Titelthema

Geld, Subsistenz, Markt und freie Gabe

von Dieter Halbach, Eva Stützel, Martin Stengel, erschienen in Ausgabe #3/2010
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Dieter Halbach Wie bezeichnet ihr das Wirtschaftsmodell, das wir hier in Sieben Linden praktizieren?

Eva Stützel Ich bezeichne unsere Ökonomie gern als eine solidarische lokale Ökonomie. Wir haben hier im Dorf viele kleine Unternehmen, die sehr stark miteinander wirtschaften und so das Geld im Dorf lassen. Elemente der Solidarität sind gemeinsamer Grundbesitz durch die Genossenschaft, faire Löhne oder Schenkungen.

Martin Stengel Wir haben hier eine Mischung aus individueller und Gemeingüter-Ökonomie. Ein Teil der Menschen verdient in Kooperation mit der »externen« Gesellschaft ihr Geld. Und zu einem beträchtlichen Teil kann sich das Dorf durch unsere Produktion von Gütern täglichen Bedarfs selbst versorgen. Das ist möglich, weil wir unseren Grund und Boden gemeinsam besitzen, ebenso das Gemeinschafts- und Seminarhaus und die Infrastruktur für Ver- und Entsorgung. Diese beiden Ökonomien kooperieren, und das erwirtschaftete Geld ist im ständigen Fluss.

DH  Was ist für dich die Basis, auf der dieses Projekt angelegt ist?

ES  Die Basis ist natürlich unser Land, unsere 81,5 Hektar. Uns war immer wichtig, dass das Land nicht im Privatbesitz und damit abhängig von den Vorstellungen eines Einzelnen ist. Alle festen Bewohnerinnen und Bewohner des Dorfs sind Mitglieder der Siedlungsgenossenschaft. Die wegweisenden Entscheidungen werden auf den Genossenschaftsversammlungen getroffen, in denen alle das gleiche Stimmrecht haben. Wer hier fest wohnen möchte, bringt einen Genossenschaftsanteil von derzeit 12 300 Euro ein, den man auch nach und nach einzahlen kann. Alle, die dauerhaft hier wohnen, übernehmen Mitverantwortung für die materielle Basis.

MS  Das Wichtige an diesem Genossenschaftsgedanken ist für mich: Du hast eine Stimme, auch wenn du mehr Geld einlegst, und du bist gleichzeitig Miteigentümer des Ganzen. Du kaufst dir nicht einen abgeschnittenen Teil, sondern mit deinem Genossenschaftsanteil gehört dir das Ganze – mit allen anderen zusammen. Und du bekommst die finanziellen Einlagen zurück, wenn du wieder gehst.

ES  Es war allerdings immer so, dass es für Menschen, die gar nichts hatten, als sie herkamen, irgendeine Lösung gab. Zum Beispiel gewährte ein anderes Genossenschaftsmitglied einen Kredit, der in Raten bezahlt werden konnte.

DH  Immer wieder beobachte ich, dass Menschen, die zum ersten Mal hierherkommen und mitmachen wollen, einen Schock erleben, wenn es um die Genossenschaftsanteile geht. Einen Schock, weil sie sich eigentlich Selbstversorgung ohne Geld vorgestellt hatten. Findet ihr diesen Schock heilsam? Ist das gut so?

MS  Mir ist es immer wichtig, dass den Menschen bewusst ist, dass ein Ökodorf auch Materie bedeutet und dass uns diese Materie nicht geschenkt wird, auch nicht vom Staat, sondern wir uns dieses Dorf selbst aufbauen. Das braucht Arbeitskraft, das braucht Material, das braucht Kapital und vieles mehr. Manche denken, ein Strohballenhaus besteht doch nur aus kompostierbarem Material, wieso sollte das etwas kosten. Ich finde es wichtig – und somit ist der »Schock« vielleicht auch heilsam –, dass Menschen die Illusion oder den Glaubenssatz überprüfen, in einem Ökodorf müsse alles frei und geldlos sein.

DH  Alle gemeinsamen Güter müssen gemeinsam finanziert und auch in freiwilliger Arbeit gepflegt werden.

ES  Dass sich alle Bewohnerinnen und Bewohner im Rahmen ihrer Nutzung von gemeinsamen Räumen in Diensten einbringen, ist das Einzige, das genau festgelegt ist. Darüber hinaus erwarten wir, dass sich jeder entsprechend den eigenen Möglichkeiten engagiert. Das sieht beim Rentner ganz anders aus als bei der Selbständigen.

MS  Das Ehrenamt ist immer die Chance, der Gemeinschaft etwas zu schenken. Das kann Kinderbetreuung während gemeinschaftlicher Veranstaltungen sein, der Verkauf beim Sonntags-Café, das Kochen für die Gemeinschaft, Arbeit für die Genossenschaft, Pflege von Fahrrädern, Autos …

DH  Über die Jahre sind viele dieser Bereiche professionalisiert worden. Menschen übernehmen feste Verantwortungen, vor allem auch zur Koordinierung von gemeinschaftlichen Diensten, und werden dafür bezahlt. Wie findet ihr diese Entwicklung?

ES  Um ein so komplexes Projekt wie Sieben Linden solide aufzubauen, müssen die Hauptarbeitsbereiche so konzipiert sein, dass die Menschen, die da Verantwortung übernehmen, damit auch Geld verdienen können. Wir haben in unserer Geschichte immer dann begonnen, einen bestimmten Dienst zu bezahlen, wenn wir bemerkt haben, dass es nicht mehr leistbar ist, ihn nur ehrenamtlich abzudecken.

MS  Meine Beobachtung ist, dass es mit zunehmender Größe der Gruppe immer mehr und Komplexeres in den einzelnen Bereichen zu tun gibt. Betrachten wir nur mal die technische Infrastruktur. So entsteht immer mehr Arbeitsteilung und Professionalisierung. Irgendwann braucht es Zuständigkeiten, sonst sind die einzelnen überfordert, das Ganze zu sehen. Ich finde steigende Effektivität durch mehr Kompetenz sehr begrüßenswert, wenn dabei gleichzeitig der Kontakt untereinander und ein ganzheitlicher Ausdruck jedes und jeder einzelnen kultiviert wird.

ES  Arbeitsteilung hat ja auch etwas damit zu tun, dass nicht allen Leuten alles Spaß macht. Ich habe das in den Anfangszeiten des Projekts erlebt. Da habe ich in allen Bereichen mitgearbeitet, weil es so ein theoretischer Traum von mir war, alles zu machen. In der Realität habe ich gemerkt, wie ich in den Bereichen, aus denen ich nicht komme, herumstümpere oder gar keine Erfüllung finde. Meine Fähigkeiten liegen zum Beispiel mehr im Organisieren und darin, manche Menschen auf ihrem Weg zu unterstützen. Solche Prozesse führten bei uns zu stärkerer Arbeitsteilung, und dann wird ein Medium gebraucht, diese arbeitsteilige Gesellschaft zu organisieren. Geld ist dafür ein geeignetes Medium.

MS  In diesem Sinn praktizieren wir keine individuelle, sondern eine kollektive Selbstversorgung. Darin hat sich eben auch gezeigt, dass es gut ist, wenn sich die Gärtner wirklich ganz um den Garten kümmern und wenn wir Leute haben, die zum Beispiel wissen: »Unsere Aufgabe ist es, in diesem Winter 300 Festmeter Holz zu machen und dabei zu beachten, dass die Wälder auch nächstes Jahr gut aussehen.« Wenn da nun jeder irgendwann mal, wenn er Zeit hat, schauen würde, welcher Holzstapel gefüllt werden muss, wäre das nicht sinnvoll. Dass bei dieser Selbstversorgung auf der »Wir-Ebene« Geld eine Rolle spielt, könnte man unter verschiedenen Aspekten betrachten. Wir nutzen Geld als klassisches Tauschmittel und auch als Energiespeicher: Im Winter kann ich Geld mit der Forstarbeit verdienen und es im Sommer im Urlaub oder für den Hausbau ausgeben. Wir haben sowohl einen internen als auch einen externen Geldfluss. Nach außen hin müssen natürlich Dinge wie die Krankenversicherung oder ein Zugticket ­bezahlt werden.

DH  Wie wirken denn der interne und externe Geldkreislauf zusammen?

ES  Diese Kreisläufe überschneiden sich, schließlich verwenden wir keine interne Währung. Wir haben immer angefangen, zu bezahlen, wenn Leute sagten, dass sie ihre Arbeit ehrenamtlich nicht mehr schaffen. Nicht nur, weil sie interne, sondern vor allem, weil sie externe Kosten hatten.

MS  Aber was könnten wir mit unseren Euros noch anfangen, wenn diese Währung in die Knie ginge? Freilich könnten wir unserem Geld einen ganz anderen internen Wert geben als den extern vereinbarten. Wenn du eine Währung hast, die nur intern verwendbar ist, gäbe es wohl noch mehr Anreize, etwas nicht bei eBay, sondern bei jemandem aus dem Dorf zu erwerben.

ES  Ich habe den Eindruck, dass wir auch ohne eine eigene Währung darauf achten, dass wir die Dienstleistungen aus dem Dorf nutzen und untereinander tauschen.

DH  Gibt es auch geldunabhängige Bereiche? Was wird denn hier geschenkt?

ES  Als Mutter fällt mir die ganz selbstverständliche gegenseitige Kinderbetreuung ein, die ein ganz großer Schatz ist, weil ich ohne Probleme auch mal dienstlich oder privat wegfahren kann, ohne dass ich mir Sorgen machen muss, wer meine Tochter versorgt. Hier werden zum Beispiel Massagen verschenkt, und es gibt aber auch Menschen, die damit ihr Geld verdienen. Mein Fahrrad wird repariert, ohne dass ich dafür etwas bezahle, ein arbeitsloser Gärtner verschenkt sein Gemüse an die Gemeinschaft.

MS  Persönliche Unterstützung in Krisen wird ganz viel verschenkt, man schenkt Haareschneiden, Hilfe beim Bau, DJ- und Thekendienste, Gruppenleitung, Kleidung und Bücher. Wir haben eine »Verschenke-Ecke« und Kleiderkammern, in denen wir uns bedienen können. Wir sind aber auch eine Leih-Gemeinschaft. Wir leihen uns gegenseitig viele Gegenstände, auch teure wie Autos oder Werkzeuge, teilweise auch gegen Geld als Kostenbeteiligung.

DH  Es gibt also bezahlte und ehrenamtliche Arbeit, es gibt Produkte und Dienstleistungen, die verschenkt oder getauscht werden, ebenso wie Dinge, die verliehen werden, und der einzelne ist aufgefordert, damit wach umzugehen.

ES  Menschen, die ohne viel Arbeit abgesichert sind, können natürlich viel mehr Arbeit verschenken als die, die ihren Lebensunterhalt verdienen müssen. Und da ist es oft so, dass sie für etwas, was sie geben, kein Geld haben wollen. Dennoch ist die Würdigung der Arbeit oder des Geschenkten ein ganz wichtiger Aspekt.

MS  Klassischerweise werden reproduktive, haushälterische Tätigkeiten gering bezahlt. Da sind wir definitiv ein gutes Stück fairer als üblich, solche Arbeiten werden bei uns oft genauso bezahlt wie die Geschäftsführung. Und dennoch gibt es diese Diskrepanz der unterschiedlichen Bezahlungen bei uns auch. Da gibt es von den Betroffenen noch immer Unzufriedenheit, weil sich unsere Gärtner zum Beispiel am unteren Ende des Lohnniveaus befinden, obwohl wir bewusst schon mehr für unser eigenes Gemüse bezahlen, als wir es vom Bio-Großhandel einkaufen könnten. Die Gärtner und manche anderen werden damit schlechter bezahlt als beispielsweise unsere Handwerker, die wiederum in Sieben Linden weniger verdienen, als sie außerhalb verdienen könnten.

ES  Oft genug schenken gerade diejenigen, die »extern« gutes Geld verdienen, ihre Arbeit in die Gemeinschaft. Unsere Ärzte zum Beispiel. Wir haben ja einen Oberarzt, der sein Geld im Krankenhaus verdient, aber wenn wir hier eine Unterstützung brauchen, dann kriegen wir die, ohne dass wir dafür bezahlen müssen.

MS  Das führt zu der grundsätzlichen Frage: Lösen wir uns von dem kollektivistischen Ideal, dass alle wirklich gleich engagiert sind und jede Stunde gleich bezahlt wird? Wie gesund oder trennend ist es, wenn wir Menschen darin bestärken, ihren Neigungen und auch dem Reiz der Professionalisierung und der Anerkennung durch höhere Löhne zu folgen? Kann das zu mehr Leistungsfähigkeit, einer höheren Stabilität und so auch wieder zur Zufriedenheit des Gesamten führen – oder verlieren wir dabei den Sinn für das Gemeinsame? Oft kommen Menschen, die nach vielen Jahren des gemeinschaftlichen Engagements wieder mehr »in die Welt hinaus« gegangen sind, um sich neu zu erproben, nach einiger Zeit mit frischen Impulsen für das Ganze zurück. Ich frage mich oft: Was kommt nach der Kollektivierung, was sind die nächsten Schritte zukunftskreativer Gemeinschaft? Das ist ein spannendes Lernfeld, und es ist gut, wenn das Ökodorf in diesem Zusammenhang in einer Spannung steht. Wir wollen keine Insel bleiben, wir wollen ja mit der Gesellschaft im Dialog stehen.

DH  Wie steht es mit Untergruppen, etwa mit eurer Nachbarschaft, dem Club 99, der eine gemeinsame Ökonomie hat?

MS  Wir teilen Einkommen und Kapital miteinander, über individuelle und Familiengrenzen hinaus. Wir entscheiden gemeinsam darüber, nutzen es gemeinsam …

DH  Wo seht ihr Bereiche in diesem sehr vielfältigen Modell Sieben Linden, die entwicklungsfähig sind?

ES  Wir haben es noch viel zu wenig geschafft, in Sieben Linden kollektive Betriebe aufzubauen. Die meisten sind Einzelunternehmer. Ich wünsche mir mehr Entwicklung hin zu gemeinschaftlichen Betrieben. Ein anderes Feld ist der Bereich der Rente, da sind wir individuell organisiert, und die meisten sind nicht abgesichert. Gemeinsame Investitionen, die sich auszahlen, wenn viele von uns älter werden, wären ein wichtiger Schritt. Eine erste Idee sind unsere Photovoltaik-Anlagen, deren Ertrag teilweise eine Altersversorgung bilden kann.

MS  Es gibt verschiedene Ideen, um in Sieben Linden authentische Produkte zu entwickeln und zu verkaufen oder damit Dinge, die wir bisher kaufen, zu ersetzen. Ich denke zum Beispiel an den Druck von ­Flyern, an das Nähen von Kleidung oder an die Veredelung von Nahrungsmitteln. Warum sollen wir das von außen zukaufen, wo wir es hier selbst herstellen könnten?

DH  Es könnte durchaus sein, dass die Wirtschaft in den nächsten Jahren zusammenbricht. Könnte Sieben Linden dann Antworten auf die Krisen geben?

MS  Wir haben den Vorteil, dass wir bis zu einem gewissen Grad subsistent leben. Wir haben unsere Häuser und die Energie, um sie zu beheizen, wir haben Wasser, wir haben Bildung, Kultur und Nahrungsmittel, mit denen wir so halbwegs über die Runden kommen können. Aber wir sind natürlich keine abgelegene Insel, von der niemand weiß. Wieviele Menschen aus unserem näheren und weiteren Umfeld kämen im Fall einer Versorgungskrise wohl hierher?

DH  Heißt das, wir würden sie dann alle aufnehmen?

MS  Naja, bewaffnen werden wir uns jedenfalls nicht! Wichtiger und zukunftsbildender ist doch, dass wir uns als einen winzigen, aber wichtigen Teil einer globalen Bewegung verstehen, die überall Initia­ti­ven und Impulse zur Selbstversorgung und zur Krisenfestigkeit schafft; überall, in der Stadt, auf dem Land, in den Regionen, in der Verwaltung, in der Kultur und in der ­Bildung – überall. So dass ein Netz von immer mehr kooperierenden »Inseln« entsteht, die schließlich das Ganze von innen her transformieren.
Ein wichtiger Bereich ist die Frage der Gemeingüter. Wir hatten das Glück, für unser Projekt bezahlbares Land erwerben zu können. Kann es noch lange so bleiben, dass Privatbesitz für Menschen, die Land sinnvoll nutzen könnten, unzugänglich bleibt? Wir brauchen Gemeingüter in Städten und Dörfern, damit Menschen mit Ideen dort produktiv arbeiten können.

DH  Also werden wir sowohl untereinander als auch mit den Reformkräften innerhalb der Gesellschaft zukünftig stärker kooperieren müssen. Dieses Gespräch ist hoffentlich ein sinnvoller, kleiner Beitrag zu dieser Verständigung. Vielen Dank dafür an euch, auch dafür, dass wir bei all unserer Arbeit immer wieder Zeit für Gespräche finden.



Martin Stengel (43) hat seit 1996 aktiv am Aufbau des Ökodorfs Sieben Linden mitgewirkt: in der Siedlungsplanung, in der Geschäftsführung der Siedlungsgenossenschaft, im Gemeinschafts- und Nachbarschaftsaufbau, in Planung und Bau von Strohballenhäusern. Er ist Ingenieur für Energietechnik, Musiker, Chorleiter und Co-Leiter der Ecovillage Design Education. 

Eva Stützel (46) am nach vielen Jahren Pfadfinderarbeit, Engagement im BUND und Studium der Psychologie 1993 nach Sieben Linden. Dort arbeitete sie in wechselnden verantwortlichen Positionen und sammelte Erfahrungen mit fast allen für Gemeinschaftsprojekte geeigneten Rechtsformen: Verein, Genossenschaft, GmbH und Stiftung. Ihr Wissen gibt sie als Projektberaterin weiter.

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