Ein zukunftsfähiges Europa wächst an seinen Rändern: Valeria Svart-Gröger und Julian Gröger leben und verbreiten die konkrete Utopie eines Moldawiens des guten Lebens.von Valeria Svart-Gröger, Juliane Gröger, erschienen in Ausgabe #30/2015
Ernest Callenbach hat sich in den 1970ern in seinem großartigen Zukunftsroman »Ökotopia« eine Gesellschaft vorgestellt, in der Resilienz und Gemeinschaft gelebt werden. Dem Zeitgeist entsprechend hat er dafür den Nordwesten der USA ausgesucht.
Wo würde man heutzutage solch einen Ort der Zukunftsversprechungen hinverlegen? Nach Bhutan vielleicht oder Bolivien – aber innerhalb Europas? Wo könnte bis 2040 ein tiefgreifender Wandel stattfinden? Resilienz und innerer Frieden wären nur zwei Stichworte für eine neue Utopie. Es müsste wohl ein kleines Land sein, damit große Veränderungen schnell umsetzbar wären. Das Land sollte gute Böden haben und viele Menschen, die etwas von Landwirtschaft verstehen, nicht stark industrialisiert und nur wenig in globale Stoffströme eingebunden sein. Vielleicht Österreich? Aber kann eine solche Utopie in der EU liegen? Wir setzen auf Moldova – oder Moldtopia, wie wir unsere Vision nennen. Moldova – im Volksmund Moldawien, offiziell Republik Moldau – liegt zwischen Rumänien und der Ukraine am Rand der EU. Dort leben auf etwa der gleichen Fläche wie Nordrhein-Westfalen nur 3,5 Millionen Menschen – also nur ein Fünftel der Menschen, verglichen mit der Bevölkerungsdichte Westdeutschlands.
Moldova hat sehr gute Böden. Zu Zeiten der Sowjetunion war das Land mit Georgien der Obst- und Gemüsegarten. Leider sind dadurch nur noch neun Prozent der Landschaft bewaldet. Rund 40 Prozent der Menschen sind in der Landwirtschaft tätig, viele versorgen sich zu einem großen Teil selbst. Moldova wurde von der UdSSR aus politischen Gründen vor großindustriellen Plänen verschont, denn Moskau befürchtete, der Landstrich könnte sich irgendwann wieder Rumänien anschließen. Diese geringe Industrialisierung wird allgemein als Nachteil gesehen, doch in unseren Augen liegt genau hier ein Potenzial. Energetisch ist man noch abhängig von russischem Gas, das Potenzial für Solarenergie und Reststoff-Biomasse ist aber enorm. Die Menschen sprechen mehrheitlich Russisch und Rumänisch und sehen diese Zweisprachigkeit zunehmend als Geschenk. Sowohl die rumänische als auch die russisch-sowjetische Kultur ist mit all ihren Schätzen in Moldova verankert: literarisch, kulinarisch und sprachlich.
Was aber bedeutet Moldtopia? Wohin wollen wir mit diesem Landstrich bis 2040 kommen? Moldtopia ernährt seine Bevölkerung von rein ökologischem, regionalem Anbau. Das Fahrrad ist das meistbenutzte Verkehrsmittel. In den Städten fahren Trolleybusse, über Land ist der Schienenverkehr elektrifiziert und gut ausgebaut. In den Städten gibt es kleine Nachbarschaften, in denen die Menschen zusammen wohnen, arbeiten, essen und feiern. Viele Häuser sind aus regionalen Baustoffen. In Holz-Stroh-Lehm-Bauten sind Moldauer global geschätzte Experten. Ein Großteil des Landes ist wieder bewaldet, es gibt Schutzräume ohne Eingriffe des Menschen. Beim Anbau der Nahrung hat sich die Agroforstwirtschaft durchgesetzt. Erosion gibt es nicht, das Wasser ist überall trinkbar. Die Menschen beschwingt ein Gefühl der Fülle, und Kinder sind das höchste Gut, auf das die ganze Gemeinschaft achtet.
Kann meine Region bedeutsam werden? Wir vom moldauischen Verein »EcoVisio« arbeiten gemeinsam mit jungen Menschen in Moldova an der Erfindung und Umsetzung der Vision von Moldtopia. Freilich haben die meisten jungen Leute eine andere Idee von der Zukunft ihres Landes. Im politischen Streit geht es häufig um die Ausrichtung EU versus Russland, ein Regionalstolz ist wenig verbreitet. Die einen fühlen sich Rumänien verbunden, die anderen Russland; beide Parteien streiten sich um die Orientierung des Landes. Auch der Konflikt um Transnistrien stört die Konzentration auf die eigene Entwicklung.
Mit unserem Programm »activEco« unter dem Motto »Nachhaltigkeit in Aktion« bringen wir eine neue Komponente hinein: Was wäre, wenn meine Zukunft hier bei uns in Moldova läge und nicht in Rom, Berlin oder Moskau? Was, wenn unsere Region bald Vorbild für andere wäre? Durch Trainings von activEco kommen Jahr für Jahr weitere Menschen hinzu, die Moldtopia verwirklichen wollen. Die Kraft der Vision und die Energie junger Menschen kann uns einer Utopie schnell näherführen. Vorfreude auf die Zukunft und eine Gemeinschaft, in der verrückte Ideen geäußert und verstanden werden – daran arbeiten wir. Noch heißt Moldova das »ärmste Land Europas« – doch wie wird es in 25 Jahren sein? •