Die Kraft der Vision

Niemals Gewalt!

Frieden in der Welt beginnt bei uns und unserer Beziehung zu den Kindern.von Astrid Lindgren, erschienen in Ausgabe #25/2014
Photo
© Jacob Forsell

Über den Frieden zu sprechen, heißt ja, über etwas zu sprechen, das es nicht gibt. Wahren Frieden gibt es nicht auf unserer Erde und hat es auch nie gegeben, es sei denn als Ziel, das wir offenbar nicht zu erreichen vermögen. Solange der Mensch auf dieser Erde lebt, hat er sich der Gewalt und dem Krieg verschrieben, und der uns vergönnte, zerbrechliche Friede ist ständig bedroht. Gerade heute lebt die ganze Welt in der Furcht vor einem neuen Krieg, der uns alle vernichten wird. Angesichts dieser Bedrohung setzen sich mehr Menschen denn je zuvor für Frieden und Abrüstung ein – es ist wahr, das könnte eine Hoffnung sein. Doch Hoffnung zu hegen, fällt so schwer. Die Politiker versammeln sich in großer Zahl zu immer neuen Gipfelgesprächen, und sie alle sprechen so eindringlich für Abrüstung, aber nur für die Abrüstung, die die anderen vornehmen sollen. Dein Land soll abrüsten, nicht meines! Keiner will den Anfang machen. Keiner wagt es, anzufangen, weil jeder sich fürchtet und so geringes Vertrauen in den Friedenswillen des anderen setzt. Und während eine Abrüstungskonferenz die andere ablöst, findet die irrsinnigste Aufrüstung in der Geschichte der Menschheit statt. Kein Wunder, dass wir alle Angst haben – gleichgültig, ob wir einer Großmacht angehören oder in einem kleinen, neutralen Land leben. Wir alle wissen, dass ein neuer Weltkrieg keinen von uns verschonen wird, und ob ich unter einem neutralen oder nicht-neutralen Trümmerhaufen begraben liege, das dürfte kaum einen Unterschied machen.
Müssen wir uns nach diesen Jahrtausenden ständiger Kriege nicht fragen, ob der Mensch nicht vielleicht schon in seiner Anlage fehlerhaft ist? Und sind wir unserer Aggressionen wegen zum Untergang verurteilt? Wir alle wollen ja den Frieden. Gibt es denn da keine Möglichkeit, uns zu ändern, ehe es zu spät ist? Könnten wir es nicht vielleicht lernen, auf Gewalt zu verzichten? Könnten wir nicht versuchen, eine ganz neue Art Mensch zu werden? Wie aber sollte das geschehen, und wo sollte man anfangen?

Wahrer Friede fängt bei den Kindern an
Ich glaube, wir müssen von Grund auf beginnen. Bei den Kindern. Die jetzt Kinder sind, werden ja einst die Geschäfte unserer Welt übernehmen, sofern dann noch etwas von ihr übrig ist. Sie sind es, die über Krieg und Frieden bestimmen werden und darüber, in was für einer Gesellschaft sie leben wollen: in einer, wo die Gewalt nur ständig weiterwächst, oder in einer, wo die Menschen in Frieden und Eintracht miteinander leben. Gibt es auch nur die geringste Hoffnung darauf, dass die heutigen Kinder dereinst eine friedlichere Welt aufbauen werden, als wir es vermocht haben? Und warum ist uns dies trotz allen guten Willens so schlecht gelungen?
Ich erinnere mich noch gut daran, welch ein Schock es für mich war, als mir eines Tages – ich war damals noch sehr jung – klar wurde, dass die Männer, die die Geschichte der Welt lenkten, keine höheren Wesen mit übernatürlichen Gaben und göttlicher Weisheit waren. Dass sie Menschen mit menschlichen Schwächen waren. Aber sie hatten Macht und konnten jeden Augenblick schicksalsschwere Entscheidungen fällen, je nach den Antrieben und Kräften, von denen sie beherrscht wurden. So konnte es – traf es sich besonders unglücklich – zum Krieg kommen, nur weil ein einziger Mensch von Machtgier oder Rachsucht besessen war, von Eitelkeit oder Gewinnsucht oder aber – und das scheint das Häufigste zu sein – von dem blinden Glauben an die Gewalt als das wirksamste Hilfsmittel in allen Situationen. Entsprechend konnte ein einziger guter und besonnener Mensch hier und da Katastrophen verhindern, eben weil er gut und besonnen war und auf Gewalt verzichtete.
Daraus konnte ich nur das Eine folgern: Es sind immer auch einzelne Menschen, die die Geschichte der Welt bestimmen. ­Warum aber waren denn nicht alle gut und besonnen? Warum gab es so viele, die nur Gewalt wollten und nach Macht strebten? Waren einige von Natur aus böse? Das konnte ich damals nicht glauben, und ich glaube es auch heute nicht. Die Intelligenz, die Gaben des Verstands mögen zum größten Teil angeboren sein, aber in keinem neugeborenen Kind schlummert ein Samenkorn, aus dem zwangsläufig Gutes oder Böses sprießt. Ob ein Kind zu einem warmherzigen, offenen und vertrauensvollen Menschen mit Sinn für das Gemeinwohl heranwächst oder aber zu einem gefühlskalten, de­struktiven, egoistischen Menschen – das entscheiden die, denen das Kind in dieser Welt anvertraut ist, je nachdem, ob sie ihm zeigen, was Liebe ist, oder aber dies nicht tun. »Überall lernt man nur von dem, den man liebt«, hat Goethe einmal gesagt, und dann muss es wohl wahr sein. Ein Kind, das von seinen Eltern liebevoll behandelt wird und das seine Eltern liebt, gewinnt dadurch ein liebevolles Verhältnis zu seiner Umwelt und bewahrt diese Grundeinstellung sein Leben lang. Und das ist auch dann gut, wenn das Kind später nicht zu denen gehört, die das Schicksal der Welt lenken. Sollte das Kind aber wider Erwarten eines Tages doch zu diesen Mächtigen gehören, dann ist es für uns alle ein Glück, wenn seine Grundhaltung durch Liebe geprägt worden ist und nicht durch Gewalt. Auch künftige Staatsmänner und Politiker werden zu Charakteren geformt, noch bevor sie das fünfte Lebensjahr erreicht haben – das ist erschreckend, aber es ist wahr.

Die Spirale der Gewalt und »Schwarze Pädagogik«
Blicken wir einmal auf die Methoden der Kindererziehung früherer Zeiten zurück. Ging es dabei nicht allzu häufig darum, den Willen des Kindes mit Gewalt – physischer oder psychischer Art – zu brechen? Wie viele Kinder haben ihren ersten Unterricht in Gewalt »von denen, die man liebt«, nämlich von den eigenen Eltern erhalten und dieses Wissen dann der nächsten Generation weitergegeben! Und so ging es fort. »Wer die Rute schont, verdirbt den Knaben«, hieß es schon im Alten Testament, und daran haben durch die Jahrhunderte viele Väter und Mütter geglaubt. Sie haben fleißig die Rute geschwungen und das »Liebe« genannt. Wie aber war denn die Kindheit all dieser wirklich »verdorbenen Knaben«, von denen es zur Zeit so viele auf der Welt gibt, dieser Diktatoren, Tyrannen und Unterdrücker, dieser Menschenschinder? Dem sollte man einmal nachgehen. Ich bin überzeugt davon, dass wir bei den meisten von ihnen auf einen tyrannischen Erzieher stoßen würden, der mit einer Rute hinter ihnen stand, ob sie nun aus Holz war oder im Demütigen, Kränken, Bloßstellen, Angstmachen bestand.
In den vielen von Hass geprägten Kindheitsschilderungen der Literatur wimmelt es von solchen häuslichen Tyrannen, die ihre Kinder durch Furcht und Schrecken zu Gehorsam und Unterwerfung gezwungen und dadurch für das Leben mehr oder weniger verdorben haben. Zum Glück hat es nicht nur diese Sorte von Erziehern gegeben, denn natürlich haben Eltern ihre Kinder auch schon von jeher mit Liebe und ohne Gewalt erzogen. Aber wohl erst in unserem Jahrhundert haben Eltern damit begonnen, ihre Kinder als ihresgleichen zu betrachten und ihnen das Recht einzuräumen, ihre Persönlichkeit in einer Familiendemokratie ohne Unterdrückung und ohne Gewalt frei zu entwickeln. Muss man da nicht verzweifeln, wenn jetzt plötzlich Stimmen laut werden, die die Rückkehr zu dem alten, autoritären System fordern? Denn genau das geschieht zur Zeit mancherorts in der Welt. Man ruft jetzt wieder nach »härterer Zucht«, nach »strafferen Zügeln« und glaubt, dadurch alle jugendlichen Unarten unterbinden zu können, die angeblich auf zu viel Freiheit und zu wenig Strenge in der Erziehung beruhen. Das aber hieße, den Teufel mit Beelzebub auszutreiben, und führt auf Dauer nur zu noch mehr Gewalt und Trennung. […]
Freie und unautoritäre Erziehung bedeutet nicht, dass man die Kinder sich selber überlässt, dass sie tun und lassen dürfen, was sie wollen. Es bedeutet nicht, dass sie ohne Normen aufwachsen sollen – was sie selber übrigens gar nicht wünschen. Verhaltensnormen brauchen wir alle, Kinder und Erwachsene, und durch das Beispiel ihrer Eltern lernen die Kinder mehr als durch irgendwelche anderen Methoden. Ganz gewiss sollen Kinder Achtung vor ihren Eltern haben, aber ganz gewiss sollen auch Eltern Achtung vor ihren Kindern haben, und niemals dürfen sie ihre natürliche Überlegenheit missbrauchen. Liebevolle Achtung voreinander, das möchte man allen Eltern und allen Kindern wünschen.

Mahnsteine für Gewaltlosigkeit
Jenen aber, die jetzt so vernehmlich nach härterer Zucht und strafferen Zügeln rufen, möchte ich das erzählen, was mir einmal eine alte Dame berichtet hat. Sie war eine junge Mutter zu der Zeit, als man noch an jenen Bibelspruch glaubte, jenes »Wer die Rute schont, verdirbt den Knaben«. Im Grund ihres Herzens glaubte sie wohl gar nicht daran, aber eines Tages hatte ihr kleiner Sohn etwas getan, wofür er ihrer Meinung nach eine Tracht Prügel verdient hatte – die erste in seinem Leben. Sie trug ihm auf, in den Garten zu gehen und selber nach einem Stock zu suchen, den er ihr dann bringen sollte. Der kleine Junge ging und blieb lange fort. Schließlich kam er weinend zurück und sagte: »Ich habe keinen Stock finden können, aber hier hast du einen Stein, den kannst du ja nach mir werfen.« Da aber fing auch die Mutter zu weinen an, denn plötzlich sah sie alles mit den Augen des Kindes. Das Kind musste gedacht haben, »meine Mutter will mir wirklich wehtun, und das kann sie ja auch mit einem Stein«. Sie nahm ihren kleinen Sohn in die Arme, und beide weinten eine Weile gemeinsam. Dann legte sie den Stein auf ein Bord in der Küche, und dort blieb er liegen als ständige Mahnung an das Versprechen, das sie sich in dieser Stunde selber gegeben hatte: »Niemals Gewalt!«
Ja, aber wenn wir unsere Kinder ohne Gewalt und straffe Zügel erziehen, entsteht dadurch schon ein neues Menschengeschlecht, das in ewigem Frieden lebt? Etwas so Einfältiges kann sich wohl nur eine Kinderbuchautorin erhoffen! Ich weiß, dass es eine Utopie ist. Und ganz gewiss gibt es in unserer armen, kranken Welt noch sehr viel anderes, das gleichfalls geändert werden muss, soll es Frieden geben. Aber in dieser unserer Gegenwart gibt es – selbst ohne Krieg – so unfassbar viel Grausamkeit, Gewalt und Unterdrückung auf Erden, und das bleibt den Kindern keineswegs verborgen. Sie sehen und hören und lesen es täglich, und schließlich glauben sie gar, Gewalt sei ein natürlicher Zustand. Müssen wir ihnen dann nicht wenigstens zu Hause durch unser Beispiel zeigen, dass es eine andere Art zu leben gibt? Vielleicht wäre es gut, wenn wir alle einen kleinen Stein auf das Küchenbord legten – als Mahnung für uns und für die Kinder: Niemals Gewalt! Es könnte trotz allem mit der Zeit ein winziger Beitrag zum Frieden in der Welt sein! •

 

Dankesrede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels am 22. Oktober 1978. © Astrid Lindgren / Saltkråkan AB.

Astrid Lindgren (1907 – 2002), als Astrid Anna Emilia Ericsson geboren, verlebte eine glückliche Kindheit im südschwedischen Småland. Als sie mit achtzehn schwanger wird, entschließt sie sich gegen eine Zweckehe. Sie bringt ihren Sohn Lars in einer Kopenhagener Klinik zur Welt und gibt ihn zu Pflegeeltern. Erst vier Jahre später wird sie ihn zu sich nach Stockholm holen können. 1931 heiratet sie Sture Lindgren, 1934 kommt Tochter Karin zur Welt. Als diese mit sieben Jahren – durch Lungenentzündung ans Bett gefesselt – bittet: »­Erzähl mir von Pippi Langstrumpf!«, legt sie den Grundstein zu jener Figur, die ihrer Mutter zum schriftstellerischen Durchbruch verhelfen wird. Es folgen Madita, Lotta, Mio, Tomte, Michel, Krümel, Ronja und viele weitere. 1978 erhält Astrid Lindgren den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Die Dankesrede, in der sie das »Elternrecht auf Züchtigung« kritisiert, löst eine internationale Debatte aus. Ihr persönlicher Erziehungsratschlag ist: »Gebt den Kindern Liebe, mehr Liebe und noch mehr Liebe, dann stellen sich die guten Manieren ganz von selbst ein.« 1994 ­erhält sie den Alternativen Nobelpreis. Am 28. Januar 2002 stirbt Astrid Lind­gren 94-jährig in ihrer Stockholmer Wohnung. Bei der Trauerfeier am darauffolgenden Weltfrauen­tag erweisen ihr Zehntausende die letzte Ehre.

 www.astridlindgren.se/de

weitere Artikel aus Ausgabe #25

Photo
Naturvon Matthias Fersterer

Was alles Recht ist

Jede real existierende Gemeinschaft definiert sich auch über diejenigen, die sie ausschließt. Jedem »Wir« steht ein »Die« gegenüber: hier die Inhaber grundlegender Rechte, dort die Rechtlosen. In diesem Sinn ist jede Rechts­gemeinschaft auch eine Unrechtsgemeinschaft.

Photo
von Matthias Fersterer

Zoopolis (Buchbesprechung)

Es ist eine wahre (R)Evolution im Verhältnis zwischen Mensch und Tier, die Sue Donaldson und Will Kymlicka in »Zoopolis« vorschlagen: Sie fordern für unsere tierischen Verwandten nicht Tier-, sondern Bürgerrechte. Unsere vielfältigen Beziehungen zu Tieren

Photo
Gemeinschaftvon Antje Gerdes

Was ist es, das alle verbindet?

Sind Kommunen, die gemeinsame Ökonomie praktizieren, seltsame Eigenbrötler in einer ganz anders funktionierenden Gesellschaft? Keinesfalls, sie stoßen Vernetzung an.

Ausgabe #25
Gemeinschaft

Cover OYA-Ausgabe 25
Neuigkeiten aus der Redaktion