Titelthema

Langsam langsamer treten

Über Land und Wasser nähern sich die Degrowth-Aktivisten dem postfossilen Reisen an.
von Anja Humburg, erschienen in Ausgabe #28/2014

Es begab sich zu einer Zeit, als die Menschen im Überfluss lebten und sie inmitten ihrer Reichtümer kaum mehr ihre eigenen Nachbarn kannten. Da zog ein junger Mann von einem kleinen Dorf in der Nähe des südostfranzösischen Städtchens Gap mit einem Esel ins Land hinaus. Er trug nichts bei sich als das Allernötigste. Durch das Zentralmassiv wanderte er bis nach Bordeaux an der Atlantikküste und zurück über Toulouse und Lyon, bis er nach einem Jahr sein Ziel in Magny-Cours erreichte – jenes Dorf, in dem zu dieser Zeit alljährlich Formel-1-Rennen ausgetragen wurden. Für den Mann waren diese Inbegriff einer irrgläubigen Verehrung von Technik, Konkurrenz und Geld. Auf der letzten Etappe seines »Marsches für die Wachstumsrücknahme« (Französisch: »Décroissance«) pilgerten 500 Unterstützer mit François Schneider. Sie begleiteten ihn zu Fuß und per Fahrrad; darunter waren José Bove, Mitglied des Europarlaments, sowie der Pariser Wirtschaftsprofessor Serge ­Latouche, Vordenker der Décroissance-Bewegung.

Zehn Jahre ist das nun her. Global folgten auf François Schneiders Fußmarsch Begegnungen von Wachstumskritikern. Sie reisen zu Konferenzen nach Paris, Barcelona, Montreal oder Venedig. Eine engagierte Verfechterin der Décroissance hätte im Vorfeld der Leipziger Konferenz bei der Sommerakademie der Vereinigung für ökologische Wirtschaftsforschung in Lobetal und beim Segeltörn »Klar zur Wende« gewesen sein oder am 7. Juni im Rahmen einer weltweiten Aktion ein »Picnic for Degrowth« organisieren können, um nur einen Ausschnitt der Möglichkeiten zu nennen.
Da kommen schnell ein paar hundert oder sogar tausend Kilometer zusammen, die sich bitter auf die eigene Ressourcenbilanz niederschlagen, sofern man auf die üblichen Fortbewegungsmittel zurückgreift. Im Labor der Wachstumsrücknahme stehen daher auch Experimente mit postfossiler Fortbewegung auf dem Programm. Hier wird getestet, ob die Degrowth-Veranstaltungen leichten Fußes erwanderbar wären oder ob Schneiders legendärer Pilgerreise eher symbolische Bedeutung beizumessen ist. Ein Blick zwischen die Zeilen des Leipziger Programmhefts verrät, auf welche Vehikel die Aktivisten zurückgreifen.

Was heißt hier »postfossil reisen«?
Kaum jemand hat einen weiteren Weg als Justin Ritchie. Der 28-jährige Doktorand der »British Columbia University« kommt aus Vancouver, Kanada – achttausend Kilometer von Leipzig entfernt. Statt in Reykjavík lediglich das Flugzeug zu wechseln, entschied er sich, auf Island zunächst eine andere Konferenz für ökologische Ökonomie zu besuchen, dann an Bord einer Fähre zu gehen und den Weg zum europäischen Festland auf dem Wasser zurückzu­legen. Per Flieger wäre er in 15 Stunden in Leipzig gewesen. Stattdessen ist er eine Woche unterwegs, allein drei Tage davon auf dem Meer. Er sei überrascht darüber, dass es heute überhaupt noch ein Linienschiff gebe und er nicht mit dem Frachter von Kontinent zu Kontinent fahren müsse, sagt der Co-Direktor des Podcast-Kanals www.extraenvironmentalist.com. Das Schiff bringt ihn bis Kopenhagen, wo er sich in den Zug nach Leipzig setzt.
»Langsam reisen« heißt nicht unbedingt »fossilarm reisen«. Vergleicht man Justin Ritchies Wahl der Verkehrsmittel mit der Klimabilanz eines Flugs von Kanada nach Leipzig, sind die ausgestoßenen Klimagase überraschenderweise äquivalent: jeweils gut zwei Tonnen CO2. Das entspricht dem klimaverträglichen Jahresbudget eines Erdbewohners. Mit einer modernen Fähre unterwegs zu sein, ist also nicht zwingend klimaschonender, als zu fliegen. Der Stahlrumpf, die Dieselmotoren und die Treibstoffe für eine Fähre fallen nicht vom Himmel. Manche Studien argumentieren, dass das CO2, das Flugzeuge in die obere Atmosphäre emittieren, wirksamer sei als dasjenige, das Auto, Bahn und Schiff am Boden und auf dem Wasser ausstoßen. Doch gleich ob Flugzeug oder Fähre – es bleibt bei einem viel zu hohen Kohlendioxidausstoß.
»Die Ressourcenfrage ist an die Zeitbudgets der Menschen gekoppelt«, dessen ist sich der Kanadier – der zu Hause oft durch die Wälder British Columbias streift – gewiss. Wer kann es sich leisten, wochenlang mit einem Segelschiff unterwegs zu sein?
Ein Spezialist des langsamen Reisens ist Benedikt Bindewald, Wandergeiger aus Berlin. Im Tausch für ein Dach über dem Kopf und etwas zu essen spielt er seinen Gastgebern ein Privatkonzert in der Stube oder auch schon einmal für drei Leute in einer riesigen, alten Traktorenhalle. »Auf Wanderschaft bin ich auf meine eigenen Kräfte angewiesen«, sagt Benedikt, der regelmäßig mit dem Musiktheater- und Tanzprojekt »Kollektivtransit« auf der Bühne steht. 28 Kilometer legt er im Schnitt an einem Wandertag zurück. Nach seinen Wegen von Berlin nach Leipzig und weiter nach Fulda weiß er über sich selbst: »Im Zweifelsfall bin ich nicht auf andere Verkehrsmittel angewiesen.« Die Idee zum Wandern kam ihm im Urlaub mit seiner Mutter und seinen Brüdern vor sieben Jahren im Norden Skandinaviens. Während die Familie in der Natur kampierte, entfachte sich ein Streit darüber, wie »natürlich« solch ein Urlaub sei. Statt erst 1500 Kilometer weit zu verreisen, öffnet Benedikt mittlerweile einfach nur die Haustür und geht los.
Der Musiker, der seit 2010 das Handwerk des Komponierens an der Universität der Künste in Berlin erlernt, erzählt, dass ihn mit der Entdeckung der Langsamkeit auch die Langeweile ereilte. »Man bekommt mit, was uns umgibt. Plötzlich wird das Nächstliegende wahrnehmbar: die Autos, der Staub, eintönige Industrielandschaft. Auch in der Langeweile steckt viel Kreativität. Plötzlich liegt dort ein wunderschöner Stein am Straßenrand«, erzählt. Wie essenziell es sei, jemanden zu treffen, zeige spätestens der Hunger. Den Mut aufzubringen, an einer Tür zu läuten, sei nicht immer einfach, gesteht der Geiger. »Manchmal konnten mir die Menschen nicht sagen, ob es in ihrem Dorf einen Laden gibt, weil sie immer mit dem Auto zum Einkaufen in die Stadt fahren«, staunt er.
Sein Beruf macht es Benedikt möglich, auf Tippelei zu gehen. Doch nicht nur Musiker haben auf der »Walz« ihre Arbeit dabei.

Das Büro aufsatteln
»Wir fliegen um die Welt, oft nur für ein paar Tage«, kritisiert der Schweizer Markus Flück das uferlose Ausmaß der in der Degrowth-Bewegung beklagten Konferenzmobilität. Der 28-jährige Aktivist aus Bern zettelte schon im Frühjahr dieses Jahres gemeinsam mit Miriam Bühler von »Décroissance Lausanne« eine vierwöchige »Velokarawane« von Bern nach Leipzig an – die rund eintausend Kilometer würde der Flieger in knapp zwei Stunden zurücklegen. Protestmärsche in Indien, eine Radtour für mehr Ernährungssouveränität in der Schweiz und die letzte »Ecotopia Bike Tour« von Barcelona nach Venedig (siehe Oya Ausgabe 18 Seite 58) ermunterten Markus, der bei »Décroissance Bern« für eine Art Grundeinkommen arbeitet, zu dem Projekt. »Wir machen aber kein Ferienprogramm«, stellt er klar. Während der Radtour verlagert er sein Büro auf den Sattel, lernt neue Initiativen kennen und teilt seine Erfahrungen mit den Mitreisenden. Die Karawane besucht Hausprojekte, Selbsthilfewerkstätten und nimmt an Protestaktionen teil, die auf der Strecke liegen. So wird die Tour zum Sprachrohr für die Botschaften der Décroissance-Idee – und bleibt dabei nicht allein.
Fahrradtouren mausern sich nämlich gerade zum »Seminarraum to go«. Unter dem Motto »Cycling Alternatives« radelten etwa Menschen von Kassel, Weimar und dem polnischen Breslau per Sternfahrt nach Valec in Tschechien. Unterwegs standen Permakultur, Selbstversorgung und solidarische Ökonomie auf ihrem Programm. »Viva la Pampa« heißt die Radtour der sächsischen BUNDjugend, die ebenfalls alternative Lebensentwürfe per pedales besucht. Bewährt haben sich bereits die Wanderungen der Kampag­ne »beweg!gründe«, die der Bundesverband der BUNDjugend seit einem Jahr anbietet, um an Orte des gesellschaftlichen Wandels zu reisen. »Mit Rückenwind auf den Spuren einer enkeltauglichen Ökonomie« heißt eine andere Radtour, die Commons-Expertin Silke Helfrich mit der Heinrich-Böll-Stiftung ins Leben rief. – Auf dem Gepäckträger nur das, was die eigenen Muskeln stemmen, fahren sie relevante Orte, um sich ein eigenes Bild zu machen.
Auch Justin Ritchie hat seinen Arbeitsplatz dabei: »Auf der Reise bin ich nicht abgeschottet. Ich kann am Rechner sitzen und gleichzeitig das offene Meer erleben.« Doch Justin weiß auch: »Wenn wir es ernst damit meinen, den kulturellen Wandel, den wir fordern, voranzubringen, bedeutet das auch: weniger arbeiten!« Erst dann entstehe Raum, die eigenen Bedürfnisse zu erforschen und Lebensentwürfen nachzuspüren, die das Sein vor das Haben stellen.
Doch bleibt eine internationale Konferenz der Wachstumsrücknahme nicht ein Widerspruch in sich? Womit lässt es sich rechtfertigen, eine Aktivistin aus Südamerika einzufliegen, um mit ihr über die begrenzten Kapazitäten unseres Planeten zu diskutieren? Das Orga-Team der Leipziger Konferenz hat die Messlatte hoch gelegt: Kein Superstar sei derart unersetzlich, dass sie oder er lediglich für die Konferenz eingeflogen würde. Oft bietet eine virtuelle Reise eine Alternative: Die Globalisierungskritikerinnen Naomi Klein und Sunita Narain werden per Video zugeschaltet.

Die digitale Reise
Es kann sehr bewegend sein, wenn die Referenten ihre Zuschauer mit an den Ort ihres eigenen Wirkens nehmen. So beeindruckte mich auf solch einer Veranstaltung Bill McKibben – der Initiator der weltweiten Klimakampagne »350.org« – als er auf dem staubigen, dunklen Dachboden seines Hauses inmitten von Kisten, Bücherstapeln und Bannern saß und referierte. Die Leipziger baten Organisationen aus Übersee, nur Repräsentanten zu entsenden, die vor oder nach der Konferenz auch andere Auftritte in anderen Teilen Europas wahrnehmen, und ließen sie selbst entscheiden, wen sie schicken. »Aus Europa reist die Mehrheit der Teilnehmer mit dem Zug an«, erklärt Corinna Burkhardt, eine der Organisatorinnen. Statt das CO2 der unbedingt notwendigen Flüge zu kompensieren, sammelt das Team Geld für diejenigen, die fossil­arm anreisen.
Doch tatsächlich ist es unmöglich, das ­Dilemma der modernen Fortbewegungs- und Kommunikationsmittel aufzulösen. Justin Ritchie will Momente der Konferenz in Echtzeit nach Kanada senden. Seine Kamera, die Übertragungstechnik und das Internet verbrauchen ähnlich viele Ressourcen wie seine Reise. »Die Computerszene erzeugt so viel Kohlendioxid wie die Flugbranche«, erklärt er. Auch das mobile Büro von Markus Flück ist Teil des immensen ökologischen Fußabdrucks der sich immer stärker beschleunigenden digitalen Welt, in die Wachtumskritiker meist intensiv eingebunden sind. Dennoch wird für einen wachsenden Kreis von Menschen Sten Nadolnys »Entdeckung der Langsamkeit« von 1983 immer wichtiger. Sie wandern nicht aus Sport, sondern knüpfen an die Tradition des Pilgerns an – so wie Benedikt Bindewald, der im August zehn Tage lang von Leipzig nach Prag stiefelte, diesmal aus einem besonderen Grund: seiner eigenen Hochzeit. Die Erfahrung der Langsamkeit prägt sich mit jedem Schritt tiefer ein. Für die Zukunft der Degrowth-Konferenzen könnte das postfossile Pilgern bedeuten, dass sie weniger oft, aber dafür länger stattfinden. •


Anja Humburg (29) ist Umweltwissenschaftlerin und Journalistin für Transformation. Sie experimentiert mit der Idee ­einer Degrowth-­Gesellschaft. humburg@posteo.de


Lust auf enkeltaugliche Langsamkeit?
www.velokarawaneleipzig.wordpress.com
www.ecotopiabiketour.net
www.cyclingalternatives.org
www.bundjugend.de/projekt/beweggruende
www.benediktbindewald.blogspot.de

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