Für die Dorfgemeinschaft in Langenreichenbach ist Eigeninitiative Normalität.
von Johannes Heimrath, erschienen in Ausgabe #25/2014
… und zwar so sehr, dass es mich viel Fantasie gekostet hat, diese Normalität in Gold zu verwandeln: Das Sächsische Landesamt für Umwelt, Landwirtschaft und Geologie hatte mir die Unterstützung Langenreichenbachs bei seiner Bewerbung zum Europäischen Dorfpreis ans Herz gelegt. Und anders als auf der Herzebene, das war schnell klar, konnte und kann man diesen Flecken seitab aller touristischen, ökoenergietechnischen, gesellschaftsinnovativen und sonstwie funkelnden Highlights nicht verstehen, geschweige denn nach außen kommunizieren. Ein mittelalterlicher Brauch, der in Langenreichenbach zu neuem Leben erweckt wurde, ist Beispiel für das Gemeinschaftsverständnis der Einwohnerschaft: Beim »Nachbarbier« laden jeweils vier junge Paare gemeinsam ihre Nachbarn zu einem Abend mit Freibier und Tanz ein. Wer das Nachbarbier einmal gegeben hat, erwirbt das lebenslange Recht, kostenlos an den zukünftigen Nachbarbieren teilzunehmen. So kommen Jung und Alt, frisch Zugezogene und Alteingesessene zum Feiern zusammen – ein eifrig gepflegtes Ritual, das den Nachwuchs mit Spaß und Lebenslust in die Dorfgemeinschaft integriert. Überhaupt – Feiern: Das Dorf erstreckt sich über fast vier Kilometer entlang dem kleinen Heidelbach. Jeder Straßenabschnitt feiert sein eigenes Straßenfest, und so kommen die Langenreichenbacherinnen und Langenreichenbacher zusammen mit den großen, allgemeinen Anlässen – Fasching, Maifeuer, Musikfest, Fischfest etc. – auf wenigstens 24 Feste im Jahr! Dabei wird immer wieder ein neues Fest erfunden, spontan und improvisiert, und wenn es toll war, wird eine Tradition daraus. So fehlte dem in der Leipziger Tieflandsbucht zwischen Dübener und Dahlener Heide gelegenen Dorf eine Gelegenheit zum Schlittenfahren. Als beim Straßenbau viel Aushub anfiel, ließ Ortsvorsteher Detlef Bölke das ganze Material zu einem Rodelberg aufschichten. Spontan erklärte die Feuerwehr das erste Schneewochenende zum Rodelfest. Schnell war für Musik und Glühwein gesorgt, und ab ging die Partie für Groß und Klein! Oder der Weihnachtsmarkt: Am letzten Novemberwochenende im Jahr 2002 wurde die Idee geboren, eine Woche später war der erste Markt Wirklichkeit. Seitdem ist der Weihnachtsmarkt guter Brauch. Unter der Obhut des Ortschaftsrats beteiligen sich alle Vereine daran. Die Schalmeienmusikanten spielen zum Festgottesdienst für die Renovierung der barocken Kirche. Detlef Bölke ist stolz: »Über 12 000 Euro Kollekte kamen bisher zusammen. Und dann gehen die vielen Leute aus der Kirche und sind gleich auf dem Weihnachtsmarkt. Da singen wir gemeinsam Weihnachtslieder, alle haben Spaß, und die Vereine kriegen auch noch ein bisschen Geld in ihre Kassen.« – Ein soziales Kraftwerk braucht bodenständige Intelligenz. Und Initiative! Von rund 720 Einwohnern sind 460 Personen in den 10 Vereinen des Dorfs aktiv. Ohne eigenen Finanzhaushalt – der Ort gehört heute zur Gemeinde Mockrehna – kann in so einem »Ortsteil« eigentlich nichts vorangehen. Doch wenn der wegen seines Naturlehrkonzepts mit einem 1. Preis unter 2000 Mitbewerbern ausgezeichnete Kindergarten erweitert werden muss, dann schenken die Eltern die Einrichtung, leisten die ortsansässigen Betriebe ehrenamtliche Ausbauarbeit, nutzt man findig Materialalternativen. Hat die Kirchgemeinde kein Geld, um das Gotteshaus zu sanieren, wird am Freitagnachmittag vom örtlichen Baubetrieb ein Gerüst aufgestellt, und am Samstag stehen die Männer des Dorfs mit Hammer und Meißel auf den Brettern, die Frauen schaffen Brotzeit heran, und am Abend ist der Putz von den Kirchenmauern geschlagen – ein Grund, mit »Weihwasser« zu feiern. Auf diese Weise entstanden das Heim für die Schalmeienmusikanten, die das rote Marschrepertoire längst gegen rockige Poparrangements getauscht haben und bis nach Australien touren, das neue Feuerwehrhaus und das Ausbildungszentrum für die »Minis«, Deutschlands jüngste Feuerwehr. 4800 Arbeitsstunden wurden allein für letzteres von der Bürgerschaft geleistet, und 6500 Euro Schenkgeld kamen obendrein dazu.
Familiendorf mit Selbstbewusstsein Als ich seinerzeit »Schenkökonomie« an die Tafel schrieb, um den in Scharen gekommenen Einwohnern ihre »weichen« Werte bewusstzumachen, mit denen wir beim Wettbewerb punkten wollten, war diese Bezeichnung für ihre Praxis ein Fremdwort. »Transition« hätten sie noch weniger verstanden, und dass man Konflikte gedeihlich miteinander zu lösen hat, wenn das Ganze gedeihen soll – dafür brauchten sie keinen Kurs in gewaltfreier Kommunikation oder einen Wir-Prozess. Noch so eine Geschichte: Detlef, wie war das nochmal mit eurem Gemeinschaftssaal? »In dem Saal bin ich früher tanzen gegangen. 1975 wurde er geschlossen, dann war er Möbellager. Damals konnten wir unsere Dorffeste nur in der warmen Jahreszeit feiern. Ich habe gefragt, was wird am meisten vermisst? Da war klar: Wir brauchen einen Saal. Also hat die Gemeinde 1996 das Gebäude erworben. Wir haben Hunderte Berichte und Anträge geschrieben, bis endlich gebaut werden konnte. Dann wurden wir durch die Gebietsreform der Gemeinde Mockrehna zugeschlagen. Jetzt hieß es: ›Ihr braucht keinen solchen Saal!‹ Da haben wir es gemeinsam durchgekämpft. Im ganzen Jahr 2000 wurde gebaut. Die Fördermittel reichten hinten und vorne nicht, vieles mussten wir selber machen – und nach 25 Jahren war Wiedereröffnung. Es fehlte noch einiges, aber die Jugend hat trotzdem schon darin gefeiert. Das kulturelle Leben hat sich dadurch sehr belebt. Es wurden Vereine gegründet, die vorher nicht da waren. Der Raum spielt seine Betriebskosten ein, und alle sind glücklich.« Ich war zwei Jahre lang nicht mehr vor Ort und greife zum Telefon, um dieser Oya-Ausgabe einen – in meinen Augen – wichtigen Aspekt mitzugeben. Detlef, was hat sich bei euch getan? »Dieses Jahr machen wir erstmals keine Blumenzwiebel-Aktion. Die Baumärkte verscherbeln inzwischen den letzen Rest.« Schade, denn in den vergangenen Jahren war stets das ganze Dorf auf den Beinen und hatte Tausende Frühblüherzwiebeln, die die Baumärkte der Region nicht mehr losgeworden waren, in die öffentlichen Grünflächen gesteckt – und die gelungene Tat abends feierlich begossen. »Die Kläranlagenforschungsstelle hat ein großes Symposium durchgeführt. Aus der ganzen Welt waren Leute da. Die Landfrauen haben alle im Saal verpflegt, ich habe draußen gegrillt, auch veganes Zeug, den ganzen Firlefanz.« Herzliches Lachen. Das Leipziger Umweltforschungszentrum hat neben Langenreichenbach nur einen weiteren Abwasser-Pilotstandort – in Mexiko. Und ziehen noch junge Leute zu euch? »Ja, wir haben sechs Eigenheime im Bau; seit der Wende sind 38 Häuser entstanden, und wir werden ein neues Baugebiet ausweisen. Die jungen Familien fühlen sich bei uns wohl.« Das stimmt: In einer Zukunftswerkstatt habe ich seinerzeit die Jungen die Dorfgemeinschaft rühmen hören: Hier würde man offen aufgenommen und fühle sich schnell zu Hause. »Sieben Kinder werden im Jahr geboren. Auch ehemalige Langenreichenbacher kommen wieder.« Habt ihr inzwischen Gästewohnungen eingerichtet? »Bei unserer mangelnden Attraktivität für Tourismus? Nein, auch ein Gasthaus wollen wir nicht. Wir haben ja den großen Saal! Wenn dort ein Kneiper die Pacht hätte, stünde der Saal nicht mehr für die Vereine zur Verfügung. Die machen bei den Festen alles selbst. Da haben wir gesagt, wir brauchen keine Kneipe. Wir haben einen Fleischer, Bäcker, Lebensmittelladen. Und wir haben uns. Was brauchen wir mehr?« Das stimmt. Lebendige Gemeinschaft braucht offene Herzen, gegenseitiges Wohlwollen, die Bereitschaft, zu schenken, Tatkraft und Lust an gemeinsamer Freude. Wo sonst findet man das in dieser Fülle? Ganz ohne Ideologie? Ganz normal? •