Literatur

Das Leben Montaignes

von Matthias Fersterer, erschienen in Ausgabe #25/2014
Photo

Wie soll ich leben?

Um den Jahreswechsel 1569/1570 erlitt Michel Eyquem de Montaigne (1533–1592) einen Reitunfall, der ihn an die Schwelle des Todes führte. Glaubt man seiner Beschreibung – ein »hauchzartes Empfinden«, »jedes Unbehagens bar«, »von der wohligen Süße durchdrungen, die man verspürt, wenn man in den Schlaf hinübergleitet« –, so hat er in jenem Augenblick die Angst vor dem Tod überwunden. In jener Erfahrung vermutet Sarah Bakewell einen entscheidenden Wendepunkt, der dazu beigetragen haben mag, dass er seine öffentlichen Ämter niederlegte und sich in den Rundturm des Familienanwesens in der südwestfranzösischen Provinz Périgord zurückzog.

In seinen verbleibenden zwei Lebensjahrzehnten brachte er zahllose »Versuche« (»Essais«) zu Papier, die in ihrer entwaffnenden Aufrichtigkeit, tiefen Lebenszugewandtheit und stoischen Losgelöstheit von den Umständen bis heute ihresgleichen suchen – und nebenbei ein neues literarisches Genre begründeten. Sein Thema war das Leben, sein Studienobjekt er selbst. Die grobmaschigen Assoziationsketten, die er mit stilistischer Eleganz strickte, reichen vom Spiel mit der Katze (»Woher weiß ich, dass sie nicht mit mir spielt?«) über Berichte aus der Neuen Welt (»Über die Menschenfresser und ob unsere Foltern nicht barbarischer sind«) bis hin zu den eigenen Winden (»Ich kenne einen Hintern, der derart turbulent und ungebärdig ist, dass er seinen Herren seit vierzig Jahren ohne Unterlass zu furzen zwingt …«).

In ihrer hochoriginellen und erfrischenden Biografie stellt Bakewell den ersten Essayisten im Spiegel einer Frage – »Wie soll ich leben?« – und zwanzig aus dessen Werk destillierten Antworten vor – die erste: »Habe keine Angst vor dem Tod!«, die letzte: »Das Leben sei die Antwort!« Dabei gelingt es ihr, sich dem Autor mit dessen eigenen Mitteln zu nähern: So wie er seine Widersprüchlichkeit und Skepsis zur Lebensmaxime erhob, versucht auch sie keine endgültigen Deutungen und bewahrt sich stets jene heitere Gelassenheit, die auch Montaigne zu eigen war. Bakewells Biografie ist ein wahrer Glücksfall. Sie macht einen auf geradezu freundschaftlich intime Weise mit »Micheau« bekannt, zeigt seine Wirkung auf die Spätrenaissance wie auf nachfolgende Zeitalter und führt eine neue Generation von Leserinnen und Lesern an Montaigne heran. Besonders lohnend ist die Lektüre in Verbindung mit Hans Stiletts frischer und erstmals vollständiger Übersetzung der »Essais«.

 

Das Leben Montaignes
In einer Frage und 20 Antworten.
Sarah Bakewell
C.H. Beck, 2013, 416 Seiten
ISBN 978-3406656293
14,00 Euro

weitere Artikel aus Ausgabe #25

Photo
Gemeinschaftvon Solveig Feldmeier

Sicherer Hafen, offene See

»jung.weiblich.engagiert in Sachsen-Anhalt« – so heißt die Image-Kampagne, die Diana Neumerkel kürzlich für den Landesfrauenrat Sachsen-Anhalt konzipiert und gestaltet hat. Die postulierten Eigenschaften treffen auch auf die Absolventin des Studiengangs

Photo
von Sylvia Babke

Die rote Blume (Buchbesprechung)

»Die rote Blume« bietet Akteurinnen und Akteuren in jeder Art von Organisation, Gemeinschaft oder Tätigkeitsfeld vielfältige Anregungen, im zukunftsfähigen Sinn in das Handeln zu kommen. Das Sach- und Praxisbuch ist als Dialog zwischen den Autorinnen gestaltet. Die

Photo
Literaturvon Matthias Fersterer

Das Leben Montaignes

Wie soll ich leben? Um den Jahreswechsel 1569/1570 erlitt Michel Eyquem de Montaigne (1533–1592) einen Reitunfall, der ihn an die Schwelle des Todes führte. Glaubt man seiner Beschreibung – ein »hauchzartes Empfinden«, »jedes Unbehagens bar«, »von

Ausgabe #25
Gemeinschaft

Cover OYA-Ausgabe 25
Neuigkeiten aus der Redaktion