Titelthema

Die Ware Leben

Die Gefahren der »Bioökonomie« rufen nach einer neuen Ethik.von Matthias Fersterer, erschienen in Ausgabe #27/2014
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Jahr für Jahr werden weltweit rund dreihundertzwanzig Milliarden – in Zahlen: 320 000 000 000 – Kilogramm Fleisch zum Zweck des Verzehrs produziert. Aufeinandergetürmt ergäben diese ein Gebirgsmassiv aus Tierleibern, dessen Gesamtgewicht das der Weltbevölkerung überstiege. Diesen Fleischberg bilden 65 Milliarden Mitgeschöpfe. Tagtäglich werden 35 000 Hektar Wald gerodet, jeden Tag wird die Biodiversität um 150 Arten reduziert. Gleichzeitig wuchern monokulturelle Agrarwüsten mit totgespritzten Böden, auf denen ohne Kunstdüngung kein Blatt mehr wüchse. Leben – von der genmanipulierten Zelle zum »Humankapital« – ist nichts Heiliges mehr, sondern wird zu »Biomasse«, die beliebig instrumentalisiert und kapitalisiert werden kann: Willkommen in der schönen neuen Welt der »Bioökonomie«!
Man sagt, der beste Trick des Teufels war es, der Welt weiszumachen, es gäbe ihn gar nicht. Einen teuflisch cleveren Winkelzug ersonn auch der von der Bundesregierung eingerichtete »Bioökonomierat«: Angesichts der begrenzten gesellschaftlichen Akzeptanz von Gentechnik, Massentierhaltung und Monokulturanbau wurde die totale Kapitalisierung des Lebens in »Bioökonomie« umgetauft. Dieser wohlklingende Name hat nichts mit gutem Leben zu tun, sondern bezeichnet »die Umwertung alles Lebendigen auf den Rohstoff ›Biomasse‹«.
Nachzulesen ist diese verheerende Entwicklung in Franz-Theo Gottwalds und Anita Krätzers brisanter und aufschlussreicher Schrift »Irrweg Bioökonomie«. Bei aller Dringlichkeit und persönlichen Betroffenheit ist ihre »Kritik an einem totalitären Ansatz« sorgfältig recherchiert und argumentiert. Sie zeichnet unheilvolle Verflechtungen zwischen Politik, Wirtschaft und Forschung nach und deckt Infiltration und Desinformation auf. So entlarvt das Autorenduo das Vokabular der Bioökonomie als Orwell’sches »Neusprech«: aus »Lobbyist« wird »Politikberater«, aus »Mitgeschöpf« »Nutztier«, aus »Ackergift« »Pflanzenschutzmittel«, aus »Genmanipulation« »Biotechnologie«, aus »Pflanze« »Bioenergiemasse« … Mit schönfärberischen Worten und demagogischen Parolen wird die Bioökonomie als alternativlos deklariert. Dabei gibt es durchaus Alternativen, wie Michael Braungarts »Cradle to Cradle«-Prinzip, Gunter Paulis »Blue Economy« und Karl Ludwig Schweisfurths »symbiotische Landwirtschaft«, die zu ignorieren »politisch fahrlässig« wäre, resümieren die Autoren.
Franz-Theo Gottwald und Andrea Krätzer eröffnen eine überfällige Debatte. Dafür gebührt ihnen Dank und Respekt – und auch dafür, dass sie ihr Buch, das sachgerecht die Realpolitik herausfordert, auf ethischen Überlegungen begründen, vor denen ihr persönlicher Schmerz über die Entwicklung erkennbar wird. Die Frage, auf welcher ethischen Grundlage eine Gesellschaft gedeihen könnte, die Leben nicht ausbeutet, sondern fördert, steht somit im Raum. Eine solche – noch zu verfassende – Ethik wäre eine dringend benötigte Ergänzung zu dieser mutigen und augenöffnenden Streitschrift.
Ein wichtiger Vordenker dieser Ethik der Verbundenheit – die holistisch wäre, weil sie sich auf das Leben als Ganzes bezöge, die keine willkürliche Grenze zwischen würdebegabtem und auszubeutendem Leben zöge, und die den Menschen nicht über die restliche Natur stellte – ist der Arzt, Philosoph und Organist Albert Schweitzer. Vom Ausbruch des Ersten Weltkriegs überschattet und von allem, was er aus der Philosophie über Ethik wusste, im Stich gelassen, entwickelte er seine Lehre von der »Ehrfurcht vor dem Leben«. 100 Jahre später hat uns dieses Denken, das seiner wie auch unserer Zeit voraus war, erstaunlich viel zu sagen. Als Ethik definiert Schweitzer »die Ehrfurcht vor dem Willen zum Leben in mir und außer mir«. Frieden in der Welt könne nur einkehren durch eine »Ethik des Erlebens der ins Grenzenlose erweiterten Verantwortung gegen alles, was lebt«. Dass es in Schweitzers Denken keine »tote Materie« gibt und sich diese Verantwortung prinzipiell auf alles erstreckt, führt unweigerlich zu lebenspraktischen Konflikten; diesen gälte es aber gerade nicht auszuweichen, denn »in der Wahrheit sind wir, wenn wir die Konflikte immer tiefer erleben. Das gute Gewissen ist eine Erfindung des Teufels.«
Einen Aspekt unseres trügerisch guten Gewissens fordert der politische Ökonom Károly Henrich in der bemerkenswerten Sammlung »Der Stein als Bruder« heraus: Beiträge zwischen Geo­logik, Geoethik und Geo­poetik stellen die verbreitete Auffassung, Steine seien bloß unbelebtes Material, in Frage. Als Wesen, die selbst zu einem nicht unbeträchtlichen Teil aus Mineralien bestehen, sind wir den Steinen womöglich näher, als wir meinen. Kulturwissenschaftler ­Fridolin Stähli bricht eine Lanze für eine holistische Perspektive auf Gestein, und der politische Ökologe Peter Cornelius Mayer-Tasch wirft die Frage auf, was wir den Steinen schulden – »wie wir ihnen das danken können, was wir ihnen verdanken«. Anknüpfend an Christopher D. Stones »Haben Bäume Rechte?«, fragt Roderick Nash »Haben Felsen Rechte?«. Erst wenn vielen eine solche Frage nicht mehr lächerlich erscheine, könne sich unsere Wertestruktur wandeln und uns ermöglichen, die sich verschärfende ökologische Krise zu wenden, schrieb der Umwelt­ethiker in seinem 1977 verfassten Essay. Vier Jahrzehnte später bleibt zu sagen: Es ist höchste Zeit. •

 

Irrweg Bioökonomie
Franz-Theo Gottwald und Andrea Krätzer
Suhrkamp, 2014
176 Seiten
ISBN 978-3518260517
14,00 Euro

Der Stein als Bruder
Karoly Henrich (Hrsg.)
Kassel University Press, 2009, 231 Seiten
ISBN 978-3899587845
24,00 Euro
Kostenfreier Downloadwww.upress.uni-kassel.de

Die Ehrfurcht vor dem Leben
Albert Schweizer
C.H. Beck, 2013
167 Seiten
ISBN 978-3406587795
9,95 Euro

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