Hintergründe zur aktuellen Diskussion um Geburtshilfe in Deutschland.
von Julia Vitalis, erschienen in Ausgabe #26/2014
Anna Virnich sieht das ganz anders: »Gottseidank! Endlich ist dem Wahnsinn ein Ende gesetzt«, bloggt die Hebamme auf »selbstgeboren.de« und spielt darauf an, dass die sich zuspitzende Entwicklung in den letzten Jahren zwar absehbar war, konkrete politische Schritte aber bisher nicht unternommen wurden. »Ich möchte die Möglichkeit, für 5000,– Euro ›Erlaubnisgebühr‹ Frauen bei ihren Geburten fachkundig begleiten zu dürfen, nicht mal geschenkt zurück. Der Schmerz, der jetzt spürbar wird, durch die drohende Auflösung unseres Berufsstandes, gammelt seit Jahren vor sich hin, und jetzt ist er endlich für alle sichtbar geworden.« Auf meine Nachfrage bei der Nürnberger erhielt ich lediglich eine Standardantwort per E-Mail, in der ich auf eine Stellungnahme des Gesamtverbands der Deutschen Versicherungswirtschaft verwiesen wurde. Dort war jedoch lediglich zu lesen, warum die Kosten für Geburtsschäden in den letzten Jahre so gestiegen seien. Anfang März gab es in vielen Städten Demonstrationen. Die zunehmende Intensität von Protestaktionen ist durchaus berechtigt, denn es geht um nichts Geringeres als eine gesellschaftliche Standortbestimmung in Bezug auf grundsätzliche Lebensfragen: Sind Geburt, Leben, Tod und schwere Behinderung kontrollierbar? Kann man sich dagegen versichern – und wenn ja, unter welchen Bedingungen? Gibt es überhaupt eine vollkommene oder auch nur eingeschränkte Sicherheit? Und besteht diese in perfekter Medizintechnik, in natürlicher Geburtshilfe oder in einer Kombination von beidem? In einem Focus-Artikel vom 28. Mai 2009 wird Frauen bereits bei einer Zwillingsgeburt oder Beckenendlage geraten, sich in ein Perinatalzentrum zu begeben. Die Kenntnisse, die nötig sind, um solche Geburten ohne Kaiserschnitt zu begleiten, werden immer weniger in der gynäkologischen Ausbildung vermittelt. Dabei wird stillschweigend in Kauf genommen, dass hier Menschheitswissen verlorengeht, welches bereits bei einem simplen Stromausfall dringend gebraucht würde. Dazu kommen handfeste wirtschaftliche Interessen: Eine Geburt mit Operation bringt schlicht mehr Geld als ein Kind, das zu Hause oder in einem Geburtshaus zur Welt kommt. Angebliche Sicherheit und die Illusion, den Tod vermeiden zu können, werden zu Standortargumenten – denn nicht nur Hebammenpraxen schließen, sondern auch kleinere Stationen, in denen noch originäre Geburtshilfe geleistet werden konnte. Dafür entstehen immer mehr große Perinatalzentren, die scheinbare Lösungen für alle Fälle bieten. Dass die Wege zu einer Klinik gerade in ländlichen Gebieten immer länger werden und dadurch ganz neue Risiken entstehen, ist eine weitere, bisher nicht wirklich beachtete Konsequenz.
Geburtshilfe vor Gericht Eine Spezialistin für Beckenendlagen war Anna R., Ärztin und Geburtshelferin mit 34 Jahren Berufserfahrung und rund 2000 Geburten – bis sie 2012 wegen Totschlags angeklagt wurde: Ein Kind kam unter ihrer Begleitung am 30. Juni 2008 tot zur Welt. Weltweit ist kein gleichartiger Fall bekannt; wenn es überhaupt dazu kommt, lautet die Anklage lediglich auf fahrlässige Tötung. Einer Frau, die sich bewusst für einen Beruf entschied, der zum Leben verhilft, wird hier eine Tötungsabsicht unterstellt. Anna R. saß über einen Monat in Untersuchungshaft, ihre berufliche Existenz ist ruiniert. Im Fall einer Verurteilung drohen ihr bis zu 15 Jahre Haft. Viele Menschen spendeten für die Kosten des langwierigen Prozesses. Eine gemeinsame Solidaritätskampagne der verschiedenen Hebammenorganisationen blieb jedoch aus. Auch wenn man die Politik der Hebammenverbände betrachtet, kann nicht von einem kooperativen, solidarischen Handeln gesprochen werden, das angesichts der aktuellen Situation durchaus angebracht wäre. Gegenwärtig erhält eine Hebamme die vorteilhafteren der ohnehin schon schlechten Versicherungskonditionen nur, wenn sie entweder beim »Deutschen Hebammenverband« (DHV) oder beim »Bund freiberuflicher Hebammen Deutschlands« (BFHB) Mitglied ist. Gegen die Beteiligung des kleineren »Deutschen Fachverbands für Hausgeburtshilfe« (DFH) an den bevorstehenden Gebührenverhandlungen mit den gesetzlichen Krankenkassen klagten die beiden größeren Verbände – und bekamen Recht. Nun soll der Gesetzgeber regeln, was ein »maßgeblicher Verband« ist. Scharfe Kritik dazu kommt von Claudia Kummert, die als freiberufliche Hebamme im Ruhrgebiet arbeitet. Die Verbände hätten im letzten Jahr einer Vergütungspauschale für Klinikgeburten in Höhe von 280,22 Euro zugestimmt – ganze sechs Euro mehr als zuvor. In den Medien wurde das als Erfolg gewertet: Die erhöhte Haftpflicht sei durch die neuen Honorare aufgefangen worden. »Es hat bis heute nicht einmal eine Gegendarstellung gegeben, dass das einfach nicht stimmt! Unsere Verbände handeln überhaupt nicht im Interesse der Mitglieder.« Claudia ist inzwischen bei 60 Wochenstunden angelangt, um sämtliche Ausgaben, die ihr Beruf mit sich bringt, zu finanzieren. »In Bezug auf die Haftpflicht«, fügt sie hinzu, »wird mit zweierlei Maß gemessen. Kliniken, die keine Versicherung mehr finden, werden nämlich nicht geschlossen. Über 100 Häuser in Nordrhein-Westfalen arbeiten inzwischen ohne eine Absicherung von möglichen Behandlungsfehlern.« Sie weist darauf hin, dass Einzelpersonen oder Organisationen sowohl auf deutscher als auch auf europäischer Ebene den Rechtsweg einschlagen können – denn laut § 24f SGB V ist die Wahl des freien Geburtsorts gewährleistet, so dass Schwangere beispielsweise wegen Versorgungsengpässen auf dem Land klagen könnten. Die Rechtsanwältin Nina Straßner lädt auf ihrem Blog »Juramama.de« schwangere Frauen ein, sich bei ihr zu melden, um eventuell eine Sammelklage in die Wege zu leiten. Beim Europäischen Gerichtshof wurde bereits 2010 der Klage einer ungarischen Mutter stattgegeben, die ihr Recht auf freie Wahl des Geburtsorts eingefordert hatte. Die sie begleitende Hebamme Ágnes Geréb war wegen der Begleitung von Hausgeburten in Haft gekommen. Eindrucksvoll ist dieser Fall im Film »Freedom for birth« dokumentiert.
Alternativen sind möglich Was das Dilemma um die Versicherungssituation in Deutschland betrifft, so ist Claudia zuversichtlich, dass es eine Lösung geben wird. Zum einen sieht sie die Möglichkeit eines von der Regierung finanzierten Fonds, wie es ihn in anderen Ländern bereits gibt: Für jedes Kind, das geboren wird, zahlt der Staat eine bestimmte Summe ein. Oder die drei Versicherungen, die derzeit das Haftpflichtrisiko alleine tragen, werden durch alle anderen Versicherungen darin unterstützt. Der kleine Berufsstand der Hebammen wäre in beiden Fällen von den Kosten befreit. Auch viele Details könnten sinnvoll geändert werden, meint Claudia. Als Beispiel nennt sie die Schadenssumme, die nach dem Gehalt der Eltern berechnet wird und daher bei Kindern, deren Eltern beispielsweise Professoren sind, viel höher ausfällt als in einer Arbeiterfamilie. Auch könne es nicht angehen, dass eine Klage bis zu 30 Jahren nach einem Todesfall erhoben werden kann, selbst wenn dann keine medizinischen Nachuntersuchung mehr möglich sei. Immer wieder wird deutlich, dass es sich um eine höchst emotionale Debatte handelt, bei der der berufliche und weltanschauliche Hintergrund, das Geschlecht und mitunter auch Machtinteressen für die jeweils geäußerte Position maßgeblich sind. Dabei wird lediglich über die zwei bis drei Prozent aller Geburten diskutiert, die überhaupt außerhalb von Kliniken stattfinden. Damit sich mehr Frauen für alternative Geburtsformen entscheiden und Ängste abbauen können, ist es Claudia »am wichtigsten, dass die Schwangerenvorsorge wieder in Hebammenhände statt in die einer Gynäkologin kommt. Als Hebamme bin ich die Fachfrau dafür.« Für Panik und Aktionismus hat sie schlicht keine Zeit. Auch Birte Laudien, Mitbegründerin des Geburtshauses Göttingen, ist der jahrelangen Proteste müde: »Ich möchte einfach nur meine Arbeit gut machen, unabhängig von jeder Entwicklung. Die Frauen brauchen mich. Ich mache weiter.« •
Julia Vitalis (38) ist Künstlerin und Heilerin in schamanischer Tradition. Sie engagiert sich für ganzheitliche, innovative Ansätze zur Lösung gesellschaftlicher Probleme.