Auf den Spuren des »weißen Golds«.
von Theresia Funk, erschienen in Ausgabe #29/2014
Ehe ich mich versehe, rieseln viele weiße Körnchen blitzend aus der Salztüte. Sie verteilen sich rings um meinen Brotzeitteller. Die warmen Strahlen der Abendsonne, die durchs Fenster hereinscheint, spielen mit den Kristallen. Das kostbare Salz! Sorgfältig lese ich die Körnchen wieder auf, denn ich weiß, mit wieviel Mühe sie in die Tüte gelangt sind. Die Salzwirker von Halle stehen vor meinen Augen. An einem hellen Septembermorgen gehe ich mit dem Geschäftsführer des Halloren- und Salinemuseums Halle, Steffen Kohlert, über das Außengelände der sorgsam renovierten Fachwerkbauten. Er bleibt stehen und deutet auf den Boden: »Sehen Sie, das sind Queller-Pflanzen, sogenannte Halophyten. Sie wachsen nur an Orten, an denen eine hohe Salzkonzentration im Boden ist wie hier auf dem Gelände des Museums. Probieren Sie mal!« Der fleischige Stengel schmeckt überraschend salzig. Es ließe sich sogar zum Kochen verwenden, erfahre ich; man kenne eine Vielzahl an traditionellen Gerichten mit Queller.
Die traditionelle Herstellung In den warmen Produktionsräumen des Museums schöpfen zwei Salzwirker tropfendes Salz aus der Siedepfanne, Schaufel für Schaufel. Das sieht nach schwerer körperlicher Arbeit aus – und ist Teil eines komplexen Produktionsprozesses: Die gesättigte Salzlösung wird zunächst aus Bohrungen im Umland von Halle gewonnen und dann einige Tage auf dem Gelände des Museums gelagert, damit sich Schwebeteilchen absetzen. Erst dann kommt sie in die Siedepfanne, wo unter kontinuierlicher Wärmezufuhr zunehmend Salzkristalle ausfallen, die nach einer gewissen Zeit von den Salzwirkern abgeschöpft und anschließend auf der beheizten Trockenpfanne über mehrere Tage hinweg getrocknet, gehackt und gewendet werden. Schließlich wird das Salz gemahlen und abgepackt. All das bedeutet viel Handarbeit, auch wenn ein Förderband, ein Walzenstuhl und ein Aufzug das Transportieren, Mahlen und Verpacken erleichtern. Mein Blick fällt auf ein Regal, in dem fertiges Salz verschiedener Feinheitsgrade ausgestellt ist. Ich koste – es schmeckt sehr rein und fein. Der reine Geschmack komme daher, erklärt Steffen Kohlert, dass sich während des Herstellungsprozesses Kalk und andere Verunreinigungen abgesetzt haben und deshalb keine Bitterstoffe mehr enthalten sind. Das handwerklich hergestellte Hallenser Salz ist frei von chemischen Zusätzen – das gehört zum Berufsethos der Halloren, wie die Salzwirker aus Halle seit dem 15. Jahrhundert genannt werden. Industriellem Salz werden Rieselhilfen beigegeben, damit es kein Wasser zieht und nicht hart wird. Zu den dabei verwendeten Stoffen zählt das in Öko-Salz verbotene Natriumhexacyanoferrat, das Blausäure enthält und in größeren Mengen für die Nieren schädlich ist. Auch die gesundheitsfördernde Wirkung der Beigabe von Fluorid, Folsäure oder Jod ist umstritten. Das Salinemuseum bietet Salz in gröberer Körnung an – da komme der Umstand, dass es Wasser zieht, nicht so stark zu tragen. Vom Direktor Steffen Kohlert erfahre ich auch, dass sich die kleinen Brocken ganz leicht zwischen den Fingern zerreiben lassen, weil die Salzkristalle langsam unter einer ganz bestimmten Temperaturzufuhr wachsen durften. Steffen Kohlert zeigt mir »Fleur de Sel«, die »Blume des Salzes«. Diese Sorte besteht aus denselben Inhaltsstoffen wie das grobkörnige Salz, wird jedoch zu einem früheren Zeitpunkt abgeschöpft und erhält durch eine entsprechende Trocknung seine besondere flockenartige Haptik.
Die Ethik der Salzwirker In den Ausstellungsräumen der Saline entdecke ich einen langen, blauen Mantel, der, dicht besetzt mit markanten silbernen Knöpfen, in einer Vitrine prangt. Dies sei das Festkleid der Halloren, erklärt Steffen Kohlert – und damit tauchen wir tief in die Geschichte und Tradition rund um die Salzherstellung in der Stadt Halle ein: Vor etwa 250 Millionen Jahren bedeckte das sogenannte Zechsteinmeer ganz Mitteleuropa. Seine Ablagerungen bestehen zum Großteil aus Gips und Steinsalz, dem Halit. Vor 65 Millionen Jahren haben sich im Großraum Halle aufgrund geologischer Prozesse Zechsteinschichten aus der Tiefe gehoben. In der Folge trat im heutigen Stadtgebiet Sole aus – die sogenannte Hallesche Marktplatzverwerfung entstand. Die Sole, die aus vier Brunnen in der Stadt sprudelte, diente schon im frühen Mittelalter der Salzherstellung. Das Gewerbe war in der Hand der »Pfänner« – Adelige, Kaufleute oder Ordensherren aus der Oberschicht Halles –, die jeweils einen Anteil an einer Saline gepachtet oder im Eigentum hatten. Sie organisierten sich in einer Art Genossenschaft, der Pfännerschaft. Die Solebeförderung aus den bis zu 35 Meter tiefen Brunnen war den Bornknechten übertragen, die Salzgewinnung in den Siedepfannen den Salzwirkern. Das Besondere an der Arbeitsorganisation der Salzhersteller war, dass sie Brüderschaften bildeten. Schon im 14. Jahrhundert setzten sie sich gegenüber den Arbeitgebern für ihre Rechte ein. So entstand im Jahr 1386 auf ihre Initiative hin in Halle die erste schriftlich festgehaltene Arbeitsordnung Deutschlands, in der unter anderem bereits Arbeitslosen-, Renten- und Krankenversicherung geregelt waren. Nach innen hin bildeten die Salzarbeiter eine soziale Unterstützungsgemeinschaft, die sogar ihren eigenen Dialekt sprach. Geriet ein Mitglied unmittelbar in finanzielle Not, konnte es innerhalb von 24 Stunden aus dem sogenannten Thalarmenbeutel ein zinsloses Darlehen erhalten. Auch ein Grabgeleit wurde jedem zugesichert. Aus dem Zusammenschluss entstand im Jahr 1491 die »Salzwirker-Brüderschaft im Thale zu Halle«. Ihre »Thalordnung« regelte nicht nur die Ausführung des Gewerks und die Ferientage, sondern verpflichtete auch zu einem sittlichen Lebenswandel, zu dem Ehrlichkeit und Hilfsbereitschaft gehörten. Sie verlangte zum Beispiel, dass Halloren bei Wasser- und Feuersnot helfen. Im Salinemuseum wird die Erinnerung an diese Tradition noch heute wachgehalten, und beim Schausieden für die Gäste entstehen jährlich immerhin 100 Tonnen Salz, die im regionalen Handel zu haben sind.
Welthandelsgüter Salz und Pfeffer Salz wächst nicht im eigenen Garten. Wenn Menschen heute darüber nachdenken, wie sie sich möglichst mit regional gewachsenen Lebensmitteln versorgen können, stellt sich parallel auch die Frage, wie diejenigen Zutaten, die wie Salz und Pfeffer weite Wege zurücklegen müssen, auf eine lebensdienliche Weise in den heimischen Kochtopf kommen. Fragen wie diese hat sich Kai Gildhorn gestellt, dessen Firma »Schwarzer Pfeffer« bundesweit Hallenser Salz vertreibt. Ich treffe ihn nach meinem Salinenbesuch in einem Berliner Café. Schon sein erstes größeres Projekt hat mit guter Ernährung und regionalen Ressourcen zu tun: Kai gehört zu den Begründern von www.mundraub.org. Diese Internetseite kartiert Obst- und Nussbäume sowie Standorte von Kräutern im öffentlichen Raum, die niemand ernet, und führt somit unmittelbar zu frei verfügbarer Nahrung vor der eigenen Haustür. Das gemeinnützige Projekt beschäftigt drei Mitwirkende in Vollzeit, aber wirklich leben kann davon keiner. Deshalb überlegte Kai, wie er sich mit einer einträglichen Unternehmung über Wasser halten könnte. Die Suche führte ihn wieder zu Bäumen, allerdings diesmal zu Korallenbäumen im Bundesstaat Kerala in Südwestindien. An ihnen ranken alte Pfeffersorten, die von den indigenen Adivasi seit Jahrhunderten kultiviert und geernet werden. Kai Gildhorn und sein Mitstreiter Mirco Meyer beziehen die Ware für »Schwarzer Pfeffer« direkt von einer Adivasi-Kooperative. So wie das Salz, ist auch der Pfeffer eine klassische Handelsware, die schon in der Antike von Asien nach Europa gebracht wurde – auf dem Rücken von Kamelen. Erst 1498 transportierte Vasco da Gama die ersten Pfeffersäcke auf dem Seeweg. Salz und Pfeffer – heute billigste Supermarktprodukte, wurden früher mit Gold aufgewogen und hatten das Zeug, europäische Seemächte in Kriege zu verwickeln oder Menschen auf Barrikaden zu schicken – so 1431 in Paris, als Proteste gegen die Salzsteuer losbrachen. Als Kai und Mirco ein Salz suchten, das sie guten Gewissens ihrem feinen Pfeffer an die Seite stellen könnten, machte sie ein Freund aus Halle auf das dortige Salinemuseum aufmerksam. Dass es noch heute traditionell hergestelltes Salz aus regionalen Quellen gibt, faszinierte die Pfefferhändler sofort. Aber wollen ökobewusste Kunden nicht lieber ein unraffiniertes Steinsalz kaufen? Immer wieder ist zu lesen, dass Siedesalz, welches zu 98 Prozent aus Natriumchlorid besteht, für den Körper nicht verträglich sei; man solle unraffiniertes Salz, das viele Spurenelemente enthalte, zu sich nehmen. »Ein Ammenmärchen«, meint Kai. »Seit Jahren wird versucht, mit sogenanntem Himalayasalz Geld zu machen. Öko-Test und die Stiftung Warentest haben aber schon im Jahr 2002 festgestellt, dass dieses Salz, anders als behauptet, nur winzige Spuren anderer Mineralstoffe als Natrium und Chlorid enthält. Genau wie das Salinensalz aus Halle besteht auch das oft als gesünder gepriesene Meersalz zu 95 bis 98 Prozent aus Natriumchlorid.« Salz ist Kai zufolge nicht das Richtige, um den Bedarf an Mineralstoffen und Spurenelementen zu decken; dafür sei vielmehr eine rundum gesunde Ernährung zuständig.
Regionale Vielfalt Während ich Kai von meinem Museumsbesuch erzähle, wird mir bewusst, wie sehr sich meine Beziehung zu dem bislang zwar alltäglichen aber dennoch fremden Stoff Salz verändert hat. Indem ich seinen Ursprungsort, die Geschichte der Salzherstellung und der Halloren kennengelernt habe, fühle ich mich mit diesem Lebensmittel auf einmal verbunden – bis weit in die Vergangenheit hinein. Das Salz, das ich aus Halle mitgenommen habe, ist nun nicht mehr irgendein Produkt, sondern verbunden mit Orten, Menschen, Geschichten und einem Gefühl für die Zeit und Arbeit, die in seinem Herstellungsprozess steckt. Kai hatte am Wochenende vor unserem Treffen bei einer Mundraub-Aktion Äpfel für das Saftpressen gepflückt. Auch dies habe für ihn die Zeit, die in einem Nahrungsmittel steckt, fühlbar werden lassen: »Wir haben über zwei Tage hinweg zehn Tonnen geerntet«, erzählt er. »Dabei wurde mir mehr und mehr bewusst, wie aufwendig und schwierig es ist, Saft herzustellen – nicht zuletzt durch den anschließenden Muskelkater.« Wir denken über mögliche Wege nach, wieder einen direkteren Bezug zu unseren Nahrungsmitteln aufzubauen. Welche Rolle spielen dabei kleine Unternehmen, die den Vertrieb organisieren? Kai überlegt, für seine Kunden Ausflüge zum Salinemuseum Halle anzubieten. Gerne würde er neben seinem Palmblütenzucker aus Bali auch regional hergestellten Rübenzucker vertreiben, aber bis jetzt hat er noch keinen kleinen Hersteller gefunden, der Biozucker aus heimischen Rüben gewinnt. Regionales, traditionelles Handwerk steht für Vielfalt – und so wie Biodiversität für die Balance der Natur wichtig ist, so sind vielfältige regionale Strukturen wesentlich für die Resilienz einer Gesellschaft, also ihre Anpassungsfähigkeit an krisenhafte Veränderungen. Wie steht es in dieser Hinsicht um die Region, in der ich aufgewachsen bin, dem Altmühltal? Was wird dort angebaut? Wie wird es gehandelt? Die Erfahrung aus Halle macht mir Mut, in Zukunft mehr nach meinen eigenen Wurzeln zu suchen. •
Theresia Funk (33) studiert Management Sozialer Innovation an der Hochschule für angewandte Wissenschaften München. Der Frage, wie sie arbeiten und leben möchte, geht sie gerade in ihrem Praktikum bei Oya nach.