Titelthema

Vielfalt schaffen

Maja Klement porträtiert Thomas Penndorf.von Maja Klement, erschienen in Ausgabe #25/2014
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© Thomas-Abe.de

Ländliche Ruhe umfängt mich, als ich an einem lauen Winterabend den alten Pfarrhof in Cobstädt betrete. Direkt nebenan erhebt sich die Kirche. Eine Katze springt zur Klinke hinauf, öffnet die Tür und huscht in die gut geheizte Gemeinschafts­küche. Bei einem warmen Essen, einer Tasse Tee und mit der Katze auf dem Schoß lausche ich der Geschichte von Thomas, von Cobstädt und von einer Region im Wandel.

»Ich bin ein richtiger Thüringer. Nicht weit von hier entfernt bin ich 1977 geboren«, erzählt Thomas. Einige Jahre später zieht die Familie nach Johanngeorgenstadt. Dort, im tiefsten Erzgebirge, leiten seine Eltern ein Erholungsheim der DDR. Sein oppositioneller Vater flieht 1987 in den Westen, kehrt aber einige Monat später, um einige Illusionen leichter, zurück in die Heimat. »Meine Eltern haben das ›real existierende‹ sozialistische System in Frage gestellt und wollten eigentlich auswandern. Mit dieser Kritik gingen sie immer ganz offen um. Mir ist schon früh die Haltung begegnet, Systeme nicht als gegeben hinzunehmen.« Mit der Wende 1989 wird Thomas politisch aktiv. Er will etwas verändern und schließt sich der linken Szene an. Die meisten seiner Schulfreunde sind jedoch anderer Gesinnung. »Das war nicht einfach, aber ich habe trotzdem immer versucht, ihnen tolerant gegenüberzutreten, mich intellektuell mit ihren Themen auseinanderzusetzen, statt sie mit Gewalt zu bekämpfen. Das tue ich auch heute noch. Es ist mir wichtig, Bewusstseinswandel anzuregen.«

Was wirklich zählt
Themen wie Kapitalismus, Umweltzerstörung und grenzen­loses Wachstum beschäftigen den jungen Thomas, wecken seine Kritik. Vor allem die Erkenntnis, dass uns globale Konzerne vom Saatgut abhängig machen, lässt seine Entscheidung reifen, das geplante Studium der Geisteswissenschaften gegen ein Gartenbaustudium einzutauschen. In einem Buch liest er zum ersten Mal etwas über Kommunen, von scheinbar kleinen politischen Systemen in unserem großen System. Er liest von Unabhängigkeit und Freiheit, vom Teilen, von gemeinsamer Ökonomie, vom Mitein­ander der Menschen – und erkennt sich darin wieder. »Ich wusste sofort, dass ich so leben wollte. Mir schien es der einzig wahre Weg zu sein, um positiven Wandel im Kleinen zu leben und diesen dann nach außen in die Gesellschaft zu tragen.« Auf seiner Suche nach Alternativen erwägt Thomas, Deutschland zu verlassen. Mit einem Freund reist er ins sozialistische Kuba. »Neben viel Lebensfreude erlebte ich dort auch Chaos und ein von Entmündigung und latentem Rassismus geprägtes System. So zu leben, konnte ich mir auch nicht vorstellen.« Aber einen Höhepunkt hat diese Reise: An einem Tag am Strand lernt er seine heutige Frau Elisandra kennen. »Das war ziemlich herausfordernd am Anfang, mit der Sprachbarriere und den Vorurteilen, die uns in Deutschland erwarteten. Aber es ist schön, zu sehen, wie die Liebe und die enorme Kraft, die in ihr steckt, das alles überwinden kann«, erzählt Thomas fröhlich. Zurück in Deutschland beginnt er sein Studium in Erfurt, das ihn schnell ernüchtert. »Eigentlich wollte ich lernen, wie man im Einklang mit der Natur wirtschaftet. Doch zu meiner Enttäuschung stand mehr der Kampf gegen Probleme statt Ursachenforschung im Fokus.« Zu den Vorlesungen geht Thomas nur noch sporadisch, ansonsten nutzt er die Zeit, um im Praktischen zu lernen. Dafür zieht es ihn wieder in die Welt. Er verbringt sein erstes Praxissemester erneut auf Kuba – natürlich auch, um Elisandra näher kennenzulernen. Dort unterstützt Thomas die Entstehung eines botanischen Gartens. Danach lebt er zeitweise auf La Palma, wo er beim Aufbau einer ökologischen Finca hilft, unter permakulturellen Gesichtspunkten Gärten anlegt und sich der Obstpflanzenveredelung widmet. Beim »Arche Noah e. V.« in Österreich lernt er Saatgutvermehrung und sammelt weitere Erfahrungen auf diversen Biohöfen. In Südfrankreich engagieren sich Thomas und Elisandra in einem Projekt, in dem sie erste Ideen für ein Leben in Gemeinschaft sammeln. »Mir wurde immer klarer, dass neben Wissen vor allem praktische Fähigkeiten und Bewusstsein das sind, was wirklich zählt. Wer mit seiner Quelle verbunden lebt, der erschafft gutes Leben.«

Zur richtigen Zeit am richtigen Ort
Noch während des Studiums konkretisieren sich die Pläne. Bei einem Meditationsworkshop an der Uni kommt Thomas mit einem Dozenten ins Gespräch, erzählt ihm von seiner Gemeinschaftsvision. Dieser wiederum berichtet von seinem Heimatort Cobstädt, von dessen Potenzial und den vielen freien Kapazitäten. Er bietet ihm an, einen Teil seines ungenutzten Hofs zu bewohnen und zu bewirtschaften. Thomas und Elisandra zögern nicht lange, wenig später kommt ein Freund dazu. »Zu dritt, unter den einfachsten Bedingungen und mit so gut wie keinem Kapital war der Anfang nicht leicht, aber es gab für uns keine Alternative. Im Rückblick ist heute alles weit über unsere Visionen hinausgewachsen«, strahlt Thomas. »Immer wieder hat es sich gezeigt, dass wir zur richtigen Zeit am richtigen Ort waren.« Das erste Gewächshaus haben sie sich vom Munde abgespart, lebten bescheiden, tauschten und recycelten viel. Freunde trugen mit Sachspenden und tatkräftiger Hilfe zur Aufbauarbeit bei. Die kleine Gemeinschaft entwickelte schnell Strahlkraft und begann zu wachsen. Besonders einprägsam waren die Ereignisse nach dem Amoklauf am Erfurter Gutenberg-Gymnasium 2002. »Schrei nach Veränderung« nannte sich damals eine Initiative von Schülern, die eine landesweite Diskussion um Bildung anstieß. Parallel stieg auch das Interesse an alternativen Lebensformen rasant an, und so gab es auch einen Zuwachs an jungen Menschen im Lebensgut. Heute lebt noch eine von ihnen hier. Ein anderer gehört zum engeren Freundeskreis.
Im Moment besteht das Dorfnetzwerk aus sechs Höfen, auf denen einundzwanzig Erwachsene und elf Kinder leben. Die Formen der Wohnmodelle sind dabei sehr unterschiedlich und reichen vom Alleinstehenden über Kleinfamilien bis hin zu Wohngemeinschaften. Die einzelnen Höfe organisieren sich in ihren internen Angelegenheiten selbst, wobei es aber eine übergreifende, starke Verbindung und Verflechtung in Form von Freundschaften, Arbeitsgemeinschaften und gemeinsamen Projekten gibt. Je nach Bedürfnissen und Möglichkeiten lebt und wirtschaftet man gemeinsam, übernimmt Verantwortung, hilft und unterstützt sich gegenseitig. Feste, Unternehmungen, Kindererziehung und nicht zuletzt die gemeinsame Landwirtschaft schaffen Verbindung. Neben einem Verein wurde gerade eine Wohnungsgenossenschaft gegründet, die es ermöglichen soll, auch gemeinschaftlich Wohnraum zu erwerben. Das Lebensgut wird zudem von einem großen Kreis an Freunden und Unterstützern bereichert, die sowohl im Dorf als auch außerhalb leben und wirken.
Hinter den Höfen liegen neun Hektar gemeinschaftlich genutztes, vom Verein gepachtetes Land. Auch hier spielte das Glück mit: Als der langjährige Pachtvertrag des Großbauern endete, war die Kirche als Besitzerin für einen neuen Pächter offen. Heute findet man hier einen Kräuter- und Heilpflanzengarten, die »Lebendige Apotheke«, eine Baumschule, Bienenstöcke, einen Beerengarten, Gewächshäuser sowie kleinere und größere Gartenstücke unterschiedlichster Nutzung. Neben den Selbstversorgern bearbeitet auch ein Biogartenbetrieb die Flächen – ein buntes Neben- und Miteinander, das auch Platz für Bauwägen, Feuerstellen und Kunstobjekte lässt. Auf einem Teil des Geländes wächst Thomas’ Diplomarbeit: ein ganzheitliches Anbausystem aus Obst- und Gemüsewald mit Getreideflur.
Trotz der vielen Aufgaben auf dem Gut verdient Thomas einen Teil seines Lebensunterhalts außerhalb, in der Immobilienbranche. Schon früher hat er, wenn auch nicht professionell, auf La Palma und in Cobstädt Höfe an Freunde für die Umsetzung von Projekten vermittelt. Nach einer Urlaubsvertretung für einen befreundeten Immobilienmakler machte sich Thomas selbständig. Im Mittelpunkt seiner Arbeit steht die »Fairmittlung« von freien Lebensräumen und Neuland. So kann er Menschen bei ihrer Suche nach geeigneten Gemeinschaftsflächen unterstützen.

Eine Arche der Vielfalt
»Es gibt die verschiedensten Formen, in denen man hier leben kann«, erzählt Thomas. »Jeder Hof hat seine eigene Geschichte und sein eigenes Modell. Wir freuen uns auch über Zuzug, denn es stehen noch einige Höfe leer.« So etwas wie ein Konsensprinzip zu möglichen Zuzügen gibt es hier nicht. Man kann sich einfach dem bestehenden Netzwerk anschließen und loslegen. »Wir wollen Vielfalt ermöglichen – eine Vielfalt in der Natur, eine Vielfalt an Menschen, Spiritualitäten und handwerklichen Geschicken. Das ist zwar herausfordernd, aber es kommt einer vielfältigen Miniaturgesellschaft viel näher, als wenn sich alle in ihren Einstellungen und Interessen ähnelten.« Hier kann sich jeder aussuchen, wieviel er mit wem zu tun haben will. So ein Dorf ist wohl vergleichbar mit der Welt und ihren verschiedenen Nationen.
Thomas und Elisandra leben inzwischen mit ihrer gemeinsamen Tochter ­Kalima auf dem Pfarrhof. »Auch hier hat uns das Schicksal gut zugespielt. Das Haus stand leer, und die Kirche hat es uns gegen eine Instandhaltung überlassen«, erfahre ich. Ein afrikanisches Sprichwort sagt: Um ein Kind zu erziehen, braucht es ein ganzes Dorf. »Wir erziehen hier unsere Kinder gemeinsam, wir helfen uns gegenseitig und arbeiten und feiern regelmäßig zusammen. Trotz allem haben wir unsere Privatsphäre und Rückzugsmöglichkeiten. Das optimale Verhältnis aus Nähe und Distanz bestimmen wir selbst. Das ist sehr wohltuend!«
Der »Alte Pfarrhof« umfasst auch eine kleine Pilgerherberge. Sie entstand, weil Wanderer auf dem nahegelegenen Pilgerweg um Übernachtungen anfragten. »Unsere Antwort auf Monsanto heißt: Vielfalt am Jakobsweg!«, lacht Thomas. Dafür sollen tausend verschiedene Ostbaumraritäten entlang des Pilgerwegs zwischen Weimar und Gotha gepflanzt werden. Auch eine »­lebende Genbank« für alte und besondere Obstsorten und Nutzpflanzen ist in Arbeit. Der Erhalt der Kulturpflanzenvielfalt liegt Thomas ebenso sehr am Herzen wie Bewusstseins- und Bildungsarbeit. In natur­erlebnispädagogischen Angeboten nimmt er Kinder und Jugendliche mit auf Reisen in die Natur und zu sich selbst.
Mit Blick in die Zukunft sieht Thomas große Veränderungen auf uns zukommen. »Die anstehenden Krisen werden diesen Wandel bedingen. Je unattraktiver der Kapitalismus sein wird, desto interessanter werden die Alternativen. Die große Siegerin, die ich dabei sehe, ist die Vielfalt!« Thomas beschreibt seine Vision eines eng gewebten Gemeinschaftsnetzwerks in Thüringen. Vielleicht wird es darin bald ein Regionalgeld und sogar eine gemeinschaftliche Altersvorsorge geben.
Wandel ist vergleichbar mit der Geschichte des Schmetterlings. Während der Metamorphose werden die ersten sich bildenden Schmetterlingszellen vom Immunsystem der Raupe als Fremdkörper bekämpft. Diese Zellen schließen sich jedoch mehr und mehr zu stabilen Netzwerken zusammen. Das Netz wird dichter, und bald wird es nicht mehr als Fremdkörper empfunden. Das alte Modell stirbt, etwas Neues entsteht. – Auf dass wir alle Schmetterlinge werden und in eine gute Zukunft fliegen! •
 

Maja Klement (36) lebt seit fünf Jahren in einem Hausprojekt in Berlin. Als Naturpädagogin arbeitet sie an der Verbindung zwischen Mensch, Natur und zukunftsfähiger Gesellschaft.


Auf Gemeinschaftssuche in Thüringen?
www.lebensgut-cobstaedt.de
www.wohnstrategen.de

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