Selbstbestimmt lernen in Gut Hugoldsdorf.von Florian Lück, erschienen in Ausgabe #4/2010
Captura – Ergreife die Welt! Mit diesem Ausruf wurden im Jahr 2004 in Witten Schüler und Studenten zu einer Forschungsreise nach einer Schule von Morgen eingeladen. Die Initiative hatten fünf Studenten des dortigen Instituts für Waldorfpädagogik ergriffen (captura, spanisch, bedeutet »die Ergreifung«). Der Austausch zwischen Oberstufenschülern und werdenden Lehrern über die aktuelle Situation brachte ein negatives Bild zutage. Die Schulwelten wurden als eher lebensfeindlich beschrieben – niemand konnte sich damit identifizieren. Gegenüber Angst, Misstrauen, Ohnmacht und Frustration formulierte sich die Sehnsucht nach Vertrauen, Eigenverantwortung, Selbstbestimmung und Freiwilligkeit sowie nach einem Miteinander-leben-und-lernen-Können. In drei lebendigen Tagungen, zahlreichen Workshops, Initiativen, Treffen und Gesprächen, engagierten sich einige hundert junge Menschen. Bis 2006 entwickelte sich in diesem Prozess die Idee eines Freiraums – eines Raums, der zugunsten der Entfaltung der inneren Freiheit des Menschen auf jegliche Form von Vorherbestimmung, wie etwa durch Konzepte, Programme, Zeitstrukturen, Regeln oder Erwartungen, verzichtet, auf dass der einzelne Mensch zum Vorschein komme. Nicht die abstrakte oder ideologische Idee eines freien Raums ist das Ziel, sondern der ganz konkrete Mensch, so wie er ist, mit allem, was er denkt, fühlt und will. »Herausforderung: Freiraum zum Lernen und Leben!«, nannten wir es damals. Heute möchte ich schreiben »Herausforderung: Mensch«.
Die Einkommensfrage Der erste Teil unserer Suche nach der Schule von morgen schien damit abgeschlossen. Wo nun aber unseren Freiraum in einer dauerhaften, alltäglichen Lebenssituation weiterentwickeln? Und wie diesen Raum und das Leben seiner Menschen finanzieren? Im späten Frühjahr 2007 stand ein Konzept für unseren Ort. Wir wollten ein Grundstück kaufen und rätselten, wie wir zu Geld, zu einem persönlichen Einkommen gelangen könnten. Weder bei staatlichen Fördermöglichkeiten noch irgendwo in der Stiftungslandschaft sahen wir Aussicht auf Erfolg. Wir machten die Erfahrung, dass wir, je mehr wir der Idee des Freiraums näherkamen, uns umso stärker aus der Wahrnehmbarkeit durch Menschen in Stiftungen entfernten. Trotz unserer konsequenten Bemühungen um Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit wurde unser Anliegen für diese Leute nicht mehr verstehbar. Kann aber ein solcher Freiraum eine zu bezahlende Dienstleistung sein? Das erscheint uns bis heute absurd: Im Freiraum wird vor allem geschenkt: Aufmerksamkeit, Initiative, Gespräch, Arbeit … Es gibt eben auch Arbeiten, die kein Geld hervorbringen und deren Finanzierung von woanders herkommen muss. So schien uns die einzige vernünftige, sachgemäße und stimmige Lösung zu sein, Menschen einzuladen, uns Geld zu schenken. »Wir wollen nicht von unserer Arbeit leben, sondern wir wollen leben, um unsere Arbeit machen zu können!« formulierten wir auf einem Flyer. Bereits 2005 hatte ich mich mit Hilfe der Zukunftstiftung Soziales Leben der GLS Treuhand auf den Weg zu einem geschenkten Einkommen begeben. Ein ermutigendes Vorbild dafür war ein älterer Freund, Peter Romahn aus Bochum, der bereits seit einigen Jahren einen privaten Förderkreis von Menschen hatte, die ihm monatlich kleine Beträge schenkten, um seine Arbeit als »Agent für kulturelle Angelegenheiten« zu ermöglichen. Dann, 2006, fanden wir unseren zukünftigen Ort in Nordvorpommern und entschieden uns zu dritt – das Studium war beendet –, im Herbst nach Hugoldsdorf zu ziehen, um dort mit unserer Arbeit zu beginnen. Wir entschieden uns also, die Idee eines Schenkeinkommens auszuprobieren. Dazu formulierten wir unser Anliegen auf unserer Website und einem Flyer, brachten die Idee ins Gespräch und luden sehr zurückhaltend ein, sich an unserem Einkommen zu beteiligen. Wir wollten nicht um Geld betteln und andere damit nötigen, sondern so freilassend wie irgend möglich auf unseren Bedarf hinweisen. Diese Idee funktioniert bis heute, wenn auch vorerst nur auf einem bescheidenen Niveau von aktuell gut 400 Euro für jeden von uns dreien. Immerhin fast 60 Menschen aus ganz Deutschland machen unsere Arbeit hier möglich, halten uns den Rücken frei, damit wir unsere Arbeit schenken können. Die einzelnen Menschen übernehmen hier die Rolle des Staats und geben einen kleinen Teil des ihnen zur Verfügung stehenden Geldes direkt in einen das Gemeinwohl fördernden Zusammenhang.
Mich selbst und die Gesellschaft im Blick Mit unserem Freiraum wollen wir an einer zukünftigen Gesellschaft mitarbeiten, in der es nicht mehr nötig ist, Menschen zu zwingen, sich am gesellschaftlichen Zusammenleben und –arbeiten zu beteiligen. Das Scheitern dieses Ansatzes erleben wir heute: Immer mehr Menschen haben keine Lust mehr auf diese Kultur der Bevormundung und des entgegengebrachten Misstrauens. Wieviel Potenzial und Motivation wird in den Schulen blockiert, weil Zwang und Druck in eine einzige, fragwürdige Richtung führen – in eine Sackgasse, in der man mit angezogener Handbremse Vollgas fahren will, wie es die Situation in den Klassenzimmern spiegelt. Warum nicht darauf vertrauen, dass Menschen bereit sind, sich der Welt, der Gesellschaft, dem anderen auch freiwillig zuzuwenden, und dass Lernen, Motivation, Interesse oder Leistungsbereitschaft auch ohne Zwang entstehen können? Wir haben eine Gesellschaft im Blick, zu der die Einzelnen tendenziell immer mehr ja und nicht nein sagen. Als zukünftige gesellschaftliche Grundlage erscheint uns eine Kultur der Freiwilligkeit als eine überzeugende Option. Es wäre eine Gesellschaft, in der der Einzelne zunehmend aufrecht und freiwillig Verantwortung übernimmt. Der Mensch in seiner Gestaltungsfähigkeit, in seinem schöpferischen Prinzip wäre gefragt. »Ich will mit meinem einzigartigen Potenzial Mitgestalter der Welt sein!« – so ließe sich der innerste Wunsch vieler Menschen, die sich eigentlich einbringen wollen, vielleicht auf den Punkt bringen. Der Mensch entwickelt sich, und gerade in unserem Kulturkreis ist der Vorgang der Individuation, des immer mehr Aufwachens in sich selbst zur eigenen Ganzheit, die Ausbildung der ganz individuellen Persönlichkeit, eine prägnante Entwicklung. Je mehr Menschen sich in die Tiefe der eigenen Person entwickeln, desto anspruchsvoller oder sensibler werden sie in Bezug auf ihr Lebensumfeld. In der Schule verlieren dann einige den Lebenszusammenhang, weil sie etwa das Gefühl haben, dass sie hier gar nicht gewollt sind. Die Situation wird dem Anspruch, leben zu wollen, nicht gerecht. Immer mehr Menschen empfinden die heute vorhandenen Arbeitsplätze, das Studium oder eben auch die Schule als in diesem Sinn unstimmig bis lebensfeindlich. Wäre es nicht eine gesellschaftliche Aufgabe, uns so einzurichten, dass mehr und mehr lebensförderliche Zusammenhänge entstehen? Da gibt es zum Beispiel einen Vierzehnjährigen aus Potsdam. In der Schule beteiligte er sich nicht mehr, und zu Hause verkroch er sich vor den Computer. Seine Kommunikation mit den Eltern brach immer mehr ab. Sorgen kamen auf – so konnte es nicht weitergehen! Eine Schul-Auszeit wurde angedacht. Über Umwege landet der Junge schließlich bei uns in Hugoldsdorf. Wir hatten ihm eine Mail geschrieben und ihm die Möglichkeit, einfach hier zu sein, angeboten. Er kam dann alleine von Potsdam mit der Bahn, um mal reinzuschnuppern. »Was für Leute sind das, was machen die da?« Auf unsere direkte Frage »Was würdest du denn gerne machen, wenn du hier wärst?« antwortete der mittlerweile Fünfzehnjährige: »Ich würde gerne Verantwortung übernehmen und etwas wirklich Sinnvolles machen!« – Ich hatte den Eindruck, dass er sich in der Schule zu Tode langweilte und mit dem Bedürfnis, Verantwortung zu übernehmen, völlig ins Leere lief. Für vier Wochen kam er zu uns. Selten ist mir ein so unproblematischer, sympathischer und leistungswilliger junger Mensch begegnet. Man konnte zusehen, wie er mit jedem Tag mehr Selbstvertrauen gewann und wacher wurde. Wir alle verabredeten uns jeden Morgen und tauschten uns aus, was bei wem anstand. Für ihn war das Wichtigste, dass ihm freigestellt wurde, mitzumachen oder nicht. Er begab sich in die unterschiedlichsten Arbeiten und krönte seine Schul-Auszeit damit, dass er sich von einem Maurer zeigen ließ, wie er einen Grill mauern kann, tat dies und grillte darauf voller Stolz beim Pfingsttreffen für 80 Leute. Schule, Ausbildung, Studium und die meisten Arbeitsplätze zielen viel zu massiv darauf ab, ein Erwerbseinkommen haben zu müssen. Vergleichsweise kraftlos steht neben diesem hohen finanziellen Ziel die Frage »Was ist eigentlich zu tun?« Die Antwort, die aus unseren gesellschaftlichen Einrichtungen und durch die dort gepflegten Kulturen spricht, lautet: »Es muss Geld verdient werden!« Das ist womöglich ein einseitiger, reduzierter Blick, doch hilft er, eine neue Perspektive klarer zu sehen. So sollten die Schulen Orte werden, wo man die jungen Menschen willkommen heißt und sie einlädt, sich auf das vorzubereiten, was es heutzutage wirklich Sinnvolles in dieser Welt zu tun gibt. So könnte auch ein neuer Begriff von Arbeit entstehen. Zukünftige Arbeitsplätze wären für die beteiligten Menschen auch Lebens- und Entwicklungsräume. Jeder wäre von Beruf zunächst Mensch und außerdem eben noch Handwerker, Forscher, Gärtner oder Manager. Ein Wandel in diese Richtung ist längst im Gang. Ich treffe regelmäßig Menschen, die eine Sehnsucht nach einem solchen Leben ausdrücken, und immer mehr Suchende, die sich allen Widerständen und Ängsten zum Trotz auf den Weg machen, eine solche Zukunft zu verwirklichen.
Freiraum Hugoldsdorf – Das Wesentliche ist unsichtbar! Gottfried Stockmar hatte 2006 das stark renovierungsbedürftige Gut in Hugoldsdorf erworben, in der Hoffnung auf Menschen, die wie er die Idee der Freiheit im Alltag leben wollten. Sein Plan war ein Umfeld, in dem der Mensch sowohl mit seinen sozialen wie mit seinen antisozialen Impulsen leben könne. Angeregt von Schiller formulierte er die einzige Grundregel, die es dafür brauchen würde: »Schone fremde Freiheit – und zeige deine eigene!« Vor fast drei Jahren zogen wir drei »Capturas« ein. Inzwischen wohnen hier neun Menschen fest vor Ort und kümmern sich unter anderem darum, dass der Freiraum auch ganz real zur Verfügung stehen kann, für uns selbst und für die vielen Menschen, die sich für Tage, Monate oder auch Jahre dazugesellen. Wie sieht unser Alltag aus? Es ist nicht spektakulär, was hier äußerlich passiert. Ein altes Gut wird renoviert und belebbar gemacht. Es gibt jedoch keine Notwendigkeit, bis dann und dann fertig zu sein. Es gibt keinen, der mir sagt, ich müsse dies oder jenes tun, keinen, der mir eine bestimmte Rolle oder Aufgabe zuweist. Wer nicht bereit ist, sich auf sich selbst, auf seine innere Wahrheit einzulassen, wird hier scheitern. Es gibt im Freiraum keinen sicheren Weg. Risikobereitschaft und Mut sind unverzichtbar, um mit sich selbst neue Wege zu entdecken. Schwierig wird es auch mit Erwartungen an andere, wenn das Leben oder der Andere sich nicht so verhält, wie ich es gerne hätte. Wie schone ich konkret die Freiheit des Anderen, und wie zeige ich meine eigene? Im Wesentlichen entsteht hier ein Bemühen um einen Lebens- und Arbeitsstrom, der sich stimmig anfühlt: Ist es mein schlechtes Gewissen, aus dem heraus ich abspüle, oder mache ich es gerade wirklich gerne? Habe ich die Arbeit für den Stiftungsentwurf übernommen, um darüber Anerkennung zu bekommen? Fühle ich mich getrieben, etwa ein fleißiger Mensch sein zu müssen? Was ist echt in dem, was ich tue, was ausgedacht oder aufgesetzt? Es sind praktische Versuche, die Motive des eigenen Handelns zu erforschen und in Einklang mit mir selbst und der Welt zu bringen. »Frei sein heißt, in Handlungen sich ausleben, die man liebt!«, sagte Rudolf Steiner. Ist es möglich, sich dahin zu entwickeln? Beim Versuch, das Wesentliche anzuschauen, ist nicht so sehr von Interesse, was Menschen hier in den letzten Jahren gemacht haben, als vielmehr die Frage, wie sich dabei das persönliche Stimmigkeitsgefühl entwickelt hat. Es sind eben diese vielen, oft leisen, keimhaften Entwicklungen einzelner, die immer auch sehr intim sind. Es gibt nichts, was man plakativ auf eine Fahne schreiben könnte – da ist nur der Andere mit seinem unantastbaren Innersten und ich selbst mit meiner eigenen inneren Baustelle. Und das, was dazwischen und vielleicht auch zusammen entsteht. Es ist eine äußerliche und innerliche Baustelle, in der eine Fülle an individuell gedeckten Lern-, Lebens- und Arbeitsprozessen entsteht. – Ist es vielleicht doch »Schule« im ursprünglichen Sinn des Worts?
Wie finanziert sich das Projekt? Der Kauf des Grundstücks und bisherige Renovierungen wurden privat, teils durch Schenkungen, ermöglicht – bis heute rund 500 000 Euro. Auch zukünftig betrachten wir Schenkgelder als passend für die weiteren Investitionen. Um dies zu vereinfachen, ist gerade ein Stiftungsfonds bei der GLS Treuhand in Gründung. Die jährlich etwa 8000 Euro Betriebskosten sollen von denen getragen werden, die sie beanspruchen: von den festen Bewohnern und den Besuchern (3,50 Euro pro Tag). Für das Essen zahlt jeder 5 Euro pro Tag in die Kasse. Im Bereich der Einkommen ist es so, dass jeder zunächst eine individuelle Lösung sucht. Es ist jedoch inzwischen eine Gesprächskultur entstanden, in der sehr offen über das Thema Geld gesprochen wird, so dass man damit zumindest nicht alleine ist. Da es keine Mieten gibt, sind unsere Lebenshaltungskosten vergleichsweise gering. Bei jüngeren Menschen sind es oft Eltern, Familie, Kindergeld aber auch selbstverdiente Gelder, die das Hiersein finanziell ermöglichen. Für uns drei von captura ist der Freiraum unser Beruf. In diesem Zusammenhang entstehen unsere geschenkten Einkommen durch Menschen, die über ein größeres Einkommen verfügen und unsere Arbeit unterstützen möchten.