Gesundheit

Mehr Sorge für Sorgearbeit

Beate Küppers sprach mit Barbara Fried, Redakteurin bei der Rosa-Luxemburg-­Stiftung, über die neue Bewegung »Care ­Revolution«.von Beate Küppers, Barbara Fried, erschienen in Ausgabe #29/2014
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Der Begriff »Care« begegnet mir in letzter Zeit immer häufiger, wenn es um Veränderungsbedarf im Gesundheitsbereich geht. Was muss ich mir darunter vorstellen?

Im engeren Sinn sind damit alle sorgenden Tätigkeiten – von der Pflege über Erziehung bis zur Unterstützung von alten oder behinderten Menschen – gemeint. »Sorgearbeit« könnte es auch heißen, aber das Wort »Care« hat sich als politisch griffiger Begriff herausgestellt, der bezahlte wie unbezahlte Tätigkeiten und verschiedene Sorgebereiche umfasst.

Auf der Webseite von »Care Revolution« wird auch von einer »Krise der sozialen ­Reproduktion« gesprochen.

Ja, dabei geht es aber nicht nur um Sorge­arbeit im engeren Sinn, sondern um alle Bereiche, die für den Erhalt des menschlichen Lebens notwendig sind – von häuslicher Nahrungsherstellung über das Gesundheitswesen, die Versorgung mit Wasser und Strom bis hin zu Mobilität und Wohnen. Der Begriff kommt aus dem feministisch-marxistischen Kontext und verweist auf die ökonomischen Zusammenhänge von Bereichen, in denen viel unbezahlte Arbeit geleistet wird und auf denen gerade im Neoliberalismus ein hoher Kostendruck lastet.

Demnach wäre »soziale Reproduktion« etwa das, was wir in Oya als »­commoning« oder »gemeinschaffen« bezeichnen?

Ja, im Grund ist das Gleiche gemeint. Ich würde die Diskussion um Commons, die ja inzwischen relativ breit geführt wird, gerne um die Frage ergänzen, wie sich der Commons-Gedanke verallgemeinern lässt. Wir brauchen Strukturen, die alle Menschen einschließen und bestehende Ungleichheiten überwinden! Bei der Commons-Debatte habe ich oft die Sorge, dass diejenigen, die weder über finanzielle noch über soziale Ressourcen verfügen, nicht einbezogen sind. Selbstorganisation ist für viele eine Überforderung, schon weil wir das nicht gewöhnt sind.
Wir müssen also auch über Wege nachdenken, wie wir uns solche Qualifikationen überhaupt aneignen. In der Care-Bewegung werden Aspekte von demokratischer Kontrolle, von Teilhabe und Gestaltungsmöglichkeiten immer mitgedacht. Es geht nicht um eine einheitliche, staatlich vorgegebene Schablone für alle, sondern um soziale Infra­strukturen, die Raum für individuelle Gestaltung und Fantasie öffnen – rund um die Frage »Wie wollen wir eigentlich leben?«

Da sehe ich zur Commons-Bewegung keinen Widerspruch. Bei einer Rekommunalisierung von Wasser oder Strom ist es ja gerade das Ziel, diese Gemeingüter für alle in guter Qualität zu erhalten. In Interkulturellen Gärten begegnen sich Menschen aus ganz verschiedenen Hintergründen. Aber das sind natürlich immer noch Inseln.

Ja, letztlich sind die Begriffe nachrangig. Wesentlich ist, dass wir darüber nachdenken, wie lokale Praxis und konkrete Projekte so entwickelt werden können, dass sie auf eine grundlegende Transformation unseres Wirtschaftssystems zielen. Denn das gründet auf einem ausbeuterischen Umgang nicht nur mit der Natur, sondern auch mit der menschlichen Arbeitskraft, besonders bei der sogenannten unsichtbaren Seite der Produktion – also bei allen Tätigkeiten, die nötig sind, um Lebens- und Arbeitskraft zu erhalten. In überwiegender Zahl sind es Frauen, die die Lücken eines ökonomisierten Gesundheits- und Bildungs­wesens schließen – und die Situa­tion spitzt sich zu. Finanzielle Probleme und psychischer Druck, Erschöpfung und Unzufriedenheit sind bis weit in die Mittelschicht verbreitet. Soziale Spaltungen machen sich nicht zuletzt daran fest, wie gut jemand für sich und andere sorgen kann, wer einer erfolgreichen Erwerbsarbeit nachgeht und wer wie viel Lohn und Anerkennung für geleistete Sorgearbeit erhält.

Wie könnte denn eine menschen- und ­lebensfreundliche Perspektive für die vielfältigen Sorgearbeiten aussehen?

Es gibt einen riesigen Bedarf an mehr Arbeitsplätzen im Bereich von Gemeingütern, wie Mobilität, Wasser oder Energie, und bei den sozia­len Dienstleistungen: Gesundheit, Pflege, Betreuung, Bildung, Ernährung. Diese Bereiche sind die einzigen, die im globalen Norden real wachsen und die ein qualitatives Wachstum ermöglichen – sofern es gelingt, die entsprechenden Einrichtungen öffentlich zu halten und nicht dem Markt preiszugeben.

Was für Aktivitäten gibt es bereits unter dem Motto »Care Revolution«, und wer sind die Mitwirkenden?

Zur einer ersten Aktionskonferenz trafen sich im März dieses Jahres 500 Menschen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. Es wurde viel darüber diskutiert, wie eine Gesellschaft gestaltet werden müsste, in der ein gutes Leben für alle möglich wäre. Auch international werden intensive politische Auseinandersetzungen um die soziale Daseinsvorsorge geführt. Immer mehr Menschen bekommen Versorgungslücken im Alltag hautnah zu spüren, beispielsweise wenn die eigenen Eltern im Alter schlecht betreut sind. Das trifft auch diejenigen, die sich bisher nicht politisch engagiert haben.
Ein großer Erfolg war insofern schon das breite Spektrum, das auf der Konferenz vertreten war: pflegende Angehörige, Inter­essenvertretungen von Pflegeabhängigen, gewerkschaftliche Betriebsgruppen, Initia­tiven migrantischer Selbstorganisation, Elterninitiativen, gesundheitspolitische und queerfeministische Gruppen sowie Aktive aus dem Bereich alternativer Ökonomien.

Gibt es einen gemeinsamen Nenner, der all diese unterschiedlichen Felder verbindet?

Wenn es darum geht, Veränderungen anzustoßen, ist es zentral, die Anliegen von Menschen, die sorgen, und denen, die auf Sorge angewiesen sind, zusammenzudenken. Ihre Interessen scheinen zunächst sehr unterschiedlich zu sein – gemeinsam ist ihnen aber die Forderung, dass im Zentrum des wirtschaftlichen und politischen Handelns nicht die Maximierung von Profit stehen soll, sondern die Verwirklichung menschlicher Lebensinteressen.
Außerdem ist es wesentlich, die Erfahrung von individuellen alltäglichen Engpässen mit den allgemein schlechter werdenden Zuständen in den öffentlichen und auch in den mittlerweile zum Teil privatisierten Bereichen von Gesundheit, Bildung, Erziehung, Pflege etc. in Beziehung zu setzen. Orte kollektiven Lernens und gemeinsamer Erkenntnis sind dabei von unschätzbarem Wert.

Sind konkrete Schritte für die nächste Zeit geplant?

Die Care-Bewegung soll keine Organisation werden, die stellvertretend auftritt, sondern eher ein Knotenpunkt, über den sich aktive Menschen und Initiativen aufeinander beziehen können. Die Herausforderung besteht nun darin, lokale oder regionale Kooperationen auf den Weg zu bringen. Aber auch bundesweite Kampagnen sind in Vorbereitung. So gibt es die Idee, im kommenden Jahr den 1. Mai zum »Tag der unsichtbaren Arbeit« zu machen.
Ein vielversprechender Ansatz ist gerade in der Charité, dem Berliner Uni-Klinikum, zu beobachten: Den Pflegekräften der dortigen ver.di-Betriebsgruppe ist es gelungen, ihre Tarifverhandlungen zu einer Auseinandersetzung um ein öffentliches Gut  – nämlich hochwertige Gesundheitsversorgung – zu machen. Unter dem Slogan »Mehr von uns ist besser für alle« haben sie für feste Quoten zwischen Pflegenden und Gepflegten gestreikt. In Kindergärten gibt es so etwas bereits – in Krankenhäusern nicht. Hier wird der Druck einer profitorientierten Finanzierung massiv an das Personal weitergegeben und durch unbezahlte Überstunden und unbesetzte Stellen ausgeglichen. Feste Pflegequoten würden dem einen Riegel vorschieben und letztlich die Finanzierung über sogenannte »DRGs« – also Fallkostenpauschalen – infrage stellen. Die Charité ist aber auch deshalb bemerkenswert, weil diese Initiative von den Patientinnen und deren Angehörigen unterstützt wird – sie haben sich im Bündnis »Berlinerinnen und Berliner für mehr Personal im Krankenhaus« zusammengeschlossen.
In den USA gibt es sogar eine landesweite gewerkschaftliche Kampagne für gute Pflege: »Caring Across Generations«. Aus der individuellen, aber gesellschaftlich breit geteilten Erfahrung, an den Ansprüchen der Leistungsgesellschaft zu scheitern, werden grundlegende Fragen diskutiert und Alternativen angestoßen: »Wie wollen wir leben, wie wollen wir alt werden?«
Derartige Kooperationen rücken das Verhältnis von Arbeit und Leben auf eine neue Weise in den Fokus. Das brennt vielen Menschen unter den Nägeln. Ich glaube, es ist sehr wichtig, Orte für kollektive Lernprozesse zu schaffen und sich überhaupt daran zu gewöhnen, für eigene Interessen einzutreten. Dazu ist auch ein hohes Maß an Toleranz für unterschiedliche Ansichten und Lebensweisen nötig. Ein erster kleiner Erfolg an der Charité ist, dass einige zusätzliche Stellen eingerichtet wurden – und die Auseinandersetzungen gehen weiter.

Wie lässt sich selbstermächtigtes Handeln mit der Forderung nach öffentlicher Verantwortung verbinden? Ist beispielsweise die Gründung von Pflegegenossenschaften eine positive Entwicklung?

Genossenschaften sind gute Übergangs­modelle. Auch das Mietshäuser Syndikat, das als GmbH organisiert ist, schafft kleine Inseln jenseits von Spekulation und Gewinnstreben. Neben stabilen Mieten wird immer mehr Wohnraum dem Markt entzogen. Ein solches Prinzip wäre bei Pflegegenossenschaften auch denkbar. Aber hier stellt sich wieder die Frage: Wie werden die Menschen, die sich nicht in eine Genossenschaft einkaufen können, integriert?
In jedem Fall ist es positiv, jenseits bestehender Pflegeheime Experimentierfelder zu schaffen, in denen Pflege gemeinschaftlich organisiert werden kann – beispielsweise in Wohngemeinschaften für ältere Menschen: Wie viel Unterstützung ist überhaupt notwendig, und wo können sie sich auch gegenseitig helfen?

Wenn diese Ausgabe von Oya erscheint, wird das nächste Care-Revolution-Treffen vorbei sein. Was würdet ihr gerne in drei bis fünf Jahren erreicht haben?

Ich wünsche mir mindestens zehn ­aktive Regionalgruppen, die in ihren lokalen Strukturen gut verankert sind und die sich vor Ort zusammenschließen – auch in Themenfeldern, die über den Care-Bereich hin­ausgehen. In drei bis fünf Jahren sollte es an der Charité gesicherte Personalschlüssel geben. Andere Krankenhäuser können dann so etwas ebenfalls durchsetzen.
In diesem Zeitraum hoffe ich auch auf andere Mehrheitsverhältnisse im politischen Raum. Das ist zwar noch keine Transformation, aber wir müssen aufpassen, dass die derzeitigen Entwicklungen nicht in eine autoritäre und rechtspopulistische Politik münden. Auch dagegen sind alltagsnahe, praktische Zusammenschlüsse auf Stadtteil- oder Kiezebene wichtig, die kollektives Erleben und Handeln ermöglichen.

In Oya werden wir darüber ganz bestimmt weiter berichten. Vielen Dank für das spannende ­Gespräch! •

 

Barbara Fried (44) ist Sozialwissenschaftlerin und arbeitet bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin. Sie ist in der Care-Bewegung aktiv und hat Anfang 2014 die erste Aktionskonferenz »Care Revolution« maßgeblich mitorganisiert.


Mehr über gute Sorgearbeit
www.care-revolution.site36.net
www.mehr-krankenhauspersonal.de
www.caringacross.org

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