Wie sich Initiativen in Europa für Menschen auf der Flucht einsetzen.
von Helen Morgan, erschienen in Ausgabe #30/2015
Im vergangenen September schätzte die Internationale Organisation für Migration (IMO), dass seit Januar 2014 rund 3000 Menschen beim Versuch, die Grenze zwischen Nordafrika und der EU zu überqueren, ums Leben gekommen sind – viermal so viele wie 2013, dem Jahr, das uns zu Zeugen des grauenhaften Schiffbruchs vor Lampedusa gemacht hat. Das daraufhin von der italienischen Regierung gegründete Programm »Mare Nostrum« zur Rettung schiffbrüchiger Flüchtlinge und zur Verhaftung von Menschenhändlern hat viele Debatten ausgelöst, aber keines der europäischen Länder denkt über langfristige Lösungen nach. Stattdessen gibt England 15 Millionen Euro aus, um Frankreich dabei zu unterstützen, »illegalen« Einwanderern den Weg von Calais zu den Britischen Inseln zu versperren, und beteiligt sich nicht an Mare Nostrum.
Aber die Menschen sind nicht bereit, das Schicksal der Einwanderer nur den Regierungen zu überlassen. In den Grenzregionen sind Organisationen wie »Migeurop« aktiv, ein europäisch-afrikanisches Netzwerk von Aktivistinnen und Forscherinnen, die sich gegen die exzessive Praxis der Verhaftung von Menschen aus Nicht-EU-Ländern einsetzen. Wenn die EU der »unerlaubten« Einwanderung ein Ende setzen wolle, müsse sie diese eben »erlauben«: Wer es wünsche oder wer zum Gang ins Exil gezwungen werde, sollte die Grenze nach Europa passieren können, fordert Migeurop. Im vergangenen Jahr hat die Organisation versucht, in diese Richtung Druck auf die Europäische Kommission und die Mitgliedsstaaten der EU auzuüben. Wie viele andere NGOs äußert sich auch Migeurop empört darüber, dass es kein Konzept gibt, Mare Nostrum auf eine menschenwürdige Weise fortzuführen. Ein Mitglied der Gruppe, Dieter Behr aus Österreich, erklärt als Ziel, »sicherzustellen, dass nach dem Ende von Mare Nostrum die Anzahl der Menschen, die im Mittelmeer ertrinken, nicht rasant ansteigt«. Auf meine Frage nach den langfristigen Plänen antwortet er kämpferisch: »Frontex abschaffen und es allen Menschen ermöglichen, sich auf dem Planeten frei zu bewegen – wo immer sie hinwollen!« Migeurop kooperiert eng mit »Watch the Med« (Beobachte das Mittelmeer), einer Online-Plattform, auf der gemeldet wird, wo Flüchtende entlang der EU-Grenze im Mittelmeerraum zu Tode gekommen sind und wo ihre Rechte verletzt wurden. Watch the Med hat eine Notrufnummer eingerichtet, um Rettungsaktionen zu unterstützen. Ein mehrsprachiges Werkzeug richtet sich ausdrücklich an Flüchtlinge, die auf dem Seeweg in die Europäische Union gelangen wollen – eine kleine Geste der Unterstützung, obwohl an allen Ecken und Enden die Finanzierung fehlt. Auf diese Versuche, Menschenleben zu retten, kommt es aber an. Dieter Behr erzählt, dass der Notruf im November 2014 tatsächlich dazu beitragen konnte, die Insassen mehrerer Boote zu retten. Die Prozeduren, denen unregistrierte Migranten und Asylbewerber von den aufnehmenden Ländern unterzogen werden, sind lang, beschwerlich und komplex. Die Stiftungsgruppe der »Open Society Foundations« (OSF) fordert, dass zur Förderung von Integration und Selbstbestimmung der Flüchtlinge die nationalen Gesetze in Europa so gestaltet werden müssen, dass Ausländerfeindlichkeit zurückgeht, die Auffanglager für Flüchtlinge begrenzt oder aufgelöst werden und für sie das gleiche Recht gilt wie für die anderen Menschen im jeweiligen Land. Das sind konkrete Vorschläge, die bestens zur Europäischen Menschenrechtskonvention passen.
Die Nachbarschaft ins Gespräch bringen Der in Spanien ansässige Verbund »Andalucía Acoge« (Andalusien schützt) arbeitet mit einem Netzwerk von Organisationen aus ganz Europa an Wegen, die gesellschaftliche Teilhabe von Geflüchteten zu ermöglichen – eine weitere Ebene, auf der sich die Zivilgesellschaft starkmacht. Mikel Araguas, Generalsekretär von Andalucía Acoge, meint, auf diesem Gebiet habe sich in den letzten 20 Jahren kaum etwas bewegt: »Die Konflikte zwischen Anwohnern und Einwanderern sind Zeitbomben, die eines Tages explodieren können«, sagt er mir am Telefon. »Wir müssen uns darum kümmern, was vor Ort in den Städten und Gemeinden passiert.« Eine Graswurzelorganisation aus Barcelona, die in diesem Sinn aktiv ist, heißt »Mescladís« (katalanisch für »gemischt«). Auf den ersten Blick scheint sie wie ein ganz normales, nettes Café zu funktionieren. Die Initiative begann im Jahr 2005 in einem Viertel, in dem die Gräben zwischen den sozialen Gruppen immer tiefer zu werden drohten und viele Menschen mit Migrationshintergrund wohnen. Es schien dringend an der Zeit zu sein, Orte zu schaffen, an denen die Nachbarschaft über alle Grenzen hinweg zusammenkommen kann. Mescladís lud Flüchtlinge zu Workshops über Kochen und Servieren ein. Wer sie absolviert hatte, konnte in dem Café arbeiten, das sich hinter Bäumen und Büschen in einer kleinen Straße versteckt. Nur ein paar Meter entfernt liegt ein urbaner Garten. Im Café werden nicht nur Mahlzeiten serviert, sondern auch Ausstellungen im Rahmen der Veranstaltungsreihe »Diálogos Sin Fronteras (Gespräche ohne Grenzen) organisiert. Das Team von Mescladís hat auch schon eine Reihe von öffentlichen Kunstworkshops in verschiedenen Vierteln Barcelonas angeboten, um Gelegenheiten zu schaffen, dass Menschen mit verschiedenen Biografien sich gegenseitig von ihren Erfahrungen erzählen. Aus den bisherigen Ergebnissen entstand eine Zeitung, und an öffentlichen Orten der Stadt wurden großformatige Porträtfotos aus den Workshops ausgestellt. Der Leiter von Mescladís, Martín Habiague, staunt: »Von den Anwohnern kam enorm viel Unterstützung. Überraschend viele Menschen haben freiwillig mitgemacht und sich auf ganz unterschiedliche Weise eingebracht.« Ähnlich arbeitet auch die Nachbarschaftsinitiative »Espacio Inmigrante Raval« (Raum für Einwanderer in den Vororten). Sie ging aus einem kleinen Kollektiv hervor, das vor allem Einwanderern ohne Papiere informell helfen wollte – bei gesundheitlichen Problemen ebenso wie bei Rechtsfragen und der Versorgung mit Lebensmitteln. In einem von sozialen Spannungen gezeichneten Stadtviertel hat Espacio einen offenen Ort geschaffen, an dem die gegenseitige Unterstützung selbstverständlich geworden ist. Er wird auch genutzt, um über Einwanderungsthemen zu diskutieren, oft im Rahmen von Aktionen, die mitten auf der Straße stattfinden. Im vergangenen Herbst zu Allerheiligen hat Espacio eine Gedenkfeier zu Ehren all derer, die weltweit auf der Flucht ihr Leben gelassen haben, organisiert. Große Plakate zeigten Porträts der Verstorbenen, und Geschichten über ihr Schicksal bedeckten die Mauern am Rand einer dunklen, mit Kerzen gesäumten Allee. Diese führte zu einem traditionellen mexikanischen Totenaltar, bedeckt mit Blumen, Speisen und Getränken. Flüchtlinge erzählten bewegende Geschichten darüber, wie sie in Spanien angekommen waren und sich ein neues Leben aufgebaut haben, immer im Gedenken an diejenigen, die es nicht lebend über das Meer geschafft hatten. So bringt Espacio die Menschen miteinander ins Gespräch und hofft, dass auf diese Weise mehr gemeinsames Bewusstsein entsteht. Barcelona gehört zu den kulturell buntesten Städten Europas, insbesondere seit Bestehen der Europäischen Union. London hingegen hat eine längere multikulturelle Geschichte aufzuweisen, die zudem stark von Integration geprägt war. Doch im Vorfeld der Parlamentswahlen 2015 wurde Einwanderung zu einem Kernthema sowohl der konservativen Regierungspartei als auch der rechten Oppositionspartei UKIP, so dass alles auf eine in Zukunft rigidere Einwanderungspolitik hindeutet. Viele Londoner Initiativen engagieren sich für Flüchtlinge, aber nur wenige werden von der Regierung unterstützt. Sue Luke, eine britische Expertin für Einwanderung, ist über die zunehmende Fremdenfeindlichkeit besorgt und beklagt, dass es für Politiker in diesem Klima immer schwieriger wird, sich für die Rechte von Migranten einzusetzen. Trotz mangelnder Finanzierung bleiben die Hilfsorganisationen dennoch optimistisch, dass sie etwas bewegen können, indem sie Menschen zusammenbringen. Eine solche Aktion ist »My Journey« (Meine Reise), ein fortlaufendes Multimediaprojekt des »Migrants Resource Centre«, in dem Designer und Künstlerinnen im Lauf eines Jahres eingewanderten Menschen zeigten, wie sie durch Fotografie, Radiobeiträge, Filme und Comics ihre Geschichten erzählen können. Das Ergebnis war eine außergewöhnliche Ausstellung Ende 2014 in London. Geschichten zu erzählen, ist ein wunderbarer Weg, die Vielfalt der Kulturen zu feiern. Parallel zur Ausstellung fand eine ausgebuchte Konferenz statt, welche die Migrationsdebatte in die ganze Stadt hineintragen wollte.
Eine langfristige Lösung ist nicht in Sicht Das Engagement von Initiativen, die sich unmittelbar an den EU-Grenzen, landesweit oder lokal in ihrem Stadtviertel für geflüchtete Menschen einsetzen, ist das Gebot der Stunde. Aber es gibt noch weitere Felder, in denen Arbeit antsteht. Mikel Araguás aus der spanischen Enklave Ceuta in Nordafrika klagt, dass langfristige Lösungen für die Flüchtlingsproblematik nicht in Sicht seien. »Ein Politiker sagte 1996, eine Lösung wäre der Bau von Zäunen. Doch obwohl heute diese monströsen Grenzzäune existieren, die von Bewaffneten verteidigt werden, schaffen es Menschen dennoch, sie zu überwinden und sich in Boote zu setzen. Die kurzfristige Abschreckungspolitik hat überhaupt nicht funktioniert.« Die Frage der langfristigen Strategien ist ein sensibles Thema. Der Filmemacher Mahu Thiam Fall aus dem Senegal hat in den letzten Jahren eine Reihe von Dokumentarfilmen gedreht, mit denen er über die falschen Hoffnungen auf ein gutes Leben in Europa, die in seinem Land verbreitet sind, aufklären will. Er lebt die meiste Zeit in Barcelona, denn es gibt in Katalonien eine große senegalesische Bevölkerungsgruppe – etwa 16 000 Menschen sind offiziell erfasst, vermutlich kommen 20 000 unregistierte hinzu. »Die Idee, dass das Leben im Westen viel einfacher sei, ist weit verbreitet«, meint Mahu. »Man meint, es gäbe hier mehr Freiheit und bessere Verdienstmöglichkeiten, aber die Wirklichkeit könnte nicht gegensätzlicher sein. In Spanien sind wir mitten in einer Rezession, kaum ein Flüchtling konnte hier ein ›besseres Leben‹ realisieren.« Mahu Thiam Fall gibt Sprachführer für Wolof, eine im Senegal und in Gambia verbreitete Sprache, als Einführung ins Spanische und Katalanische heraus, und ich habe mit ihm an der Übersetzung ins Englische gearbeitet. »Das Fernsehen zeigt nie die harten, hässlichen Seiten von Europa«, meint er. »Die Menschen in meiner Heimat wissen nicht, dass es auch in Südeuropa Hunger und Armut gibt, deshalb möchte ich zeigen, wie es hier wirklich zugeht.« Ein weiterer Aspekt, in dem Ansätze einer langfristigen Lösung liegen: Der globale Norden ist historisch für die Not im Süden verantwortlich. Waren früher die Kolonialmächte unverhohlen ausbeuterisch, ist es heute der Extraktivismus globaler Konzerne. Ein großer Teil der Rohstoffe für die Konsumgüter des globalen Nordens wird im Süden unter unwürdigen Bedingungen bereitgestellt. Diese Perspektive fehlt weitgehend im Diskurs um Einwanderung. Wir sollten unseren Blick daher in viele Richtungen lenken: Auf die Außengrenze der EU, in die eigene Region, auf unseren Lebensstil und seine Auswirkung auf die Länder des globalen Südens. •
Helen Morgan (28) stammt aus Großbritannien und schreibt für internationale Magazine über nachhaltige Projekte. Sie hat weltweit in verschiedenen Menschenrechtsorganisationen gearbeitet. Derzeit ist ihr Lebensmittelpunkt Barcelona.
Lesetipp zum Thema Dieter Behr hat das Buch von Emmanuel Mbolela »Mein Weg vom Kongo nach Europa. Zwischen Widerstand, Flucht und Exil«, das 2014 im Mandelbaum Verlag erschienen ist, übersetzt.