Titelthema

Essen ist eine Kultur-Tat

Die Stadtteilkantine in Bielefeld macht viele Menschen satt und glücklich.
von Nicole Hille-Priebe, erschienen in Ausgabe #29/2014
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© Sebastian Cunitz

 »Von allem nun, was den Menschen gemeinsam ist, ist das Gemeinsamste: dass sie essen und trinken müssen«, stellte Georg Simmel vor mehr als 100 Jahren in seiner »Soziologie der Mahlzeit« fest. Er interessierte sich besonders für die archaischen Aspekte der Mahlzeit als Form, die aus Essen eine soziale Angelegenheit mit eigenen Regeln macht. Bis sie das Feuer entdeckten, hatte es für unsere Vorfahren keinen Anlass für solche Verbindlichkeiten gegeben. Erst ihre Macht über die Flammen machte den Unterschied: Jetzt war der Mensch ein Tier, das kochen konnte – er stand am Ursprung der Zivi­lisation.
Und heute? Ob alleine, zu zweit, im Bett, in der Kantine, in der Mensa, beim China-Imbiss, beim Gehen auf der Straße, am Computer, im Döner-Laden, im Auto, am Schreibtisch oder vor dem Fernseher: Die Individualisierung hat eine breite Schneise in unsere Esskultur geschlagen – und zu Vereinsamung geführt. Früher war Gemeinschaft da, wo der Kochtopf stand. Heute isst jeder wann, wo und so viel sie oder er will. Selbst in den Familien gibt es immer weniger gemeinsame Mahlzeiten, denn wenn niemand zu Hause ist, muss auch keiner kochen.
Eine Bielefelder Initiative will diese Entwicklung nicht unkommentiert lassen und hat unter dem Motto »Gemeinsam essen macht stark!« vor drei Jahren auf eigene Faust eine Stadtteilkantine ins Leben gerufen. Bis zu 40 Menschen mit verschiedenem sozialen Hintergrund lassen sich jeden Samstag im Quartier Bültmannshof von wechselnden Kochteams kulinarisch verwöhnen. Es gibt immer eine Vorspeise, ein Hauptgericht, Kaffee und Nachtisch. Was auf den Tisch kommt, bestimmt an erster Stelle die Jahreszeit – die zweite Instanz ist das Kochteam. Im Herbst und Winter stehen also eher Gerichte wie Zwetschgenknödel, Carpaccio aus Roter Bete, deftiger Steckrübeneintopf und Nusskuchen auf dem Menüplan; im Sommer bunte Salate mit essbaren Blumenknospen oder Nudeln mit Pesto aus Bärlauchblüten – und manchmal gibt es zum Nachtisch etwas Nahrhaftes für den Kopf, etwa wenn eine Aufführung zum Thema »Esskulturen« das Menü beendet. Die Zutaten für das stets aufwendig zubereitete Essen kommen möglichst aus der Region und werden mit Liebe eingekauft, vorbereitet, gekocht und serviert. Statt Massenabfertigung gibt es kreativ dekorierte Teller, denn die Gäste freuen sich nicht nur auf das Essen, sondern auch über einen festlich gedeckten Tisch, über die Gemeinschaft, die Gastfreundschaft und die Geselligkeit, die sie in der Stadtteilkantine finden.
Eine von ihnen ist Nina Hennen. Als Kind war die 39-Jährige an Hinhautentzündung erkrankt; die Infektion hat bleibende Schäden hinterlassen. »Den größten Teil meines Lebens habe ich in Krankenhäusern verbracht – ein brutales System, das brutale Menschen produziert.« Danach wollte sie erst einmal alleine leben. »Das hat aber nicht funktioniert. Mir ist die Decke auf den Kopf gefallen, ich habe die Einsamkeit nicht ausgehalten.« Jetzt wohnt sie in einer betreuten Gruppe, aber am liebsten würde sie mit dem Partner zusammenleben, den sie noch nicht gefunden hat. In der Stadtteilkantine fühlt Nina sich wohl. »Ich bin nicht regelmäßig hier, aber immer öfter.« Dann steht sie auf und geht mühsam zu ihrem Rollstuhl, der in der Ecke parkt.

Wider die Vertafelung
Weil sie den sozialen Raum nicht nur ordnet, sondern darüber hinaus gestaltet und erfahrbar macht, wird die gemeinsame Mahlzeit auch als »Architekt einer Gemeinschaft« bezeichnet. Sie knüpft und festigt die Bande der sozialen Routine und stiftet Zusammenhalt. Essen zu teilen, hat einen hohen symbolischen Wert: Viele Teile fügen sich wieder zu einem ­größeren Ganzen zusammen. In diesem Zusammenhang interessant: Wenn Schimpansen Nahrung teilen, produzieren sie verstärkt Oxytocin, ein für soziale Bindungen wichtiges Hormon. In einer Studie haben Wissenschaftler für evolutionäre Anthropologie 79 Urinproben von 26 in Uganda freilebenden Schimpansen genommen und festgestellt, dass der Oxytocinspiegel bei denjenigen, die ihr Futter geteilt hatten, deutlich höher war als bei denen, die alles alleine gefuttert hatten. Beim Teilen spielte es keine Rolle, wer Nahrung gegeben und empfangen hatte oder ob die Tiere miteinander verwandt waren. Weitere Studien müssten klären, ob auch Menschen beim Teilen ihrer Mahlzeit verstärkt Oxytocin produzieren, so die Forscher.
Ob mit Bindungshormon oder ohne: Wer zusammen isst, entwickelt einen sozialen Sinn. »Das Stoffliche, das Riechen, die Wärme des Nachbarn spüren – das sind ganz andere Kriterien als in den meisten Bereichen unserer Gesellschaft. Das gemeinsame Essen ist eine Kultur-Tat!«, meint Veronika Bennholdt-Thomsen. Die Ethnologin, Soziologin und Expertin für Subsistenzwirtschaft gehört zu den Gründungsmitgliedern des »Bielefelder Sozialforums«, das vor zehn Jahren als gesellschaftliches Gegengewicht im ungleichen Kampf gegen die Hartz-Gesetze angetreten ist. »Wir bemühen uns, etwas gegen diese und andere Zersplitterungen unserer Gesellschaft zu tun, denn es geht bei weitem nicht nur um die polarisierenden Unterschiede im Geldeinkommen. Vielmehr sind wir alle von der sozialen Kälte, der Vereinsamung, dem Unfrieden und der Freud­losigkeit betroffen. Unsere Empörung galt damals besonders der ›Vertafelung‹ der ­Republik in Folge von Hartz IV. Sie wurde noch größer, als wir hörten, dass Hilfe­suchende bei der Bielefelder Tafel von der damaligen Leitung immer wieder unwürdig behandelt wurden. Die gesellschaft­liche Ausgrenzung durch Armenspeisungen war bei uns also schon früh ein wichtiges Thema – und natürlich die Frage, wie wir dar­an konkret etwas verbessern können.«

Im Himmel füttern sich die Menschen
Eine bildliche Antwort auf diese Frage findet sich in dem russischen Volksmärchen »Himmel und Hölle«, das in der Stadtteilkantine gerne erzählt wird: In der Hölle haben die Menschen vom Teufel Löffel bekommen, die so lang sind, dass sie sie nicht zum Mund führen können und hungrig bleiben, obwohl immer ein Kessel mit Suppe auf dem Feuer steht. Die Löffel im Himmel sind genauso lang wie die in der Hölle – aber die Menschen schieben sie sich gegenseitig in den Mund. Weil sich alle füttern, werden sie immer satt.
Die Leute vom Sozialforum spielen ganz klar im Team Himmel. »Für Gerechtigkeit!«, sagt Veronika mit Nachdruck; und dann mit einem feinen Lächeln: »Das Geld wird überflüssig. Schleichend. Es passiert!« Dass in der Stadtteilkantine aus Träumen Regeln werden können, zeigt sich unter anderem darin, dass jeder nur das fürs Essen gibt, was ihm möglich ist. »Wir reden nicht über die Preise, sondern entkoppeln Geschmack und Kalkül. Es gibt viele Leute, die gerne etwas mehr geben, und andere freuen sich – ohne etwas dafür zu geben. Das ist sicherlich gewagt in einer Welt, in der die Idee vorherrscht, mit Geld sei alles messbar. Wir wollen aber lieber in einer friedlichen, gemeinschaftlich funktionierenden Stadtgesellschaft leben. Ich bin vom Gedanken der Subsistenzwirtschaft überzeugt und möchte die Idee hier vor Ort gerne noch weiter voranbringen.«
Ein Erfolg der Stadtteilkantine sei der Kulturwandel im Kleinen, der überall zu finden sei: »Im Prozess zwischen den Verantwortlichen und den Gästen hat sich das Verständnis von politischem Tun verändert.«
Mit am Tisch sitzt die Künstlerin und Soziologin Eva-Maria Dreitzel. »Für mich bedeutet die Stadtteilkantine auch, etwas über die Menschen und ihr Schicksal zu erfahren.« Bevor sie Mitte der 1980er-Jahre nach Bielefeld kam, war die langjährig für das Bültmannshof-Viertel Engagierte in der Kommunalpolitik aktiv – »lange genug, um ein Gespür dafür zu bekommen, ob in einem Stadtteil alles in Ordnung ist oder ob etwas nicht stimmt«. Häufig sind es die klassischen Probleme anonymer Wohn­satelliten am Stadtrand: »Die Menschen gehen rein und raus, aber sie begegnen sich nicht. Wir brauchen Orte im öffentlichen Raum, an denen alle Menschen zusammenkommen – und ich meine wirklich: alle Menschen!«
In der Stadtteilkantine gibt es zwar einerseits die Aktiven in den Kochteams und andererseits die Gäste, aber zwischen ihnen wird kein Unterschied gemacht. »Wir sind alle betroffen«, sagt Veronika Bennholdt-Thomsen. »Nur wer die eigene Bedürftigkeit akzeptiert, kann den Bedürfnissen der anderen entgegenkommen – und es gibt ein Bedürfnis, etwas zu geben.« Wie die Bewegung des urbanen Gärtnerns trägt auch die Stadtteilkantinen-Initiative dazu bei, eine neue Form der Vergesellschaftung einzuüben. Deshalb wird jede Gelegenheit genutzt, um die Idee weiterzuverbreiten. Der größte Wunsch der Gruppe sind geeignete Räumlichkeiten für ein Bürgercafé auf einem zentralen Platz in der Innenstadt.

Kultur des Gebens und Nehmens
»Wer keinen Mut zum Träumen hat, hat keine Kraft zum Kämpfen« – ein alter Sponti-Spruch. Auch Horst Börner träumt den Traum von einer gerechteren Welt. »Im Sozialforum sagen wir immer: Ein anderes Bielefeld ist möglich! Ich bin fest davon überzeugt, dass auch eine grundsätzlich ­andere Armenspeisung möglich ist: respektvoll, in Würde und von Mensch zu Mensch.« Horst Börner ist heute im Kochteam und macht kurz Pause; die Schürze lässt er um. Auch er ist von Anfang an dabei. »Ich habe vorher aber nie gekocht und bin erst spät auf den Geschmack gekommen. Anfangs habe ich mir die großen Mengen nicht zugetraut, aber mittlerweile macht es richtig Spaß.« Ihn fasziniert die Entwicklung, die die Gruppe in den vergangenen drei Jahren vollzogen hat.
Dass das Geben und Nehmen heute ein dynamischer Prozess ist, war nicht immer selbstverständlich. Der Weg dorthin war von ebenso liebenswerten wie skurrilen Episoden gepflastert. So kam schon einmal ein neues Kochteam mit Zollstock und Maßband vorbei, um Herd und Spüle auszumessen, damit alles perfekt vorbereitet sei. Dann war da die alte Dame, die – schon bevor das Essen begonnen hatte  – fragte, wo denn die Dose zum Bezahlen sei. »Ich sagte, sie könne nach dem Essen zahlen«, erzählt Veronika. »Sie bestand darauf, es sofort zu tun, und so holte ich die Spendendose. Sie legte zwei Münzen hinein und ging zufrieden an den Tisch. Es waren zwei 5-Cent-Münzen. Das war der Anteil, den sie geben konnte. Sie wollte nichts geschenkt und kein Almosen. Das hat viel mit Würde zu tun.« Mehr als einmal stand das Projekt finanziell bereits auf der Kippe. »Die Lösung war einfach«, erklärt Horst Börner. »Wir haben das Problem öffentlich angesprochen – und alle haben begriffen, dass es um unsere Zukunft geht.« Noch etwas ist Börner aufgefallen: »Über das Essen wird nicht mehr gemeckert. Anfangs hatten vegetarische Gerichte hier keinen so guten Stand. Das hat sich mittlerweile sehr verändert. Die Leute akzeptieren das jetzt nicht nur – sie finden es sogar gut!« •


Nicole Hille-Priebe (45), Soziologin, arbeitete bei der Tageszeitung »Neue Westfälische« in ­Bielefeld unter anderem in der Kultur- und der Politikredaktion und ist heute freie Journalistin.
 

Auch eine Stadtteilkantine gründen?
www.sozialforumbielefeld.blogsport.de

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