Lou Zucker reiste im Bus des Zentrums für politische Schönheit an die Außengrenze der Europäischen Union, um auf eine besondere Art das 25. Jubiläum des Berliner Mauerfalls zu begehen.von Lou Zucker, erschienen in Ausgabe #30/2015
Auf dem sonnigen Feldweg formiert sich eine Polizeikette. Auch in den kargen Hügeln ringsum positioniert sich der Grenzschutz, darüber ein Hubschrauber. Ihre Mission: die EU-Außengrenze zwischen Bulgarien und der Türkei zu verteidigen – normalerweise gegen illegale Einwanderer, doch heute, am 9. November 2014, vor allem gegen eine Theatergruppe, die zum »Ersten Europäischen Mauerfall« bläst.
Die gut 100-köpfige Gruppe möchte die 300-Meter-Zone vor dem Grenzzaun betreten, aber dort wird abgeriegelt. Weitere Polizisten verstärken die Kette, ein Schäferhund beginnt, nervös zu werden, die Mannschaftswagen lassen ihr Blaulicht spielen. Spontan legen die Theaterleute ihre Bolzenschneider nieder, heben die Arme als Zeichen des friedlichen Widerstands und beginnen zu singen. Langsam gehen sie auf die Polizeikette zu. Begonnen hatte die Aktion bereits eine Woche zuvor, als am Berliner Spreebogen die weißen Gedenkkreuze verschwanden, die dort an die Mauertoten erinnern. Das Zentrum für Politische Schönheit (ZPS) bekannte sich zu der Tat und verbreitete Bilder, auf denen »zukünftige Mauertote« die Kreuze in der Hand halten: Menschen, die sich vor den EU-Außengrenzen auf ihre Flucht nach Europa vorbereiten. Die Kreuz-Aktion sollte an Europas tödliche Abschottungspolitik erinnern: 30 000 Menschen starben laut ZPS seit dem Fall der Berliner Mauer an den EU-Außengrenzen. Die gigantischen Abwehranlagen in der spanischen Enklave Melilla, in Griechenland und an der bulgarisch-türkischen Grenze zwingen immer mehr Menschen dazu, die gefährlichere Route übers Mittelmeer zu nehmen. Das ZPS rief deshalb zu einer besonderen Performance zum Jahrestag des Berliner Mauerfalls auf. Rund 100 Menschen sind diesem Ruf gefolgt; ich bin für die Oya-Redaktion dabei, um von unterwegs zu bloggen. Unser Start wird vor dem Berliner Gorki-Theater zelebriert: Ein Geflüchteter erzählt, wie er auf einer Lastwagenachse nach Deutschland gekommen ist. Die Intendantin des Gorki preist seinen Mut und ruft den Reisenden zu: »Ihr seid auch mutig!«. Danach geht die Gruppe unter Beifall über einen roten Teppich zu den Reisebussen. Mich befällt ein beklommenes Gefühl: Hier werden zwei Realitäten ins Verhältnis gesetzt, die nicht ansatzweise vergleichbar sind. Am 9. November haben wir zwei Nächte Busfahrt und ungezählte Stunden des Wartens an Grenzübergängen hinter uns. Seit der serbischen Grenze wurden die Busse von der Polizei begleitet. In Bulgarien, wo der frisch vereidigte Innenminister sein Amt daran gehängt hat, die Außengrenze vor der Theatergruppe aus Deutschland zu schützen, empfängt uns ein freundlicher Herr aus dem Innenministerium, um uns in perfektem Deutsch zu erklären, wieviele Jahre Gefängnis bei Beschädigung des Grenzzauns drohen. Nach der zweiten Nacht im Bus kommt unser Gruppe an einem grauen, kühlen Morgen in einem bulgarischen Kleinstadt-Hotel an. Philipp Ruch und Stefan Pelzer vom ZPS sind mit dem Flugzeug angereist. Sie haben sich schwarze Farbe ins Gesicht geschmiert und halten uns dazu an, uns die Nummern zweier Anwälte auf den Arm zu schreiben und uns »friedlich, aber bestimmt« zu verhalten. Dass uns später im Grenzgebiet der Weg von der Polizei abgeschnitten wird, überrascht niemanden. Was mich hingegen überrascht, ist, dass die beiden Vertreter des ZPS nach erfolglosen Verhandlungen mit der Polizei keinen Plan B in petto haben – keine symbolträchtige Performance, keine Kleingruppe, die abseits vom Rampenlicht der Reisebusse zum Zaun hätte gelangen können, keinen Ansatz, theatralisch mit dem Scheitern umzugehen. Uns wurde lediglich mitgeteilt: »Jetzt seid ihr an der Reihe, euch etwas einfallen zu lassen!« – worauf bei einer hierarchisch organisierten Aktion wie dieser selbstverständlich niemand vorbereitet war. In der Gruppe mangelte es nicht an Kreativität, jedoch an Vorbereitung, Vertrauen und einem Aktionskonsens. Ich hätte mir von einer zentral geplanten, medienwirksamen Kunstaktion mehr Durchdachtheit und Kreativität erhofft – oder aber mir von Anfang an eine gemeinschaftliche Vorbereitung gewünscht. Zweierlei hat die Aktion immerhin bewirkt: Sie hat den Grenzschutz an den EU-Außengrenzen ein Wochenende lang schwer beschäftigt und dabei gezeigt, wie wichtig es den Behörden zu sein scheint, den Grenzzaun sogar vor den Blicken von Menschen aus der EU zu schützen. Außerdem hat sie die notwendige Aufgabe übernommen, zum 25. Mauerfall-Jubiläum darauf hinzuweisen: Noch sind nicht alle Mauern in Europa gefallen! •