Titelthema

Entwachstum

Mit der 4. Internationalen Degrowth-Konferenz kann dem deutsch­sprachigen Raum der Anschluss an eine kraftvolle Bewegung des Wandels gelingen. Denn Degrowth ist mehr als Postwachstum!von Andrea Vetter, erschienen in Ausgabe #28/2014

Fast ein Jahr lang saßen sie im Wald am Rhein – Frauen, Männer und Kinder. »Nai hämmer gsait!« - »Wir haben Nein gesagt!«, das war ihre Losung gegen das geplante Atomkraftwerk bei Wyhl, einem Dorf in Südbaden. Sie haben gewonnen: 1975 rückten die Bagger an, aber es wurde nie gebaut. Ein Gedenkstein unter Buchen und Pappeln erinnert an das unmöglich Geglaubte: die Menschen vor Ort – Bäuerinnen, Winzer, Hausfrauen, Handwerker – von der französischen und deutschen Rheinseite haben zusammen mit Studenten und Besucherinnen aus aller Welt mit ihrer Anwesenheit verhindert, dass der Ort zu einer tickenden Zeitbombe wurde. Einer, der damals dabei war, Bernd Nössler, hat eine Visitenkarte mit einem Motiv aus den Bauernkriegen des 16. Jahrhunderts: »Das Kämpfen geht immer weiter«, sagt er, als er Markus die Karte überreicht. Markus ist mit der »Velokarawane« (siehe Seite 36) zu Besuch am Rhein – junge Leute fahren von Genf nach Leipzig zur 4. Internationalen Degrowth-Konferenz, die Wachstumskritikerinnen aus aller Welt einlädt. Das Gespräch mit Bernd verdeutlicht ihnen, in welchen Dimensionen eine Umkehr des Wachstumspfads von Wirtschaft und Gesellschaft zu denken ist: Es ist immer noch das gleiche Ringen wie vor 40 oder 500 Jahren, in dem sich Menschen gegen lebensfeindliche Strukturen stellen. Bernd und seine Frau Waltraud freuen sich über die Begegnung – dass es heute wieder und immer noch Menschen gibt, die das Andere, das vielleicht unmöglich Scheinende zu einer Möglichkeit machen wollen.
Die Degrowth-Bewegung stellt sich anderen Herausforderungen als denjenigen bei der direkten Besetzung eines Platzes: In die Wachstumswirtschaft sind wir alle verstrickt – mit unserer Haftpflichtversicherung, die auf Rendite an der Börse angewiesen ist; mit dem Arbeitsplatz, der nur bleibt, wenn das Unternehmen wächst; mit dem Computer, der unter menschenunwürdigen Bedingungen hergestellt wurde. Wie lässt sich dieser Filz begreifen und entwirren? Mit dieser Frage beschäftigen sich die volkswirtschaftlichen, kulturwissenschaftlichen und soziologischen Überlegungen zu Degrowth. Was aber ist der Kern dieser Über­legungen – und was bedeutet »Degrowth« oder »Entwachstum«?

Entwachstum als Kritik
Degrowth ist zunächst eine Kritik des bestehenden Gesellschaftsmodells, das auf Fortschrittsdenken und Wirtschaftswachstum basiert. Die Erkenntnis, dass es auf einem endlichen Planeten kein unendliches Wachstum geben kann – auch kein unendliches Wirtschaftswachstum – ist nicht neu. Sie wurde bereits in den 1970ern breit diskutiert, als Umweltschäden immer deutlicher sichtbar wurden und viele junge Menschen nach 1968 den Sinn des Immer-mehr-Anhäufens grundlegend in Frage stellten. Die »Lösung« dieser ersten Welle von Wachstumskritik wurde in den späten 1980er Jahren mit der Formel der »nachhaltigen Entwicklung« und später des »qualitativen Wachstums« sowie der »ökologischen Modernisierung« gefunden. Alle drei Begriffe sollen ausdrücken, dass Wachstumswirtschaft und Ökologie zusammenpassen können, wenn Wirtschaftswachstum zum Beispiel dabei hilft, innovative Techniken wie Windkraft und Solarenergie zu entwickeln. Das klingt gut – hat aber den Haken, dass es nicht funktioniert. Zwar gibt es heute große Windparks, aber es wird auch immer mehr Strom verbraucht. Ressourcenverbrauch und Abfälle in Form von giftigen Gasen, Schlamm, Sondermüll und vielem anderem haben in den vergangenen Jahren weltweit weiter zugenommen. Der Klimawandel ist in vollem Gang, so dass ein »Weiter so!« immer gefährlicher wird. Die Bemühungen um »nachhaltige Entwicklung« haben keineswegs zu mehr Frieden oder zur Erfüllung von Grundbedürfnissen geführt – es gab noch nie so viele hungernde Menschen wie heute, und die Anzahl der Kriege, die einem täglich in den Medien entgegenschreit, ist entsetzlich.
Angesichts dessen erscheint es logisch, dass mit dem Material­verbrauch auch die Wirtschaft insgesamt schrumpfen muss. Das ist allerdings nicht so einfach, denn die Wachstumslogik ist das Herz des kapitalistischen Wirtschaftens; unter Konkurrenzdruck und Rationalisierungszwang müssen überall die Umsätze wachsen, damit Betriebe nicht untergehen – von der Schuhfabrik bis zum Biobauernhof. Das Kindergeld ist von der Wachtumslogik genauso abhängig wie die Rente, und selbst so etwas wie ein Grundeinkommen ist ohne Wachstum kaum denkbar. Eine auf Wachstum ausgerichtete Gesellschaft, deren Wirtschaftsleistung stagniert oder schrumpft, gleitet in die Rezession: Die Erwerbsarbeit sinkt, das Steueraufkommen bleibt aus, die Verschuldung nimmt dramatische Züge an, die Investitionen stagnieren. Der soziale Frieden und die Demokratie sind gefährdet. Das Schicksal Griechenlands steht früher oder später allen modernen Industriegesellschaften bevor; viele haben seit Jahrzehnten fallende Wachtumsraten. So stehen die Industrieländer vor der Alternative einer dauerhaften Rezession oder einer radikalen Veränderung der Strukturen hin zu einer gerechten und von Wirtschaftswachstum unabhängigen Gesellschaft.
Hinter dem Begriff »Degrowth« steht nicht nur eine Kritik am Bestehenden, sondern auch eine Vision, wie eine wachstums­unabhängige Gesellschaft aussehen könnte, ebenso wie Vorschläge für einen Transformationspfad, wie dorthin zu gelangen wäre.

Degrowth als Vision
Um hier kreative Ideen zu entwickeln, meint der französische Wirtschaftswissenschaftler Serge Latouche, stehe eine »Entkolonialisierung des Imaginären« an: Wir müssten unsere Vorstellungskraft von der Wachstumssucht befreien und den Rahmen des Vorstellbaren erweitern, indem wir uns andere »Geschichten« erzählen und andere Lebens- und Wirtschaftsweisen ausprobieren. Der Horizont verschiebt sich bekanntlich beim Gehen, und Erfahrungen hängen mit Vorstellungskraft zusammen.
Visionen für eine Gesellschaft ohne Wirtschaftswachstum gibt es viele – es existiert nicht »die eine« Degrowth-Gesellschaft oder -Ökonomie. Aber es gibt viele Gedanken dazu, wie einzelne Bereiche anders organisiert werden könnten.
Das beginnt bei der Energieversorgung: Degrowth-Konzepte sind sich einig, dass es bei der Energiewende um massive Einsparungen gehen muss, und nicht nur darum, den Energieträger auszutauschen. Warum brauchen wir Laubblasgeräte, wenn es Besen gibt? Es geht weiter bei der Mobilität: Wie könnte eine autofreie Stadt mit einem Nahverkehrssystem aus Fahrrädern, Lastenrädern und Straßenbahnen aussehen? Und wie steht es um die Welternährung, die aus Degrowth-Sicht nur in einer kleinbäuerlich bzw. solidarisch organisierten, ländlichen wie urbanen ökologischen Landwirtschaft gesichert werden kann?
Für den Bereich der Arbeit bedeuten solche Entwicklungen, dass der Gegensatz zwischen Lohnarbeit und anderen Arten von Arbeit – wie das Sorgen für das Gemeinwesen oder für andere Menschen –aufweicht: Es entsteht wohl eher eine ­Tätigkeitsgesellschaft, wie Christine Ax es genannt hat. Damit verbunden ist auch die Frage der Geschlechterverhältnisse: Es gibt konservative Wachstumskritiker wie Meinhard Miegel, die bei einem Rückgang an bezahlter Arbeit vor allem die Frauen in der Pflicht sehen, wieder an den Herd zurück­zukehren. Emanzipatorische Vorstellungen einer Degrowth-Gesellschaft fragen dagegen, wie die Fürsorgetätigkeiten jenseits von Marktgeschehen gemeinschaftlich ­organisiert werden können.
Deutlich wird an diesen Beispielen, dass die Vision einer Degrowth-Gesellschaft eine tiefgehende Veränderung von kulturellen Leitbildern, von Lebensweisen und Vernunftbegriffen wagt. Sie meint weniger Askese oder Verzicht als ein kluges Besinnen auf das, was wirklich gebraucht wird – der wissenschaftliche Begriff für diese Haltung ist »Suffizienz«. Wir brauchen eine breite gesellschaftliche Debatte darüber, was für wen überflüssig ist, ebenso wie über die Frage, was das Leben letztlich reich, schön und beglückend macht. Vielleicht wäre eine Degrowth-Gesellschaft eine Gesellschaft des Wesentlichen. Doch wie kann wesentliche Veränderung beginnen?

Transformationspfad und Bewegung
Ein Beispiel für Wege zur Transformation ist das »Acht-R-Programm« von Serge Latouche – es heißt so, weil es acht Verben beinhaltet, die auf Französisch mit »Re« beginnen, was dem deutschen Präfix »wieder-«‚ oder »neu-«‚ entspricht: neu-bewerten, neu-konzep­tualisieren, neu-strukturieren, neu-verteilen, relokalisieren, reduzieren, wiederverwerten, recyceln. Vieles davon ist nichts Neues. Interessant ist aber die Verknüpfung dieser Prozesse in einem gesellschaftlichen Gesamtentwurf. Dieser zielt laut Latouche weder auf eine Machtübernahme noch auf eine staatlich koordinierte Umsteuerung, sondern auf eine Vielfalt selbstorganisierter Projekte zur Gestaltung einer »autonomen« Gesellschaft.
Alle Visionen und Transformationspfade sind wertlos ohne Menschen, die sie umsetzen – sei es, indem sie praktische Alternativen ausprobieren, indem sie mit ihren Körpern Widerstand gegen Großprojekte leisten oder indem sie Diskussionsräume wie Konferenzen organisieren. Weltweit gibt es immer mehr Menschen, die im Sinn von Degrowth handeln, obwohl die meisten sicherlich nicht sagen würden, dass sie Teil einer spezifischen Degrowth-Bewegung sind – ja, viele haben das Wort vielleicht noch nie gehört.
In Frankreich, Spanien und Italien ist der Begriff in der jeweiligen Landessprache als Décroissance, Decrecimiento und Decrescita am stärksten verbreitet. Das Wort kam im Frankreich der 1970er Jahre auf; populär wurde es jedoch erstmals im Rahmen eines entwicklungskritischen UNESCO-Kongresses in Paris im Jahr 2000. Serge Latouche bezeichnete diesen Kongress später als die eigentliche Geburtsstunde der Décroissance. Seit 2004 existiert in Frankreich die Monatszeitschrift »La Décroissance – Le journal de la joie de vivre« (Degrowth: Zeitschrift der Lebensfreude), die mittlerweile eine Auflage von über 30 000 Exemplaren hat. Im Jahr 2006 formierte sich in Frankreich sogar eine Décroissance-Partei, die »Parti Pour La Décroissance (PPLD)«, die es nach zahlreichen Spaltungen und Neuzusammensetzungen schaffte, bei der Wahl 2012 ins Rennen zu gehen. Neben der politischen Debatte entwickelte sich in Frankreich auch eine lebhafte wissenschaftliche Diskussion.
In Spanien ist vor allem die katalonische Decreix-Bewegung sichtbar. Soziale Bewegungen aus der linksliberalen und antikapitalistischen Tradition der Autonomie und Selbstverwaltung sind hier ebenso aktiv wie Gruppen, die bei Umweltkonflikten, in Agrar­ökologie und solidarischer Ökonomie fruchtbar zusammenwirken. Einige der Initiativen aus diesen Zusammenhängen spielen in der gegenwärtigen Krise eine wichtige Rolle, beispielsweise die »Inte­grale Kooperative«, ein breites Netzwerk von Selbstverwaltungs- und Selbstversorgungsprojekten, Tauschringen und Werkstätten. Allein in Katalonien zählt es über 5000 Mitglieder. Degrowth-Aktivistinnen waren auch maßgeblich an der Protestbewegung der »­Indignados« (Empörten) ab 2011 beteiligt. Auch in Spanien verbinden sich soziale Bewegungen und Forschungen, besonders intensiv an der »Universitat Autònoma de Barcelona« (siehe Seite 20).
In Italien hat sich in den letzten Jahren eine vielfältige Bewegung der Decrescita entwickelt. Eines der zwei großen italienischen Degrowth-Netzwerke heißt »Movimento per la decrescita felice« (MDF; Bewegung für eine fröhliche Schrumpfung). Fröhlich, denn Decrescita heißt eine sinnvoll begründete Ablehnung des Unnützen und ein Gewinn an Zeit und Lebensfreude. »Weniger« steht hier deutlich für eine Verbesserung der Lebensqualität, wie sie zum Beispiel handwerkliche, gärtnerische und künstlerische Arbeit für die meisten Menschen mit sich bringen. Ein weiteres wichtiges italienisches Netzwerk der Decrescita (Rete per la De­crescita) hat sich 2004 aus einer Gruppe von Aktivistinnen und Intellektuellen gebildet, die schon lange in der solidarischen Ökonomie, der globalisierungskritischen Bewegung und der alternativen ökologischen Wirtschaftswissenschaft engagiert waren. Für viele Beteiligte ist auch die italienische Tradition der linkschristlichen Basisgemeinden eine wichtige Inspirationsquelle.
In der west- und südeuropäischen wachstumskritischen Tradition spielt »Konvivialität« (nur sinngemäß mit »Gemeinschaftlichkeit« übersetzbar) eine deutlich wichtigere Rolle als individuelle Genügsamkeit: Décroissance steht für ein schönes, erfülltes Leben in der Gemeinschaft – nicht für Askese. Dies kann die deutsche Postwachstumsbewegung inspirieren, die sich noch stark an der als individuelle Genügsamkeit verstandenen Suffizienz orientiert.

Degrowth hierzulande
In Deutschland überlappt sich die entstehende Degrowth-Bewegung mit einer Reihe etablierter alternativen Gruppen, wie der Transition-Town-Bewegung, Netzwerken zu solidarischer Ökonomie, Ökodörfern, Regionalgeldexperimenten und dergleichen. Auf fast allen politischen Ebenen wird das Bruttoinlandsprodukt als alleiniger Indikator für Wohlstand in Deutschland mittlerweile kritisiert. Dazu hat auch die Enquête-Kommission des Bundestags zu »Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität« beigetragen, die von 2011 bis 2013 tagte. Im Jahr 2011 gab es eine erste große wachstumskritische Konferenz in Berlin, und seither ist das Thema in der öffentlichen Debatte präsent, wenn auch nicht in vollem Umfang. Diese partielle Popularität birgt auch Fallen: Die großen Medien thematisieren hauptsächlich Aspekte des individuellen Verzichts, die das Wirtschaftssystem nicht in Frage stellen, sondern im Gegenteil die Menschen fit machen sollen für eine neoliberale Sparpolitik.
In der deutschen Debatte um Degrowth – nur unzureichend mit »Postwachstum« übersetzbar – lassen sich grob fünf verschiedene Strömungen unterscheiden: liberal-sozial­reformerische, konservative, suffizienzorientierte, antikapitalistische und feministische.
Die liberal-sozialreformerische Argumentation steht den Umweltverbänden oder Organisationen wie dem Wuppertal Institut nahe. Hier wird gefragt, wie bestehende staatliche Institutionen –Renten- und Krankenversicherungen etc. – unabhängig von Wachstum gestaltbar seien. Eine radikale ­Kritik an den bestehenden gesellschaftlichen Einrichtungen wird bewusst nicht geübt. Die konservative Denkrichtung der Wachstumskritik vertreten die Stiftung »Denkwerk Zukunft« und ihr Mitgründer Meinhard Miegel. Wirtschaftliche Schrumpfung erscheint Miegel als unvermeidlich für moderne Industriegesellschaften – als Ausweg schlägt er vor, den in seinen Augen überbordenden Wohlfahrtsstaat radikal zu kürzen. Damit ist er nahe an der neoliberalen Argumentation, die ironischerweise in der aktuellen Eurokrise Ausgabenkürzungen als Rezept für Wirtschaftswachstum anpreist und damit den Sozialstaat in vielen südeuropäischen Ländern für viele Menschen lebensbedrohlich zusammengestrichen hat.
Während auf diese beiden Ansätze der Begriff »Postwachstum« durchaus zutrifft – sie sind nicht explizit für Wirtschaftsschrumpfung, sondern für eine wachstums­unabhängige Gesellschaft – stehen die anderen Strömungen für einen absichtsvollen Rückgang der Wirtschaftsleistung, die der Begriff »Degrowth« ausdrückt.
Das populärste Gesicht in der deutschen Postwachstumsdebatte ist derzeit vermutlich der Ökonom Niko Paech. Er vertritt einen suffizienzorientierten Ansatz, der auf drei Säulen beruht: auf Selbstversorgung zielende Eigenarbeit in Haus und Garten; regionale Wirtschaft; globalisierte Wirtschaft in stark verringertem Umfang. Paech will damit sowohl den strukturellen als auch den kulturellen Wachstumszwängen begegnen. Die strukturellen Zwänge sieht er in zu langen Wertschöpfungsketten. Auf der kulturellen Seite sieht er die Notwendigkeit, attraktive, selbstgenügsame Lebensstile hochzuhalten. Auch der Sozialpsychologe Harald Welzer, der vielerorts als Wachstumskritiker auftritt, verfolgt einen suffizienzorientierten Ansatz. Er betont die Notwendigkeit der Änderung »mentaler Infrastrukturen«, um andere Lebensstile auszuprobieren. Wachstum sei eine grundlegende Haltung geworden: Alles orientiere sich an der Logik des Immer-Mehr, Immer-Schneller und Immer-Besser.
Die antikapitalistische Degrowth-Strömung in Deutschland betont, dass eine lebensdienliche Wirtschaftsweise nicht aus Marktmechanismen und Profitorientierung hervorgehen könne. Vielmehr spielten dabei Commons bzw. Gemeingüter, Selbstverwaltung und solidarische Kooperation eine wichtige Rolle. Daneben gibt es auch vereinzelte Vertreter eines Ökosozialismus, der verstärkt auf staatliche Planung setzt.
Modelle einer Degrowth-Gesellschaft sind untrennbar mit Fragen der ­Verteilung und der sozialen Rechte weltweit verbunden. Die feministische Degrowth-Diskussion betont deshalb die Bedeutung der nicht-monetär bewertbaren Arbeit im alltäglichen Füreinander-Sorgen und hinterfragt radikal den heute verbreiteten Arbeitsbegriff.
Je mehr sich die Vision einer Degrowth-Gesellschaft von der heutigen Wirklichkeit entfernt, umso mehr werden auch moderne Institutionen wie Schule, Gesundheitswesen oder Staatlichkeit insgesamt in Frage gestellt. Dies steht durchaus in der Tradition der Wachstumskritik der 1970er Jahre mit prominenten Vertretern wie Ivan Illich.

Gemeinsames Weitergehen: Konferenzen
Degrowth kann nur zu einer wichtigen Bewegung werden, wenn ein regelmäßiger Dialog zwischen ihren verschiedenen Traditionen stattfindet. 2008 gab es daher die erste internationale Degrowth-Konferenz in Paris, gefolgt von Konferenzen in Barcelona (2010) und Venedig (2012). Viele Akteure der Degrowth-Aktivitäten sind relativ jung – umso wichtiger ist es, den Dialog mit den Erfahrungen älterer Generationen immer wieder zu suchen, wie es zum Beispiel auf der Velokarawane geschehen ist.
In den Konferenzen entsteht langsam ein Selbstbild dieser vielfältigen Bewegung. Welche konkreten Vorschläge für Transformationspfade sind Konsens? Müssen wir uns im klassisch politischen Links-Rechts-Spektrum verorten? Einige Antworten zeichnen sich schon vage ab, und immer mehr Wissenschaftlerinnen stoßen wertvolle Forschungen zum Thema an. Die Konferenzen sind ausdrücklich keine rein akademischen Veranstaltungen. Hier treffen sich Aktivistinnen, Praktiker und Wissenschaftlerinnen auf Augenhöhe. Degrowth bedeutet auch, neu zu bestimmen, wer eine Expertin sein kann und warum. In Barcelona begann 2010 ein Arbeitsgruppenprozess, der den Stand der Debatte zu Bereichen gesellschaftlicher Transformation abzubilden versucht. In Leipzig wird er weitergeführt und um neue Stränge ergänzt, etwa um das Aufwachsen von Kindern in einer Degrowth-Perspektive.
Immer wichtiger erscheint es, Degrowth gegen eine Vereinnahmung von Rechts zu positionieren: In der Stärkung lokaler Produktionskreisläufe liegt die Gefahr des Lokalpatriotismus. Wer nicht zur Gemeinschaft gehört, darf nicht diskriminiert oder ausgeschlossen werden. Solidarität und eine breite Teilhabe an Entscheidungsprozessen sind deshalb von großer Bedeutung.
Nicht zuletzt sind die Konferenzen selbst Experimente des ­Gemeinschaffens: Die Konferenz in Leipzig, getragen von einem Vorbereitungsteam von über 60 Menschen, ist keine Dienstleistung, sondern ein Gemeinschaftsprojekt – ein Schritt zur Befreiung der Vorstellungskraft: Das Unmögliche ist denkbar! Wenn über 2500 Menschen dies an einem Ort erfahren und verändert nach Hause gehen, sind 2500 Keime gelegt. Keiner weiß, wann die Keime austreiben und wie viele Samen sie dann tragen werden. Aber dass sie jetzt gelegt sind und nur aufs Wachsen warten, macht Mut. •


Herzlichen Dank an Barbara Muraca für ihre intensive Mitarbeit an diesem Text, insbesondere zu den internationalen Dimensionen von Degrowth.

Andrea Vetter (33) promoviert in Europäischer Ethnologie zu konvivialer Technik. Sie engagiert sich bei Attac und in der Degrowth-Bewegung. http://konvivialetechnologien.blogsport.de

Literatur für wachsendes Gesundschrumpfen
Barbara Muraca: Gut Leben. Eine Gesellschaft jenseits des Wachstums. Wagenbach, 2014

Matthias Schmelzer, Alexis Passadakis: Postwachstum. Krise, ökologische Grenzen und soziale Rechte. AttacBasisTexte 36, VSA Verlag, 2011


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Oya und die 4. Internationale Degrowth-Konferenz
Diese Ausgabe von Oya nimmt die 4. Internationale Degrowth-Konferenz unter dem Motto »Für ökologische Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit« vom 2. bis zum 6. September 2014 in Leipzig als Fallstudie zur Frage: Wie lassen sich in einer Gesellschaft, die der Logik des Wirtschaftswachstums verschrieben ist, Wege des »guten Lebens« nicht nur im Kleinen, sondern auch im Maßstab einer Großveranstaltung gehen? Der Bezug zum Ort der Konferenz bildet dabei den roten Faden: Wer sind die Menschen und Projekte in dieser Stadt, die das Ereignis auf eine Art und Weise vorbereiten und gestalten, die dem Anspruch der Degrowth-Bewegung würdig ist? Selbstverständlich stößt der Versuch an viele Grenzen – doch wichtig ist vor allem der ermutigende Prozess.

Hintergründe zur Konferenz
Getragen wird die Veranstaltung vom DFG-Kolleg »Postwachstumsgesellschaften« der Universität Jena, dem Konzeptwerk Neue Ökonomie, dem Förderverein Wachstumswende e. V., der Forschungsgruppe »Research & Degrowth« der Universität Leipzig sowie zahlreichen weiteren Unterstützer-Organisationen.
Inhaltlicher Schwerpunkt der Konferenz mit rund 2500 Teilnehmenden sind drei Themenstränge: Gesellschaft organisieren, sozial-ökologisch wirtschaften und Gemeinschaft leben. Sie gliedert sich in je zweistündige wissenschaftliche, politische, praktische und künstlerische Veranstaltungen, die parallel stattfinden. Daneben gibt es Impulsvorträge und Zeit für Vernetzung in Arbeitsgruppen und Open Space.

Weiterführende Informationen
Dokumentationen der Leipziger Konferenz:
www.degrowth.de
Das Netzwerk Research & Degrowth:
www.degrowth.org
Die französische Zeitschrift »La Décroissance«:
www.decroissance.org
Degrowth in Italien:
www.decrescitafelice.it/la-decrescita-felice
Degrowth-Netzwerk Katalonien:
https://cooperativa.ecoxarxes.cat
Kritisches zur Enquete-Kommission:
www. enquetewatch.de
Übersicht über die deutsche Degrowth-Diskussion:
http://tinyurl.com/q39ybea

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