Titelthema

Wir sind zum Guten verdammt

Gandalf Lipinski im Gespräch mit dem ehemaligen Sprecher des Netzwerks Grundeinkommen, Günter Sölken.von Gandalf Lipinski, Günter Sölken, erschienen in Ausgabe #3/2010
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Günter Sölken, Sie waren vier Jahre einer der Sprecher des Netzwerks Grundeinkommen. Wie ordnen Sie das Thema Grundeinkommen oder Ihre eigene Haltung zu diesem Thema in den Gesamtkontext der Gemeingüter-Debatte und der heutigen ­Realpolitik ein?
Für mich war das Thema der Katalysator, um mich nach fünfzehnjähriger politischer Frustration und Abstinenz wieder der Politik zuzuwenden. Auslöser dafür war die Vision der Abschaffung der Armut. Sehr schnell wurde mir aber deutlich, dass das Grundeinkommen allein nicht in der Lage sein kann, die notwendige große Wende in der Politik, den »Global Change« einzuleiten. Grundeinkommen muss eingebettet werden in ein ganzes Bündel zueinander passender politischer Zielsetzungen, dazu gehört vor allem die Abkehr vom Wachstumswahn und die vollständige Erneuerung des Wirtschaftssystems, die Abschaffung der zerstörerischen Zins­mechanismen. Hier kommt die »Allmende«, die Verwaltung von den Menschen gemeinschaftlich zukommenden Gütern, ins Spiel. Eine Allmende-Gesellschaft sehe ich als eine solidarische Gesellschaft des Teilens, mehr noch des aktiven Gebens vor mir.

Das Grundeinkommen allein wird es nicht richten; das ist für mich eine Zaubertrank-Fantasie. Teile der Grundein­kommens­bewegung blenden vieles aus, was sich auf der politischen Bühne abspielt. Dadurch verliert die Idee politische Anschlussfähigkeit und schwächt die Bewegung. Dieses Ausblenden schürt die Befürchtung, dass das Grundeinkommen »von oben« als systemstabilisierendes Narkotikum verabreicht werden könnte. Es könnte politischen Manipulatoren erst recht erlauben, ihr gefährliches Spiel weiter zu treiben.

Das Grundeinkommen wäre somit nur ein Mosaiksteinchen einer neuen, aber noch gar nicht konkret beschriebenen Politik?
Es kann ein Steinchen sein, das über das Gelingen einer neuen emanzipatorischen Gesellschaftsordnung entscheidet. Lassen Sie mich eine ganz wichtige Feststellung treffen: Wir leben eindeutig, wie in keiner Zeit zuvor, in einer Welt des Überflusses, die sich aber gleichzeitig durch Mangel, Hungertod, Missgunst und Raubbau an der Schöpfung auszeichnet. Wie ist diese Gleichzeitigkeit von Überfluss und Elend überhaupt möglich? – Durch bewusst erzeugten Mangel, weil er der Schlüssel für die Ausübung von Macht weniger über viele ist. Das Grundeinkommen verstehe ich als eine bedingungslose Gabe, die diesen Überfluss allen Menschen verfügbar macht.

Das Machtinstrument Mangel steht damit nicht mehr zur Verfügung, und wir alle haben viel bessere Voraussetzungen, um individuell und kollektiv unübersehbaren Notwendigkeiten gerecht zu werden. Die Zeichen des globalen Kollapses sind doch eindeutig: der kriminelle Schwachsinn an den Finanzmärkten, die sich abzeichnende Abdankung der Demokratie und die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen. Das positive Zeichen der Hoffnung, das Barack Obama gesetzt hatte, wird längst ­wieder eingefangen und erstickt durch eine uns vorgegaukelte Alternativlosigkeit des Sparen-Müssens. Dieses infame Konstrukt würde durch die Einführung des Grundeinkommens und die Abschaffung der Armut zusammenbrechen. Aber das entbindet uns nicht von der Pflicht, über einen neuen Masterplan für die Gestaltung der Zukunft nachzudenken.

Welche Rolle spielen dabei in Ihren Augen die Allmende, die Gemeingüter und die ­Gemeinschaften?
Die Gemeingüterdiskussion wird zum Beispiel den Begriff des individuellen Eigentums entzaubern. Unsere ­Lebensgrundlage ist »Mutter Erde«. Sie gehört ­niemandem oder eben allen. Wer beginnt, sie zu zerteilen, wird sie verbrauchen. Der Privateigentumsfetischismus und der in einigen Teilen der Welt gelebte Konsumwahn sind nichts anderes als die illegale Inanspruchnahme des Eigentums unserer Erben, denen wir die Möglichkeit nehmen, selbstbestimmt zu leben. Luft, Wasser, Boden, ebenso Bodenschätze und Energie stehen allen zu; das Gleiche gilt für jegliches Wissen, in der Medizin, der Forschung. Kein Wissenschaftler, selbst der genialste, kommt ohne Grund­lagenwissen aus, das in Generationen zuvor erarbeitet wurde. Überzogene Patentrechte sind ebenso wie der maßlos übertriebene individuelle Eigentumsbegriff schwere Angriffe auf das Allgemeinwohl.

Nun ist die Allmende, historisch betrachtet, ja immer mehr in die Defensive geraten, und das heute übliche geschichtliche Kurzzeitgedächtnis assoziiert mit Gemeinschaftseigentum eher das Staats- oder Volkseigentum, wie es in der UdSSR und der DDR praktiziert wurde. Wenn nach dem Scheitern des Ostens nun augenscheinlich auch das westliche System vor dem Kollaps steht, was geht dann überhaupt noch? Besteht nicht die Gefahr einer ganz tiefen Resignation?
Ich bin seit längerem der Auffassung, dass wir in einer depressiven Gesellschaft leben, in der der Mut zu einem grundlegendem Wandel verlorengegangen ist. Wenn wir keinen Paradigmenwechsel in unseren Köpfen vornehmen, wird die bereits eingetretene Depression unüberwindbar bleiben. Das alte Paradigma lautet »Geiz ist geil«, unseres könnte »Geben ist sexy!« sein. Solange alle nehmen, soviel sie können, geht jeder Vorrat – und sei er noch so groß – schnell zu Ende. Wenn wir uns vom Geben leiten lassen, entsteht ständig sich neu erzeugender Reichtum für alle.

Wie soll das Bild, das Sie hier zeichnen, Einfluss auf die weltweiten Verhandlungen zur Regulierung der Finanzmärkte oder zum Klimaschutz nehmen?
Es ist schlicht so, dass wir diese Verhandlungen nicht brauchen. Sie haben noch nie zu durchgreifend positiven Veränderungen geführt, und das wird auch so bleiben. Noch schlimmer ist, dass das Scheitern globaler Verhandlungen immer wieder ins Feld geführt wird, um uns lokal zu erdrosseln. Das zeigen die Auswirkungen der »alternativlosen« Rettungsmaßnahmen für den Euro und die Banken. Das Ergebnis sind Lohnverzicht, Sozialabbau und Schließungen von Kindergärten und Schwimmbädern, und es kann, wie die Sparbeschlüsse der Regierung zeigen, noch weit schlimmer kommen. Das alles wird mit nicht beeinflussbaren globalen Rahmenbedingungen und einer angeblichen Alternativlosigkeit gerechtfertigt.

Ebenso fatal wirken etliche »alternative« Großprojekte. Ist es wirklich sinnvoll, die Sahara mit Solarzellen zu pflastern, um deren Energieausbeute mit riesigen Verlusten und Risiken zu uns – zu wem sonst? – zu transportieren? Ist es da nicht sinnvoller, auf regionale Energieautarkie mit kleinen Erzeugereinheiten zu setzen und unseren Verbrauch an dem zu orientieren, was den heimischen Ressourcen ohne dauerhaften Schaden zu entnehmen ist?

Solche technischen Großprojekte sind ja oft Versuche, Probleme auf der Ebene der Phänomene zu managen, ohne dabei das System der Herrschaft durch Abhängigkeit selbst anzugehen. Sie haben diese Problematik im Zusammenhang mit dem Grundeinkommen ja schon angerissen. Ist auch das Grundeinkommen eine kompensatorische Maßnahme, die letztlich systemstabilisierend ist, oder hat es Potenzial, das System zu überschreiten? Oder beides?
Ja, ich glaube, in gewisser Weise beides. Wenn es »von oben« eingeführt und verordnet würde, gibt es die Gefahr der Einbettung in eine Strategie des versorgten Bürgers, der in das System der Herrschaft durch Fremdversorgung wunderbar hineinpasst und es eher stabilisieren wird.
Der Paradigmenwechsel sollte eigentlich am Anfang stehen und nicht erst durch das Grundeinkommen ausgelöst werden. Das Grundeinkommen würde es uns in einer ungeahnten Weise ermöglichen, selbstbestimmt zu leben, beispielsweise in Kooperativen und Genossenschaften anders zu wirtschaften. Es wird zum Akt der Befreiung und der Großzügigkeit zugleich. Ich gebe jemandem etwas, bevor er geleistet hat, ohne die Bedingung, dass er leistet. Auf dieser Grundlage kann der selbstbestimmte Mensch die Entscheidung des Gebens und des »anderen Wirtschaftens« treffen.

Wie steht es mit dem systemüberschreitenden Potenzial bei der Allmende?
Bliebe unser Bewusstsein bei der beschränkten Alternative Privateigentum oder Staatseigentum stecken, hätten wir tatsächlich wenig erreicht. Zwischen dem mehrfach geschützten Eigentum und dem propagandistisch verteufelten Staatseigen­tum gibt es einen dritten Bereich, den öffentlichen Raum, in dem wir es weder mit Staats- noch mit Privateigentum zu tun haben, wo Dinge gemeinsam genutzt werden. Diesen freien Raum findet man auf öffentlichen Plätzen oder auch im Internet, wo Menschen gemeinsam etwas herstellen. Ich glaube, hier liegt die Zukunft des freien, selbstorganisierten Gestaltens und einer neuen Ordnung, auch in der Wirtschaft.

Das legt für mich den Gedanken nahe, dass diese Ordnung aus überschaubaren Strukturen besteht. Wir sagen ja ganz gerne, Wasser, Erde, Luft gehören allen Menschen. Aber das auch praktikabel zu machen, würde nahelegen, dass das Wasser hier vor Ort und das Land hier vor Ort den hier lebenden Menschen zur Verfügung stünde.
Das ist eine der wichtigsten Erkenntnisse. In großen Strukturen verlieren wir den Überblick und brauchen Spezialisten. Indem wir Aufgaben an sie delegieren, geben wir Macht ab. Dieses Delegieren ist zum Kardinalproblem geworden, hat zu falschen und missbräuchlichen Entscheidungen mit teilweise katastrophalen Auswirkungen in Politik und Wirtschaft beigetragen. Das geht vielfach mit einem absoluten Kontroll­verlust einher. Wenn wir diese Fehlentwick­lungen korrigieren wollen, müssen wir uns ermächtigen, diese Verantwortung und Kompetenzen zurückzuholen.

Das geht nur schrittweise. Um bessere Entscheidungen treffen zu können, muss man Zusammenhänge und Auswirkungen auch verstanden haben. Das ist ein Lernprozess. Wir sollten bei den kleineren Einheiten und Organisationen anfangen und in diesem Zusammenhang auch dezentralisieren, zum Beispiel bei der Energieversorgung. Im Kleinen liegt mehr Zug als im Großen. Da wird es uns wesentlich eher gelingen, den Sinn unseres Tuns zu reflektieren und verantwortlich zu entscheiden.

Ich bin zutiefst überzeugt, dass wir Menschen zum Guten verdammt sind. Wir können nur in Übereinstimmung mit der Schöpfung leben, wenn wir uns als Teil von ihr begreifen! Nur in einer Symbiose können wir bestehen, niemals in einer Ausbeuterbeziehung. Wenn ich meine Augen aufmache, sehe ich ganz viele Menschen, die in diese Richtung denken, und deshalb haben wir die Chance, aus der depressiven wieder in eine mutige Gesellschaft zu kommen – und wenn wir uns selbst ermächtigen, haben wir auch die Kraft dazu.

»Zum Guten verdammt« ist ein schönes Schlusswort. Vielen Dank!



Günter Sölken (59) lebt und arbeitet als Fachautor und Politikberater für Nicht-Regierungs-organisationen in Berlin.


Diskussionen zum globalen Wandel
www.global-change-2009.com/blog/category/warum-vom-problem-zur-losung/


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