von Matthias Fersterer, erschienen in Ausgabe #23/2013
Ein Mann und ein Junge erreichen ein fremdes Land. Der Junge wurde von seinen Eltern getrennt, der Mann nimmt sich seiner mit zarter Bestimmtheit an. Über das Au anglager Belstar erreichen sie die Stadt Novilla. Jeder kam hier einst als Fremder an, niemand erinnert sich an ein Davor. Wie allen werden ihnen Namen zugewiesen: »Símon« dem Mann, »David« dem Jungen. Alles wirkt seltsam schal und blutleer. Das Leben wird von einer universellen Gerechtigkeit beherrscht, die in ihrer Gleichmacherei und Ordnungssucht an eine kafkaeske Bürokratiemaschinerie erinnert. Trotz ihrer Erinnerungslosigkeit tragen die beiden Gewissheiten in sich: Der Mann weiß, er wird die Mutter des Jungen erkennen, wenn er sie sieht, der Junge sprengt aus innerer Notwendigkeit heraus alle Konventionen samt Schulsystem dieses Nicht- Orts. Am Ende werden sie Novilla auf dem Weg in ein neues Leben verlassen.
Das neue Werk des Literaturnobelpreisträgers J. M. Coetzee ist zutiefst rätselhaft. Besser, man versucht gar nicht erst, daraus schlau zu werden. Dennoch stellt sich bald das Gefühl ein, alles sei exakt am rechten Platz in diesem Roman, vom dem ein opakes Leuchten ausgeht, dem man sich schwer entziehen kann. Durchgängig bewegt sich der formal streng realistische Erzählmodus atmosphärisch dicht am Sur realen, etwa wenn von einem riesigen Getreidesilo voller Ratten oder einem sterbenden Pferd, dem der Junge neues Leben einhauchen will, erzählt wird. An einer bezeichnenden Stelle warten die Neuankömmlinge auf Einlass in eine abgeschlossene Zwischenunterkunft. Ob es keinen »Universalschlüssel « gäbe, fragt der Mann in gebrochenem Spanisch, der Landessprache. Einen »Generalschlüssel«, wird er in korrektem Spanisch verbessert, gäbe es nicht, und so etwas wie ein »Universalschlüssel« existiere nicht. – »Hätten wir einen Universalschlüssel, wären all unsere Sorgen vorüber.« Ähnlich mag es Lesern ergehen, die versuchen, Coetzees Roman zu ergründen. Kein Schlüssel will so recht ins Schloss passen: Flüchtlingsgeschichte, apokryphe Dichtung, Parabel auf diesen oder jenen Ismus – jeder Versuch einer Einordnung stößt bald an Grenzen. Den vielleicht besten Lektüreschlüssel lieferte der Autor selbst bei einer Lesung in seiner Geburtsheimat Kapstadt: »Ein wenig im Dunkeln zu tappen, hat noch niemandem geschadet.« Dieser Weg durchs Dunkel ist in jedem Fall ein Gewinn.
Die Kindheit Jesu J. M. Coetzee S. Fischer, 2013, 352 Seiten ISBN 978-3100108258 21,99 Euro
Weiterlesen: Franz Kafka: Vor dem Gesetz • J. M. Coetzee: Elizabeth Costello • Miguel de Cervantes: Don Quixote