Titelthema

Die hohe Kunst des Pedalierens

Die menschliche Muskelkraft wird unterschätzt. Es ist Zeit, den heutigen Stand der Pedalkraft-Evolution zu untersuchen.
von Malte Cegiolka, erschienen in Ausgabe #24/2014
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Technik impliziert heute ein komplexes System aus Kabeln, Platinen, Mikrochips und Motoren. Das Ganze soll so verpackt sein, dass die Bedienung so intuitiv und bequem wie möglich ist. In dieser Art von Technik drückt sich für den modernen Menschen der »Fortschritt« aus. Je weniger Anstrengung, desto besser. Doch wer sich mit all den ökologischen und sozialen Abgründen hinter solchen Geräten auseinandersetzt, definiert Fortschritt hoffentlich bald anders: Je mehr der Mensch direkt übernehmen kann, desto besser!
Während zu Hause die Waschmaschine vor sich hin rödelt, überbrückt man die Zeit im Fitness-Studio beim Strampeln auf dem Hometrainer. Energieverschwendung, sage ich. Warum nicht dieselbe Muskelkraft zum Betreiben der Waschmaschine einsetzen? Doch diese Ressource scheint heute in den Industrieländern verpönt oder vergessen zu sein. Dass sich innerhalb eines Jahrhunderts die handbewirtschaftete Küche in einen Sammelplatz für Elektronik verwandelte, ist unter Gesichtspunkten der Nachhaltigkeit bedenklich. Den unverkennbaren Gewinn an Lebensqualität für die Haushaltenden will aber wohl niemand mehr missen. Beim Grübeln über diese Entwicklungen stellt sich mir die Frage, ob sich nicht einige Geräte, die in jedem Haushalt vorkommen, durch stromlose Varianten ersetzen ließen, ohne dass wir wieder zum Waschbrett zurückkehren müssten. Könnte sich Muskelkraft nicht so clever und effizent einsetzen lassen, dass auch Hausarbeit, die viel Kraft braucht, nicht zur Plackerei wird?
Wer über eine Regionalisierung der Wirtschaftskreisläufe nachdenkt, braucht simple, überall verfügbare Formen von Technik. Auch anstrengende Tätigkeiten, wie das Sägen von Holz, sollten einfache Geräte ohne großen Aufwand übernehmen können.

Brachliegendes Entwicklungspotenzial
Ein Blick in die Geschichte zeigt mir, zu welch kreativen Übertragungsmöglichkeiten von Körperkraft schon geforscht wurde. Bevor es Elektro- und Verbrennungs­motoren gab, wurde ein erstaunliches Sammelsurium an muskelbetriebenen Erfindungen erdacht. Die meisten kommen ohne spezielle, industriell gefertigte Materialien aus, so dass jeder mit ein wenig Grundverständnis für Mechanik sie nachbauen und zu seinen Zwecken weiterentwickeln könnte. Ihre Grundlage ist meist die gleichförmige Drehbewegung. In einer Evolution über Handkurbeln, Treträder und Trittbrettantriebe erwies sich der moderne Fahrrad-Pedalantrieb als optimale Methode zur Umwandlung von Muskelkraft in mechanische Energie. Eine erwachsene Person generiert auf diese Weise auch über einen längeren Zeitraum eine effektive Leistung von 100 Watt. Damit könnte sie einen Laptop mit Strom versorgen. Kurzfristig kann sogar eine Leistung von über 300 Watt erzeugt werden. Als ich mich auf die Suche nach der Verwendung von Pedalantrieben jenseits des Fahrrads mache, finde ich erschreckend wenige Beispiele. Sollte sich in den letzten 100 Jahren nichts mehr auf diesem Feld getan haben?
Genau diese Frage haben sich auch schon andere gestellt – das merke ich, als ich auf ein Taschenbuch aus dem Jahr 1988 stoße. David Gordon Wilson und andere Autoren des Buchs »Pedalkraft – Menschen, Muskeln und Maschinen« beklagen, dass aufgrund der Dominanz automatisch betriebener Maschinen die Pedaltechnik auf dem Stand des frühen 20. Jahrhunderts stehengeblieben sei. Die US-amerikanischen Autoren wollten ihr als Tüftlergruppe neues Leben einhauchen – ein weitgehend erfolgloses Vorhaben, wie meine Recherche zunächst vermuten ließ; doch ein paar Projekte, die Pedalkraft hochhalten, lassen sich finden. Interessanterweise sind es Gemeinschaftsprojekte, in denen meist aus wiederverwertetem Material zweckmäßige Einzelstücke konstruiert werden. Die Leitbilder konvivialer, also lebensgerechter Technik scheinen sich in der effektiven Pedalmechanik zu manifestieren – vielleicht gerade deshalb, weil sich die Industrie und der globale Markt aus dieser Branche zurückgezogen haben.

Maya-Mühlen und Pedal-Chocolatiers
Die Organisation »Maya Pedal« in Guatemala dürfte Wilsons Herz erfreuen. In Kooperation mit Partnerorganisationen aus Nordamerika wurde hier eine echte »Zukunftsschmiede« aufgebaut. Aus Spenden in Form schrottreifer Räder aus den USA und Kanada entwickeln Einheimische mit Freiwilligen aus unterschiedlichen Ländern alle nur denkbaren nützlichen Gerätschaften für den lokalen Gebrauch. Die Bauanleitungen sind im Internet auf der Seite von Maya Pedal einsehbar. Pedalbetriebene Maisdrescher, Mühlen, Mixer, Waschmaschinen oder Pumpen sind in Guatemala, wo vielerorts kein Stromanschluss vorhanden ist, von hohem Nutzen. Die beliebteste »Bicimáquina« ist ein Fahrrad, das wahlweise Kornähren drischt oder Getreide mahlt. Die Pedalkraft wird hier von einer Schwungscheibe aus einem mit Zement aufgefüllten Speichenrad unterstützt.
In wohlhabenden Ländern wie Deutschland ist zumindest der Bau von Lastenrädern inzwischen recht weit verbreitet. Die Nutzung dieser Gefährte ist häufig ein sozialer Prozess, da sie gemeinschaftlich für eine größere Gruppe von Menschen gebaut werden. Sie haben Symbolcharakter für eine neue Generation, die sich mit alternativen Formen von Mobilität auseinandersetzt – so auch bei den »ChocoSol Traders« in Toronto. Für die kleine Schokoladenmanufaktur, die aus Fairtrade-Kakao handgemachte Schokolade herstellt, ist die Auslieferung mit ihrem »LongJohn«-Lastenrad ein Ausdruck ihrer Kreativität und Freiheit. Auf dem Markt verwandeln die Chocolatiers ihr Transportmittel in einen Stand mit pedalbetriebenem Mixer. Die Aufmerksamkeit der Marktbesucher ist ihnen gewiss, wenn sie damit eine raffinierte Trinkschokolade herstellen. Wie langweilig ist dagegen ein Kakaoautomat! Zudem würde er einen Stromanschluss am Stand erfordern. Auch das Mahlen der Kakaobohnen geschieht per Fußkurbel mit einer in Eigenregie entwickelten, pedalbetriebenen Kakaomühle. Da das Ausfahren der Ware in einem Radius von 20 Kilometern, dem Einzugsbereich von ChocoSol, mit reiner Muskelkraft doch ein ziemlicher Knochenjob wäre, hat das Fahrrad eine elektrische Unterstützung, verrät mir Mathieu McFadden, Mitgründer des Unternehmens. Der Akku kann an einer Solar-Ladestation aufgeladen werden.

Wer baut ein Energy Cycle?
Im Haushalt kommt der Pedalantrieb bislang kaum zum Einsatz. In wenigen Gemeinschaften und Privathaushalten werden zumindest Waschmaschinen derartig betrieben. Aber warum nicht auch Küchenmixer oder eine Teigknetmaschine – vor allem dann, wenn eine größere Menge Menschen zu versorgen ist, wie in einer kleinen Gastronomie? Wahrscheinlich, weil niemand sechs Fahrräder in seinem Haus herumstehen haben möchte. Da erinnere ich mich der alten Werkstätten, die mit Transmissionsantrieb arbeiteten, also einem Zentralantrieb mit langer Welle, deren Rotation über Keilriemen eine Reihe von Maschinen betrieb. Mir schießt eine Lösung in den Kopf: ein Küchenelement mit zentralem Pedalantrieb, auf dem die verschiedensten Aufsätze zu unterschiedlichen Zwecken leichtgängig auf- und abmontiert werden können; oder ein Werkstattelement für Säge, Schleifer und Bohrer …
In Wilsons Buch finde ich Entwürfe und Prototypen, die diese Herausforderung unter anderem in Form eines »Energy Cycle« meistern. Dass dieses Allzweck-Pedalgerät nie populär und serienreif wurde, kann ich mir nur mit dem etwas ungestümen Design und der Erfindung im falschen Zeitalter – nämlich vor der Verbreitung des Internets – erklären. Es wird Zeit, solche genialen technischen Lösungen wieder auszugraben! Vielleicht findet sich ja in der Leserschaft von Oya jemand, die oder der Fertigkeiten und Kapazitäten mitbringt und Lust hat, sich einem nutzer- und umweltfreundlichen Haushaltsantrieb zu widmen? •


Malte Cegiolka (21) studiert nach einem Freiwilligenjahr in Argentinien an der Fachhochschule Eberswalde Naturschutz. 

Ideen für Pioniere der Tretmechanik
www.mayapedal.org
www.chocosoltraders.com
Literatur:
James C. McCullagh (Hrsg.): Pedalkraft. Menschen, Muskeln und Maschinen. Rowohlt Taschenbuch, 1988

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