften und koordiniert das Marketing. Im Kiez wurden zwei Litfaßsäulen mit Informatio-nen zum lokalen Gewerbe bestückt. Sie verfolgt auch soziale Ziele und unterstützt das Gemeinwesenzentrum Sprengelhaus. → www.stadtteilgenossenschaft-wedding.de