Wolfram Nolte sprach mit Rike Martin über ihr Leben als Selbstversorgerin und Liedermacherin in Gemeinschaft.von Wolfram Nolte, erschienen in Ausgabe #26/2014
Rike, du lebst in der Gemeinschaft »Schloss Tempelhof«. Wann hat dich die Leidenschaft für Gemeinschaft und Selbstversorgung zum ersten Mal so richtig gepackt?
Romantisch verträumte Vorstellungen von Selbstversorgung und Gemeinschaft führten mich als Sechzehnjährige 1974 aus dem Elternhaus direkt in die Landkommune. Meine Ausbildung war das Leben; mit großer Leidenschaft lernte ich Gärtnern, lebte mit Ziegen, Pferden, ja einem ganzen Zoo an Nutztieren, um meine neue Wahlfamilie mit Nahrung zu versorgen. Autarkie schien uns der Weg zu einer selbstgestalteten alternativen Gesellschaft zu sein, die eine neue Lebenskultur erschafft.
Mit welchen Herausforderungen saht ihr euch konfrontiert?
Gemeinsames Eigentum, freie Kommunikation, offene Beziehungen – die Werte, für die wir standen, brachten ihre Schattenseiten mit sich, und vor allem die Ohnmacht, damit umzugehen. Wir hatten kein »Forum«, keinen »Scott-Peck-Prozess« und keine Erfahrung darin, Kommunikation so zu gestalten, dass sie Klarheit und Nähe erzeugte. Voller jugendlicher Leidenschaft und Verwirklichungskraft stürzten wir uns in das Experiment Gemeinschaft. Das war vor vierzig Jahren – zu einer Zeit, in der gemeinschaftliches Zusammenleben und biologische Landwirtschaft noch am Rand der Gesellschaft stattfanden. Es gab die ersten Bioläden und 1987 mit dem Buschberghof den ersten Demeterhof in Deutschland, der die Idee der Selbstversorgung als CSA-Betrieb (gemeinschaftlich getragene Landwirtschaft) umsetzte.
Wie ging dein Leben weiter?
Nach acht Jahren Landkommune wollte ich die Welt auch aus anderen Perspektiven kennenlernen, habe in einer Praxisgemeinschaft mitgewirkt, Seminare organisiert, lebte von Straßenmusik und vielen Jobs. Aber schon bald entdeckte ich meine alte Leidenschaft – das Gärtnern – wieder und stellte in verschiedenen Gemeinschaften fest, dass sich meine tiefe Verbindung zum Land, zur Erde, zu den Pflanzen immer weiter verstärkt hatte. Eine solche Liebesbeziehung geht in der profitorientierten Marktwirtschaft und im intensiven Anbau mit Maschinen leicht verloren. Gewerbliche Landwirtschaft mit anonymer Vermarktung interessierte mich nie. Nach meinem Empfinden gehören zu einem Hof die Menschen, die er ernährt. Die Landwirtschaft war schließlich ein wesentlicher Grund für mich, mit fünfzig Jahren noch einmal loszuziehen, um eine Gemeinschaft aufzubauen, die die Selbstversorgung auf ein gemeinsam finanzierbares Fundament und die geistige und soziale Verbindung in den Mittelpunkt stellt.
Wie bist du dann in der Gemeinschaft Schloss Tempelhof gelandet?
In München begegnete ich im Jahr 2007 Menschen, die ähnliche Visionen hatten wie ich. Nach drei Jahren Gründungszeit und Suche nach dem geeigneten Objekt fanden wir den Tempelhof bei Crailsheim. Was in meiner Jugendzeit aus der Idee des Andersseins geboren war, erforschen und verwirklichen wir nun in einer Zeit, in der gelebte Alternativen willkommen sind und als notwendig erkannt werden. Ich war von Anfang an überrascht und erfreut, wie viel wir alle in den letzten Jahrzehnten gelernt haben – über den Wert einer gestalteten Kommunikation, die gemeinschaftsbildend und integrierend ist, über Entscheidungsstrukturen und solidarische Systeme. Wir haben und wollen keine gemeinsame Ideologie und bezeichnen uns als »Group of all Leaders«. Wie heißt es in der Oya vom Oktober 2010: »Viel interessanter als ein Haufen Gleichgesinnter ist doch eine Gemeinschaft der Ungleichgesinnten.« Am Tempelhof bin ich zur Liedermacherin geworden; ich fing dort an, meine Gedanken und Visionen zu einem Leben in Gemeinschaft in Liedern umzusetzen. In unserer Gegend nennt man mich mittlerweile die »singende Gärtnerin«.
Wurde deine Vision einer gemeinsam gestalteten Landwirtschaft umgesetzt?
Ja, und wir entwickeln uns ständig weiter. Tempelhof ist ein kleines Dorf, umringt von 26 Hektar arrondiertem Land – der Traum einer Selbstversorgerseele. Unser Land ist nicht in Privatbesitz, es gehört der »Schloss Tempelhof Stiftung«, ist vor Spekulation geschützt und an eine biologische, nachhaltige Bewirtschaftung gebunden. Unser Landwirtschaftsteam erarbeitete ein Konzept und erstellte einen Finanzierungsplan. Parallel baute das Küchenteam seinen Bereich auf, um Gemeinschaftsmitglieder, Seminarteilnehmer und Gäste zu bekochen. Konzept, Teams und Finanzierung wurden mit der Gemeinschaft besprochen und nach längeren Prozessen im Dorfplenum entschieden. Im Unterschied zu anderen CSA-Höfen in Deutschland, die von Menschen aus Regionen getragen werden, leben wir hier lokal in einem Projekt zusammen – wir sind weit mehr verbunden, treffen und tragen Entscheidungen, die sich auf unser Gemeinschaftsleben nachhaltig auswirken. Allein die Frage »Wollen wir Selbstversorgung?« beschäftigte uns in den Anfangszeiten in zahlreichen Plenen, erforderte Klärung, was so etwas mit sich bringt und welche Fragen es weiter aufwirft. »Wollen wir im Dorf schlachten?« – Das Bewusstsein dafür, dass wir, wenn wir Milchprodukte und Eier essen wollen, auch Fleisch produzieren, musste erst einmal geweckt werden. »Was heißt es, sich regional zu ernähren?« – Sind wir bereit, im Winter viel Kohl und Wurzelgemüse zu essen? Als diese Fragen geklärt waren und die Finanzierung stand, kam der spannendste Teil: »Sind wir als Gemeinschaft bereit, die Kosten zu tragen?« Im Frühjahr 2011 war alles soweit beraten und entschieden, und das Pionierteam bekam das »Go!«. Wir kauften eine alte Gärtnerei samt Gewächshäusern und Arbeitsgeräten auf, der Schweinestall wurde zum Ziegenstall umgebaut, und wir erkundeten die Erde des Landes, das uns anvertraut worden war und uns nachhaltig ernähren sollte. – War das eine Freude, als der erste Ziegenkäse auf dem Buffet lag! Während wir im ersten Jahr noch von der Landwirtschaft an die Küche verkauften und schon bei 50 Prozent Selbstversorgung angelangt waren, starteten wir in das nächste Jahr mit solidarischer Landwirtschaft – CSA – inklusive Küche. »Unsere Produkte verloren ihren Preis und gewannen ihren Wert zurück«, wie Wolfgang Stränz vom Buschberghof so schön sagt.
Du bist ja auch Teil des »Netzwerks Solidarische Landwirtschaft« …
Ich lud Wolfgang an den Tempelhof ein, um in einem Vortrag der Gemeinschaft und interessierten Menschen aus der Region das Prinzip der solidarischen Landwirtschaft näherzubringen. Er brachte uns mit dem Netzwerk in Kontakt, das vor drei Jahren gegründet wurde, als die Bewegung wuchs und dies Vernetzung, Erfahrungsaustausch und Beratung erforderlich machte. Innerhalb kurzer Zeit entstand so eine zentrale Anlaufstelle für Landwirte und Verbraucher, für Neugründungen und bestehende Projekte sowie für die Presse. Wer eine »SoLaWi« gründen will, sammelt Gleichgesinnte um sich und kann sich dann an das Netzwerk wenden. Die Aktiven dort entwickeln gerade ein Starterpaket mit Powerpoint-Präsentation, Kurzfilm, Pressemappe und Broschüren, damit neue Initiativen Werbung machen und Infoabende veranstalten können. Es gibt auch eine Liste der vorhandenen Höfe und Initiativen; eine interaktive Karte, über die Landwirte und Verbraucher zusammenfinden können, ist im Aufbau. Zweimal im Jahr finden Treffen für alle bestehenden Betriebe und Interessierte statt, die mit sechzig bis hundert Teilnehmern großen Anklang finden. Bei der diesjährigen Frühjahrstagung wurden regionale Gruppen gebildet, die sich austauschen und Ansprechpartner für interessierte Menschen vor Ort sind. Finanziert wird das Netzwerk über Mitgliedsbeiträge und Förderungen.
Was hast du persönlich mit dem Netzwerk zu tun?
In diesem Jahr bin ich nicht in der Landwirtschaft, sondern arbeite aktiv im Netzwerk mit; ich bin im Seminarhaus am Tempelhof tätig und entwickle meine Musik weiter. Im Mai letzten Jahres habe ich meine erste CD herausgebracht.
Kann die SoLaWi ein Modell für die gesamte Gesellschaft sein?
Allein die Tatsache, dass sich der Großteil unseres Landes in den Händen von rein wirtschaftlich ausgerichteten Großbauern und Konzernen befindet, lässt das Bild einer flächendeckenden solidarischen Landwirtschaft zumindest in weite Zukunft rücken. Es braucht auch eine hohe Bereitschaft der Landwirte, ständig in Kontakt mit den Verbrauchern ihrer Erzeugnisse zu sein. Solidarische Landwirtschaft ist nicht die Lösung aller Probleme. Auch am Tempelhof überprüfen wir immer wieder, was wir verbessern können. In diesem Jahr haben wir etwa ein Konzept für Humusaufbau entworfen, für dessen Umsetzung wir auf Sponsoren angewiesen sind. Wichtig ist nach meinem Empfinden, dass wir alle die Verantwortung für unsere Erde und unsere Ernährung an uns nehmen und das nicht den Landwirten und der Anonymität der Marktwirtschaft überlassen. •
Rike Martin (55), ist leidenschaftliche Gärtnerin, lebt in der Gemeinschaft Schloss Tempelhof und macht ihre eigenen Lieder. www.rike-martin.de.