»Halbinseln gegen den Strom. Anders leben und wirtschaften im Alltag«. So lockt mich ein Buch aus dem Ulrike Helmer Verlag. Die Autorin, Friederike Habermann, kenne ich nicht, aber nach einer angeregten Lesestunde will ich das schleunigst ändern. Wer hat hier so viele solidarische Wirtschaftsprojekte zusammengetragen? Subsistenzwirtschaft, Gemeinschaftsgärten, Volxküchen, Umsonstläden, Tauschringe, Ökodörfer, Finanzkooperativen, freie Universitäten, freie Radios, offene Werkstätten und vieles mehr. »Historikerin und Volkswirtin, Jahrgang 1967«, lese ich in Friederike Habermanns Biografie. Spannend klingt auch der Titel ihrer Dissertation: »Der Homo oeconomicus und das Andere. Hegemonie, Identität und Emanzipation.« Auf welche Weise »anders« lebt wohl diese Autorin? Selbstverständlich in einem Gemeinschaftsprojekt, dem Kiefernhain in der Nähe von Berlin. Bei einer unserer Fahrten in die Großstadt wollen Johannes Heimrath und ich sie besuchen.
»Solltet ihr abends gut gekleidet sein wollen, so nehmt euch für tagsüber noch etwas Robusteres mit – sonst riecht ihr nach Lagerfeuer.« So vorgewarnt, stapfen wir an einem regenkalten Maimorgen durch den tropfenden Kiefernwald auf dem Weg zu Friederikes Behausung. Dieser Ort ist wirklich sehr anders. »Es ist ein großer Unterschied, ob hier die Sonne scheint oder ob es regnet«, sagt Friederike zur Begrüßung fast entschuldigend zum etwas trostlosen Anblick der nassen Wägen, Schuppen und ehemaligen DDR-Baracken, zwischen denen ein paar stoisch wirkende Kapuzengestalten Tomatenpflänzchen sortieren und am Feuer unter einer riesigen, schwarzen Kohte Kaffee kochen. »Wir leben vor allem draußen«. Für uns hat sie einen warmen Ort vorbereitet, wo wir in Gesellschaft ihres Lebensgefährten Luis und dem großen Zottelhund Rocco heißen Tee trinken. Hier, im »Heileraum« der Gemeinschaft, fällt mir ein Buch über asiatisches Heilwissen ins Auge, hinterm Fenster eine Fahne mit dem Om-Zeichen über einer in Plastik verpackten Jurte. Wie verträgt sich das mit den coolen Anarcho-Sprüchen auf dem Eingangstor zum Gelände? »Es ist ein Platz, in den viele Welten passen«, lernen wir von Friederike.
Sie erzählt, wie sie vor fünfeinhalb Jahren hier gelandet ist. »Ich war barfuß über den Platz gegangen, fühlte mich sehr geerdet und beschloss: Hier will ich hin.« Gleichzeitig fand sie vieles furchtbar: Die unaufgeräumten Ecken, die weitgehende Abwesenheit verbindlicher Regeln – niemand ist in diesem Projekt für bestimmte Arbeiten eingeteilt, und es gibt keine regelmäßigen Versammlungen. »Doch nach zwei Monaten fand ich plötzlich alles toll. Und inzwischen finde ich die Prinzipien hier sehr verteidigungswürdig, weil es dem ›Alle nach ihren Fähigkeiten, alle nach ihren Bedürfnissen‹ ziemlich nahe kommt. Manche bringen sich mehr, andere weniger ein, darin steckt auch ein Konfliktpotenzial. Das Arbeitsprinzip ist aber das freiwillige Beitragen. Wir planen zum Beispiel nicht, wer kocht, und dennoch gibt es fast jeden Tag für dreißig Menschen Essen. Ich selbst sollte auch mal kochen, räume allerdings lieber die Bibliothek oder den Umsonstladen auf.«
Der Kiefernhain ist nicht ihr erstes Gemeinschaftsprojekt. Von 2000 bis 2003 lebte Friederike im Lebensgarten Steyerberg. »Ich habe aber die Menschen, die dort lebten, nicht wirklich kennengelernt, denn ich bin nur wegen meiner Freundin hingezogen. Wir lebten als Kleinfamilie mit ihren Kindern im Dorf. Das war sehr romantisch, eine schöne Zeit. Ganz in der Nähe von Steyerberg bin ich aufgewachsen – es war aber eher Zufall, dass ich dort gelandet bin.«
Indigener Widerstand in Lateinamerika Während ihrer Zeit im Lebensgarten Steyerberg verbrachte Friederike mehrere Monate in Argentinien. Im Auftrag der Stiftung Fraueninitiative erforschte sie, ob sich dort nach dem Zusammenbruch des Geldsystems in den armen Stadtvierteln alternative Formen von Ökonomie entwickelt hätten. Ihr Buch »Aus der Not eine andere Welt. Gelebter Widerstand in Argentinien« berichtet darüber. »Damals wurden sozusagen Ein-Euro-Jobs von der Regierung vergeben«, erzählt Friederike, »und die sozialen Bewegungen haben erstritten, dass sie diese Jobs untereinander koordinieren konnten, dass sie Produkte herstellen und sich die Waren gegenseitig verkaufen konnten. Leider entstand keine autonome Ökonomie, aber ich fand beeindruckend, was sich in den Köpfen änderte, was mit den Menschen passierte, die in Zeiten der Diktatur mit kaum jemandem außerhalb ihrer Familie Kontakt hatten und sich jetzt über ganze Stadtviertel hinweg mit anderen zusammentaten.« Mit zwei Kindern, die sie damals kennenlernte und deren Geschichte auch in ihrem Argentinien-Buch zu lesen ist, hält sie bis heute Kontakt. Silvano, der jetzt achtzehn Jahre alt ist, besucht sie diesen Sommer.
Mit Lateinamerika verbindet Friederike Schlüsselerlebnisse. Erstmals war sie 1996 dort, beim »Intergalaktischen Treffen« der indigenen Bewegung der Zapatistas im Urwald von Chiapas in Südmexiko. Eine Beziehung lag gerade hinter ihr, und die linke Tageszeitung »Junge Welt« hatte sie als Ressortleiterin für Wirtschaft auf die Straße gesetzt, weil sie »nicht marxistisch genug« argumentierte. Offen für Neues, ließ sie sich mit Haut und Haar zusammen mit 3000 Menschen aus 54 Nationen von der gewaltigen Aufbruchsstimmung in Chiapas ergreifen. Das Großereignis gehört zu den Anfängen jener Bewegung, die man gemeinhin als Anti-Globalisierungsbewegung bezeichnet. Friederike Habermann verzichtet aber ausdrücklich auf das »Anti«. Die Protestbewegung gegen den Neoliberalismus von westlich geprägten wie indigenen Aktivistinnen und Aktivisten weltweit sei die eigentliche »Globalisierung«.
Aus dem zapatistischen Impuls heraus gründete sich 1998 ein vitales Netzwerk namens »Peoples Global Action«, das weltweit Proteste gegen die Weltwirtschaftspolitik organisierte. Aber das wurde von der Öffentlichkeit ignoriert, besonders von den Medien in Deutschland. Als Pressekoordinatorin der Proteste anlässlich der WTO-Konferenz in Genf 1998 geriet Friederike an ihre Grenzen, als nicht einmal die »taz« begreifen wollte, dass es sich dabei nicht um eine vereinzelte Demo, sondern um eine weltweite, in vielen Ländern gleichzeitig stattfindende Aktion handelte. Als ein Jahr später die »Kölnische Rundschau« in ihrem Bericht über einen Protestmarsch der Interkontinentalen Karawane für Solidarität und Widerstand aus einer von Polizisten eingekesselten Gruppe von 500 indischen Bäuerinnen und Bauern kurzerhand »500 Autonome« machte, verzweifelte sie fast an der Stimmlosigkeit dieser »Anderen«. Aber dann kam Seattle 1999, das »Coming out« der Globalisierungsbewegung, als die dritte Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation aufgrund der Proteste erfolgreich blockiert wurde. Erstmals kamen die globalisierungskritischen Themen in die Presse. Doch für Friederike lohnt es sich nicht nur deshalb, für das »Gute« zu streiten: »Struggle for life is life« schrieb sie im Juli 2001 nach der als »chilenische« bekannt gewordenen Nacht in Genua beim G8-Weltwirtschaftsgipfel auf ihr Stirnband. Während die Polizei die als Schlafplätze genutzten Schulgebäude stürmte, hatte sie sich in einem Schrank eingeschlossen und Stunden voller Angst erlebt.
Heute ist sie zuversichtlich, dass Protestbewegungen etwas bewegen, auch die Frauen- und Friedensbewegung, in der sie als Jugendliche aktiv war. »Was soziale Bewegungen erreichen, ist vielleicht nicht auf den ersten Blick sichtbar, aber sie säen Samenkörner, die sich überall niedersetzen und unmerklich den Alltagsverstand der Menschen verschieben.«
Andere Ökonomie will gelebt sein Engagement für eine »bessere Welt« war schon als Kind in Friederikes Familie ein durchgängiges Lebensgefühl – beide Eltern, obwohl nie politisch aktiv, hatten aus ihrer Jugend im Zweiten Weltkrieg gelernt. Und vermittelten, dass die Alltäglichkeit des Lebens bedroht ist. Sie wünschte sich, wenigstens zehn Jahre alt werden zu können, bevor der Atomkrieg ausbreche. »Meine Mutter hat mich übrigens anthroposophisch erzogen«, sagt sie plötzlich und lächelt, als sei das überraschend. Wie ihre beiden älteren Geschwister engagierte sie sich in der evangelischen Jugend für Frieden und Gerechtigkeit. Sie erinnert sich, wie sie mit 13 ein Flugblatt entwarf, auf dem stand: »Während Sie diesen Satz lesen, verhungern zwei Menschen«. Doch das Kirchenamt wollte es nicht drucken. Ihr älterer Bruder blieb der Kirche verbunden, heute ist er Theologe in der Landeskirche Mecklenburgs. Friederike stieg aus, als sie erkannte, dass es viele Religionen und so viele Glaubensformen gibt wie Menschen. »Ich glaube an gar nichts«, sagt sie. »Auch nicht an Atheismus«.
Wie kam es, dass sie in die Höhle des Löwen wollte und ausgerechnet Volkswirtschaft als Studienfach wählte? »In einer Podiumsdiskussion mit einem Vertreter des Kieler Weltwirtschaftsinstituts musste ich mir schon mal den Satz anhören: ›Ihr Anliegen ist ja löblich, aber ich als Ökonom muss Ihnen sagen …‹. Da erwidern zu können: ›Und ich als Ökonomin sage …‹ – nun, dafür hat es sich gelohnt«, schmunzelt sie. Sie studierte bewusst nicht an einer linken Uni, etwa in Bremen, sondern in Hamburg. Neoliberale Wirtschaftstheorie stand auf dem Lehrplan. »Während meines Studiums konnte ich mir nicht vorstellen, dass es jenseits des Kapitalismus Alternativen gibt. Erst die Erfahrungen in der Globalisierungsbewegung haben mir neue Perspektiven eröffnet.« Am meisten leuchtet ihr als »anderer« Wirtschafts-Ansatz die gemeingüterbasierte Peer-Produktion ein. Deren Grundsätze sind Besitz statt Eigentum, Teilen, was geteilt werden kann, und Beitragen statt Tauschen.
Im Kiefernhain wird das in Teilen realisiert. Der offene Platz gehört einem Verein, der alle umfasst, die dort wohnen. Während wir im »Heileraum« miteinander sprechen, poltern zwei Männer mit Holzbohlen herein. Sie wollen den Fußboden renovieren. Das Holz stammt aus eigenem Wald, das Werkzeug gehört allen, das Geld für die Schrauben hat irgendwer organisiert, dem der Fußboden eben wichtig ist. Freilich hat die kapitalistische Marktwirtschaft die Schrauben hergestellt. Auch das »Containeressen« – sogenannte Abfälle, die keiner mehr haben möchte –, das die Grundversorgung im Kiefernhain sichert, stammt aus dem System. Kartoffeln kommen aber vom Karlshof, der nicht-kommerzielle Landwirtschaft betreibt. Da ist vom Pflanzen über das Wachsen bis zum Ernten und Verteilen alles geschenkt. Alle wollen Kartoffeln essen, die Leute vom Karlshof wollen sie anbauen – warum geht das nicht auch mit komplexeren Dingen?
Zu solchen Zukunftsfragen und zur Problematik von Herrschaftsverhältnissen, sei es Kolonialismus, Kapitalismus, Rassismus oder Sexismus, arbeitet Friederike mit Studieren-den an verschiedenen Universitäten. Ihr Unterricht orientiert sich an der »Educação Popular«, die Paolo Freire in den 70er Jahren entwickelte, um die Hierarchie zwischen Lernenden und Lehrenden aufzubrechen. Konsequent umsetzen wird sie das in ihrer Sommerakademie, die dieses Jahr erstmals stattfindet: eine Woche Thinktank mit Menschen jedes Alters, mit oder ohne Studium. Statt Texte zu lesen, soll gesprochen, gespielt und zusammen gekocht werden.
All das findet in Nischen statt, aber das macht nichts, findet Friederike. »Mit allem, was wir tun, um eine andere Welt zu erreichen, ob auf der Straße, in etablierten Organisationen oder auf kleinen ›Halbinseln‹: Letztlich kämpfen wir darum, den Alltagsverstand der Menschen zu verändern. Was möglich ist, hängt in erster Linie davon ab, was Menschen glauben, dass möglich sei.«
Friederike Habermann lesen »Halbinseln gegen den Strom« und »Aus der Not eine andere Welt« sind im Ulrike Helmer-Verlag erschienen. »Der Homo oeconomicus und das Andere« kam im Nomos-Verlag heraus.