Was Pioniere und Konsolidatoren in Gemeinschaftsprojekten voneinander wissen sollten.
von Lara Mallien, erschienen in Ausgabe #25/2014
Am Anfang ist da dieser seltsame »Ruf«. Du kannst nicht anders, als das, was du innerlich hörst, zu realisieren. Du müsstest dich verraten, um es nicht zu tun – selbst wenn dich die ganze Welt um dich herum für wahnsinnig erklärte, wirst du anfangen. Es ist freilich nicht immer so, aber oft steht am Anfang von Gemeinschaftsprojekten ein solcher »Ruf«. »Du bist verrückt!« – das bekam der Unternehmer Wolfgang Sechser von allen zu hören, die er mit der Idee konfrontierte, mit einer neu zu gründenden Genossenschaft das Gelände »Schloss Tempelhof« in Kreßberg bei Crailsheim mit seinen zahlreichen Gebäuden und landwirtschaftlichen Flächen zu erwerben und dort eine Gemeinschaft aufzubauen. Wolfgang war gemeinsam mit anderen schon seit Jahren auf der Suche nach einem geeigneten Standort für ein neues Ökodorf im süddeutschen Raum unterwegs gewesen. Auf der Pirsch nach interessanten Objekten hatte er eine frostige Februarnacht auf dem Gelände von Schloss Tempelhof verbracht. Der ehemalige feudale Herrensitz, der im vorigen Jahrhundert Kindererziehungsanstalt und Behindertenwohnheim gewesen war, stand damals teilweise 30 Jahre leer und wirkte rundum trostlos. Doch etwas hatte Wolfgang in jener Nacht ergriffen. »Da war ein starker Ruf, der in mir gesagt hat: ›Jetzt ist es so weit, jetzt kann hier an diesem Ort mit all seiner problematischen Vergangenheit etwas ganz Neues, dem Leben Zugewandtes entstehen – ein kollektives Wesen bunter Menschen, die Frieden in die Welt bringen‹.«
Pioniere sind anstrengend Von einem Ort mit Haut und Haaren ergriffen zu sein, mit dem sicheren Gefühl, dass dies ein guter Platz für eine Gemeinschaft ist – dieses Phänomen ist mir sehr vertraut. So erging es mir und meinen Lebensgefährten, als wir 1996 zum ersten Mal unseren heutigen Lebensort Klein Jasedow im Lassaner Winkel besichtigten. Das Ergriffensein gibt Bärenkräfte. Du kannst Tage und Nächte lang arbeiten, ohne die geringste Ermüdung zu spüren, stürzt dich freudig in Risiken, denn es kann ja eigentlich nur gutgehen ... und wirst für die Menschen in deinem Umfeld über kurz oder lang sehr anstrengend. Das Tempo und die Bedürfnisse von Pionieren einerseits und derjenigen andererseits, die zu einem existierenden Projekt hinzustoßen und es konsolidieren, sind in der Regel fundamental verschieden. Auch in einer egalitären Konsensgemeinschaft kann die Vision der Pioniere so »raumfüllend« sein, dass andere sich davon erdrückt fühlen und ihre eigene Gestaltungskraft nicht mehr rückhaltlos einbringen. Letzteres ist aber essenziell für den Fortbestand des Projekts über die Gründergeneration hinaus. »Die Formel des ›Dragon Dreaming‹, dass der Traum des Einen sterben muss, um als der Traum vieler wiedergeboren zu werden, klingt zwar einleuchtend – aber die Praxis ist weitaus komplexer«, meint Teresa Distelberger, mit der ich mich über das vergangene Jahr hinweg immer wieder über diese Fragen ausgetauscht habe. Unsere Biografien weisen ein gemeinsames Element auf: Wir sind beide Kinder von Pionieren, die schon in den 1970er und 80er Jahren Gemeinschaften und Bildungsprojekte gegründet haben.
Der Zauber des Zusammenspiels Teresa kehrte nach ihren Studien- und Wanderjahren wieder in ihre Heimat zurück, wo sie sich intensiv im Aufbau des von ihrem Vater initiierten Siedlungsprojekts »Garten der Generationen« im österreichischen Herzogenburg einbrachte. Ihr eigener Ruf führte sie schließlich nach Wien, wo sie jetzt einen gemeinschaftlichen Lern- und Arbeitsort aufbaut – und Herzogenburg dabei eng verbunden bleibt. Wie ist es, sich in ein bestehendes Projekt einzubringen, das ursprünglich aus der Vision anderer entstanden ist? Und wie ist es, etwas ganz »Eigenes« zu beginnen? Teresa erzählt mir von der »Quellentheorie« des Unternehmensberaters Peter König: »Diese Theorie besagt, dass es in jeder Unternehmung einen Menschen gibt, der den ersten Schritt tut – auf eigenes Risiko, beseelt von einer Vision, die so etwas wie die ›Seele‹ oder ›Quelle‹ der Unternehmung wird. Ich beobachte das auch in Gemeinschaften. Aus ihrer Beziehung zur Vision verfolgen ›Quellen‹-Persönlichkeiten oft etwas sehr leidenschaftlich, das anderen unverständlich, nebensächlich oder gar widersinnig erscheint. Erst im Nachhinein wird manchmal deutlich, dass genau das essenziell war, um die Verbindung mit dem Ursprungsimpuls sicherzustellen. Die Quelle braucht jedoch auch ein Gegenüber, um die pragmatisch nächsten Schritte klären und konkret umsetzen zu können.« Das deckt sich mit unserer beider langjähriger Beobachtung einer Generation von Pionieren aus allernächster Nähe. Ich erinnere mich an den Aufbruchsgeist in den 1980er-Jahren, als die siebenköpfige Künstlergemeinschaft, in der ich aufgewachsen bin, weitere Menschen anzog und bald im Gemeinschafts-Netzwerk »Temenos« handfeste Projekte wie einen Kindergarten und einen modernen Naturkostladen aus dem Boden schießen ließ. Obwohl ich erst ein Teenager war, erfasste mich diese Welle aus Visionen und Umsetzungskraft als großes Glücksgefühl. Wenn diejenigen, die etwas anzetteln, und diejenigen, die es gemeinsam mit den Anzettlern auch tatsächlich auf die Erde bringen können, gut zusammen schwingen, entsteht eine ganz besondere Qualität – als sei die Welt – oder zuminest eine ›kleine Welt‹ – in perfekter Balance. Allerdings ist diese Qualität sehr flüchtig, die Balance kann durch kleinste Irritationen kippen. Als ich mit 19 Jahren vor der Entscheidung stand, was ich in Zukunft tun wollte, brachen die Pioniere des Temenos-Projekts gerade zu neuen Ufern auf – nicht aufgrund großer Konflikte, sondern aus der Erkenntnis heraus, dass ihre Bedürfnisse fundamental andere waren als die derjenigen, die das Erreichte erhalten und festigen wollten. Der kurvenreiche Neuanfang führte meinen Zwei-Generationen-Clan schließlich nach Klein Jasedow, und ehe wir’s uns versahen, waren wir um zehn und bald noch mehr junge Menschen angewachsen. Wieder entstand dieses Zusammenspiel aus Pioniergeist, Erdung und Umsetzungskraft mit all seinem Zauber. Einige jedoch, die dazugekommen waren, erkannten in den folgenden Jahren, dass Klein Jasedow nicht »ihr« Ort war, sondern dass sie einen »eigenen« Raum brauchten, wo ihre Visionen Wurzeln schlagen konnten. So entstanden neue Quellorte.
Die Quelle achten Ein starker Pionierimpuls ist immer raumgreifend, und selbst in einer noch so egalitären Konsensgemeinschaft, in der alle immer für alles offen sein wollen, stellt er aus sich heraus die Autoritäts-Frage. Teresa glaubt, jeder Mensch habe die Fähigkeit, Wahrhaftigkeit zu erspüren. »Wir können wahrnehmen, wenn in der Vision eines anderen Menschen ein ›wahrer Kern‹ liegt, etwas Aufrichtiges, das über sein persönliches Ego hinausweist. Daran können andere anknüpfen, und es scheint mir wichtig, die ›natürliche Autorität‹ einer solchen Quellen-Persönlichkeit zu würdigen. Stellt sich diese Person aber auf ein Podest oder wird sie auf ein solches gehoben – meist geschieht beides zugleich – entstehen Abhängigkeiten und Machtgefälle. Ein Quellen-Impuls kommt immer gefiltert durch eine Persönlichkeit mit all ihren Licht- und Schattenseiten in die Welt, und dabei entstehen tausend Möglichkeiten für Konflikte und Projektionen.« Da fühlen sich die einen womöglich nicht gesehen, die anderen fühlen sich ausgebremst. In der jungen Gemeinschaft Schloss Tempelhof scheinen sich die Prozesse zwischen Pionieren und Konsolidatoren, die Teresa und ich über lange biografische Strecken beobachtet haben, aufgrund der großen Dynamik des Projekts schon in der Anfangsphase wie unter einem Vergrößerungsglas auf geradezu beispielhafte Weise zu zeigen. Mitten im Winter 2010/2011 hatten dort 18 Unerschrockene begonnen, die ersten Gebäude bewohnbar zu machen. »In dieser Phase habe ich alles gemacht. Ich war so etwas wie der Bürgermeister. Bauleitung, Moderation, Aufbau der Finanzstruktur – es war gar nicht anders möglich«, erzählt Wolfgang Sechser. Bald bildete er mit Agnes Schuster und Roman Huber ein Dreierteam, bei dem alle Fäden zusammenliefen. Die damals 60 Menschen, die Teil der Gemeinschaft werden wollten, kamen jeweils an den Wochenenden und halfen tatkräftig mit. Im Frühling konnten die ersten von ihnen sanierte Wohnungen beziehen, und die Gruppe der permanent am Ort lebenden Menschen wuchs schnell auf gut 80 Personen an. Als Entscheidungsstruktur wurden Koordinationskreise mit gewählten Leitungspersonen zu verschiedenen Arbeitsbereichen eingerichtet. »Das war im Prinzip eine holokratische Struktur, die einem Machtgefälle entgegenwirken sollte. Aber sie war noch sehr an ein paar starke Persönlichkeiten gebunden. So konnten wir es nicht vermeiden, dass in der Praxis ein Gefühl der Dominanz einiger weniger entstand«, reflektiert Wolfgang. Die erste Krise führte – mit Unterstützung von erfahrenen Moderatorinnen und Moderatoren der Gemeinschaftsbewegung – dazu, dass sich die Tempelhofer gegenseitig in ihren unterschiedlichen Aufgaben und Rollen stärker würdigen konnten. »Jahrhundertelang haben vor allem ›starke Männer‹ Anerkennung für das erfahren, was sie auf die Beine gestellt haben. Ohne Unterstützung, zum Beispiel durch ihre Frauen, hätten sie aber vieles gar nicht verwirklichen können«, meinte Teresa in unseren Gesprächen. »Dass wesentliche Beiträge oft nicht gesehen werden, hat viele Verletzungen hinterlassen. Es ist heilsam, wenn eine Gemeinschaft auch diejenigen, die entschleunigen, die skeptisch sind, ›vernünftig‹ sind und nicht immer gleich mit neuen Ideen vorpreschen, besonders würdigen kann – und wenn sie gleichzeitig mutige Vorreiterinnen und Vorreiter in ihrer Qualität ebenso anerkennt, ohne sie nur aufgrund dieses Charakterzugs zum autoritären Feindbild zu erklären.« Dies scheint der Schlüssel zu einem Raum zu sein, in dem jenseits von Machtstreben und Minderwertigkeitskomplexen Strukturen entstehen können, die den Menschen und dem Ort jeweils wirklich entsprechen.
Den Raum leer machen Im Frühling 2013 beobachtete Wolfgang Sechser an sich selbst einen spannenden Effekt: »Der Kanal ging zu«, erzählt er. »Ich war plötzlich nicht mehr in diesem Fluss, der mich dazu gebracht hatte, immer die Fäden zusammenzuhalten. Ich denke, wenn du in einem dienenden Sinn eine Führungsrolle einnimmst, spürst du sofort, wann du einen Schritt zurücktreten kannst – ja, musst.« Auch die anderen Vorstände der Tempelhof-Genossenschaft teilten dieses Gefühl und kündigten im März 2013 an, im kommenden Herbst nicht mehr zu kandidieren. Zuerst glaubte es ihnen niemand, so erzählt es Wolfgang. Dann breitete sich Unruhe aus – die Sorge, wie alles ohne die bisherigen Motoren des Projekts funktionieren könne. »Wir haben uns in jener Zeit darin geübt, ›den Raum leer zu machen‹ und nicht wie früher laufend Gestaltungsimpulse einzubringen«, erklärt Wolfgang. »Eine Zeitlang fühlte sich die Atmosphäre des Orts für mich neblig und schwammig an. Aber dann klarte es auf, die Luft wurde frisch wie an einem sonnigen Morgen nach einem heftigen, nächtlichen Regenguss.« Als sich die Gemeinschaft dann im Oktober Zeit für einen längern Intensiv-Prozess nahm, brachten viele Mitglieder völlig neue Ideen ein. Wolfgang hätte am liebsten das Experiment gewagt, alle Gremien aufzulösen, keine formelle Entscheidungsstruktur mehr zu aufrechtzuerhalten – alle würden am Morgen aus ihren Häusern gehen und sich von den Begegnungen mit anderen zu dem, was zu tun ist, führen lassen. In der Praxis blieb man beim Modell der Koordinationskreise, aber nun werden deren verantwortliche Personen durch die jeweiligen Projekte wechselnd besetzt – so, wie es gerade als stimmig empfunden wird. Daraus ergibt sich ein »Innenkreis« aus ständig wechselnden Personen, an dessen Versammlung jede und jeder aus dem Dorf teilnehmen kann – Beteiligung an Entscheidungen inbegriffen. Die »Vorstände« wurden in »Mittelstände« umbenannt. Sie haben jetzt weniger visionäre Entscheidungen zu treffen, sondern Anliegen aufzugreifen, zu kommunizieren, zu informieren und zu moderieren. Wolfgang, Roman und Agnes nehmen heute Aufsichtsratsaufgaben in der Genossenschaft wahr, sind Ratgeber, Begleiter und setzen eigene neue Visionen um. Fühlt sich das richtig an? »Ja, sehr!«, bestätigt Wolfgang. »Freilich tritt jetzt, wo nicht mehr diese ›unbeugsame Pionierkraft‹ im Mittelpunkt steht, das ›Nestbauen‹ für ein angenehmeres Leben stärker in den Vordergrund, während gleichzeitig viele weiter in die Gesellschaft hineinwirken wollen. Eine Gemeinschaft darf sich auch in einer Konsolidierungsphase nicht auf dem ausruhen, was geschaffen wurde.«
Die mütterliche Seite der Pionier-Qualität Selbstverständlich haben die Tempelhofer Pioniere schon wieder neue Pläne – beispielsweise eine »Villa Tempelhof« für Waisenkinder oder ein »Chancenhaus« für Menschen in Lebenskrisen. »Für mich ist es wichtig, dass radikale Extreme an einem Ort zusammenwirken können. Menschen, die sich Entschleunigung und Nestbau wünschen, sollen hier ebenso zu Hause sein können wie umtriebige Umsetzerinnen und Umsetzer«, bekräftigt Wolfgang. Ich glaube zu erkennen, dass er doch, trotz allem Freilassen und aller Hingabe an einen kollektiven Wir-Prozess, ein starker Hüter der Anfangsvision bleiben wird: Tempelhof als bunter Ort der Vielfalt. Er wird nicht zulassen, dass sie verblasst. Dieser Vision ist er seit der denkwürdigen Februarnacht verpflichtet, und sie zu schützen, ist ein wunderschöne Aufgabe. Bei Licht betrachtet, scheint mir das eine mütterliche Qualität zu sein, die so gar nicht dem entspricht, was gemeinhin als männlich geprägte Pionier-Qualität gilt. »Es ist etwas Neues, dass Menschen anfangen, Wörter für solche Polaritäten zu finden«, meinte Teresa einmal. »Das ist tröstlich, denn das kann Frieden bringen.« Ich bin gespannt, wie sich die Polarität zwischen Pionieren und Konsolidatoren in Zukunft an meinem eigenen Lebensort ausdrücken wird. •