Julia Vitalis sprach mit Leslie Barson, der Gründerin und Koordinatorin des Freilerner-Netzwerks »Otherwise Club« in London.von Julia Vitalis, Leslie Barson, erschienen in Ausgabe #30/2015
Leslie, warum wolltest du deine Kinder nicht zur Schule schicken? Ich konnte in der Kindertagesstätte meines Sohnes zuschauen, was ablief: Es ging hauptsächlich um Gruppenkontrolle. Was ich beobachtete, war weder eine glückliche noch eine kreative Situation, die Lernen unterstützt hätte. Verrückt! Für mich ist es eine der wunderbarsten Erfahrungen, Kinder aufwachsen zu sehen – ich will Teil von diesem Prozess sein. John Holts Buch »Teach Your Own« (auf deutsch: »Bildung in Freiheit – Das John-Holt-Buch zum eigenständigen Lernen«) hat mich sehr beeinflusst. Dann sah ich, wie mein Sohn sich das Lesen selbst beibrachte. Wie John Holt sagt, sind Kinder selbstmotiviert, weil sie Teil der Welt sein wollen. So kaufte ich Bücher, um meinen Sohn selbst zu unterrichten, und wollte an einem Tag im September 1988 damit anfangen. Da sind wir in den Park gegangen und haben schöne Dinge getan, zum Beispiel Baumrinden auf Papier durchreiben. Später haben wir einen Kuchen gebacken. Ich stellte fest, dass wir Chemie, Geografie und Gemeinschaftskunde gelernt hatten – und habe die Bücher weggelegt.
Der »Otherwise Club« (OC) ist jetzt seit 21 Jahren eine Gemeinschaft und Netzwerkplattform für Freilerner. Wie begann das alles, und wie funktioniert es? Es gab vor der Gründung schon Gruppen von Familien, die zum Beispiel zusammen ins Museum gingen. Aber wir hatten keinen festen Ort, wo Jugendliche mit Menschen, die in Hinblick auf ihr Alter, ihre Glaubensrichtungen, ihren Status oder sonstige Besonderheiten ganz unterschiedlich waren, gemeinsam lernen konnten. Miteinanderzusein und zusammenarbeiten zu können, ist so wichtig für die Zukunft! So ein Miteinander ergab sich zuerst im »Croxley Club«: Da beschäftigten sich zehn Kinder in unserem Haus mit Geschichte. Als das Haus für die Jugendlichen zu klein wurde, mieteten wir 1993 Räume in einem nahegelegenen Gemeinschaftszentrum – finanziert über die Mitgliedsbeiträge der Familien – und nannten dies »Otherwise Club«. In den 21 Jahren seiner Existenz beteiligten sich immer zwischen 40 und 60 Familien. Diese Größenordung ist sehr wichtig für eine gesunde Gemeinschaftsbildung. Im Club geht es nicht um das Planen irgendwelcher Lerninhalte, sondern darum, dass die Leute sich unterstützen, sich miteinander wohlfühlen und ihr Potenzial entwickeln. Das Lernen ereignet sich von selbst. Der OC ist ein gemeinnütziger Verein, so können wir Zuschüsse beantragen. Unsere Mitglieder zahlen nicht pro Kind, sondern pro Familie Basisbeiträge von 150 bis über 200 Euro, je nach Einkommen der Eltern oder der allgemeinen Lebenssituation. Dazu kommen Kosten für bestimmte Kurse. Niemand wird aber aus finanziellen Gründen ausgeschlossen. Es geht um die Verbindlichkeit, mit der sich Menschen für die Gemeinschaft engagieren.
Was macht für dich eine gute Lehrerin, einen guten Lehrer aus? Im OC lernen wir manchmal mit Lehrern, manchmal ohne. Wir laden sie ein und prüfen, ob ihre Arbeit unseren Werten entspricht. Mein Kriterium für einen guten Lehrer ist nicht der berufliche Hintergrund, sondern dass dieser Mensch liebt, was er tut, und dies voller Begeisterung teilen will. Darüber entsteht dann Beziehung.
Wie löst ihr Konflikte in der Gemeinschaft? Die Kinder regeln ihre Konflikte meist schnell selbst. Eltern tun sich da schwerer. Sie kleben manchmal an einer bestimmten Vorstellung; dann rumort ein Konflikt vor sich hin und kommt in der nächsten Woche wieder auf den Tisch. Deshalb hatten wir Mediatoren für die Eltern eingeladen und auch einmal ein Training in Mediation angeboten. Ich denke, bei uns ist es so wie in jeder anderen Gemeinschaft.
Was hast du während dieser Jahre des Experimentierens über die Unterschiede zwischen eurem Freilernen und dem konventionellen Bildungsweg herausgefunden? Wir wollen, dass Menschen Risiken eingehen, selbständig und selbstverantwortlich werden und ihren Kopf nicht mit vorab festgelegten Inhalten füllen. Diese Inhalte kannst du dir leicht aneignen, wenn du weißt, was du willst. Meiner Einschätzung nach dreht es sich in Schulen meist um Prinzipien von »Gesundheit und Sicherheit«. Es geht darum, dass viele Leute in einem kleinen Raum ruhig auf ihren Stühlen sitzen. Die ganze Situation ist von Angst erfüllt. Die Lehrer haben Angst, dass die Schüler sich verletzen könnten und dass sie deshalb zur Rechenschaft gezogen werden. Womöglich will niemand im Raum das angesagte Thema lernen. Etwas überspitzt gesagt, könnte man Schule als Babysitting bezeichnen – damit die Eltern arbeiten gehen können. Alles soll vermieden werden, was Eltern vom Arbeitsmarkt fernhalten könnte. Das andere Prinzip der konventionellen Schule heißt »zu deinem Besten«. Das heißt, der Staat weiß, was für Minderjährige gut ist – nicht ihre Eltern. In England verdoppelt sich jährlich die Zahl der Kinder, die ihren Eltern weggenommen werden. Das betrifft nicht nur vernachlässigte Kinder. Wenn ein Sozialarbeiter auf seiner Liste drei Kriterien für eine scheinbar schwierige Familiensituation als erfüllt abhakt, dann gibt es weitere Ermittlungen. Ein Kriterium ist zum Beispiel langjähriges Stillen.
Schätzt du das als eine zunehmende konservative Entwicklung ein? Das ist leider nicht konservativ, das ist eher wie in einem Polizeistaat. Die Politiker benutzten den 11. September und die Debatte um Terrorismus, um ziemlich drakonische Gesetze zu erlassen. Eine der Konsequenzen ist, dass sich inzwischen anstelle der Eltern der Staat für die jungen Leute zuständig erklärt und härter durchgreifen kann als früher. Aber alle Studien zeigen, dass der Staat ein schrecklicher Elternersatz ist, weil viele der Jugendlichen, die aus ihren Familien genommen werden, im Gefängnis landen. Die Regierung ist da in einer Zwickmühle. Sie würde Freilernen gerne beenden, weil es ihre Macht in Frage stellt – denn laut Gesetz sind in unserem Land eindeutig die Eltern für die Bildung ihrer Kinder verantwortlich, unabhängig davon, ob diese Bildung in Schulen vermittelt wird oder auf andere Weise – »or otherwise«, namensgebend für unseren Club. Würde das Gesetz geändert, könnten theoretisch Tausende von Schülern den Staat verklagen, weil er sie nicht gut genug ausgebildet hat. Im Jahr 2009 versuchte man, über die lokalen Behörden Freilerner-Eltern zu beobachten und zu regulieren. Zum Glück waren gerade Wahlen, und wir haben viel Lobby-Arbeit geleistet, so dass die neuen Pläne aus den Programmen genommen wurden. Diese politische Arbeit mussten wir aber fortsetzen, denn seitdem haben wir ständig Probleme mit den lokalen Behörden. Zuerst versuchten sie, die Familien mit Schreiben, über denen »Schulanwesenheitspflicht« stand, unter Druck zu setzen und Schüler unter 16 Jahren zum Schulbesuch zu zwingen. Außerdem wurden die Mittel für Sozialarbeiter gekürzt, während man zugleich von ihnen forderte, sie müssten jederzeit wissen, wo sich ein Kind aufhalte, damit es nicht körperlicher Gewalt ausgesetzt sei oder in anderer Weise Schaden nehme. In England sind wir in eine Abwärtsspirale in Richtung immer mehr staatlicher Kontrolle geraten, und Freilerner sind darin ebenfalls gefangen.
Die Wahlen zum EU-Parlament im Mai dieses Jahres waren ja von einem Rechtsruck gekennzeichnet. Was kann das für die Schulsituation in England bedeuten? Die rechten und neofaschistischen Parteien wie die UK Independence Party (UKIP), die Sitze gewann, sowie die British National Party (BNP) befürworten »Home Education«. (Anm. d. Red.: Im Englischen ist dies der Überbegriff für alle von Eltern selbstorganisierte Bildung von Freilernen bis Heimunterricht.) Selbstverständlich distanzieren wir uns von diesen Parteien. Die Rechten sagen, dass die Familie die Grundstruktur der Gesellschaft darstelle und der Staat sich da heraushalten solle. In England sind die Konservativen im Gegensatz zu den Linken traditionell für eine geringere staatliche Kontrolle.
Seid ihr mit anderen Initiativen in England vernetzt? Im Rahmen der erwähnten Probleme haben wir 2009 das Gespräch mit einem Netzwerk meist demokratischer Schulen aufgenommen. Ich persönlich bin aber keine Befürworterin von Schulen, auch wenn sie gut sind, obgleich mir klar ist, dass aus praktischen Gründen nicht jeder Bildung auf Basis von Home Education organisieren kann. Demokratische Schulen sind dann immer noch besser als konventionelle. Leider haben sie für die Themen der Freilerner selten ein offenes Ohr. Schon 2004 haben wir ein eigenes Netzwerk »Learning unlimited« (Grenzenloses Lernen) für Menschen aus dem Bereich Home Education gegründet. Wir hatten einige Konferenzen in Deutschland, Frankreich und den Niederlanden. Auch das anthroposophisch orientierte Europäische Forum für Bildungsfreiheit (EFFE) war dabei, dessen Teilzeit-Lobbyistin in Brüssel bringt unsere Themen in die Europapolitik ein. Das ist wirklich nicht viel im Vergleich zur Lobby der Ölindustrie, aber es ist sehr teuer, so jemanden zu bezahlen. Die Gesetzgebung der EU besagt zwar, dass es die Eltern sind, die über die Bildung der Kinder entscheiden. Dennoch hat sie den Nationalstaaten im Bildungsbereich ein Vorbehaltsrecht eingeräumt, so dass zum Beispiel Deutschland bis heute den Schulanwesenheitszwang beibehalten kann. Das Problem ist, dass die deutsche Gesetzgebung zum allgemeinen Modell in Europa werden könnte – nicht die englische. Die heikle Situation in England, in der der Staat zunehmend kontrolliert, zwingt uns zu großer Vorsicht in der Diskussion über eine europäische Bildungspolitik. Alle EU-Regierungen fürchten für die Zukunft massive Bürgerproteste gegen das wirtschaftliche System. Freilerner machen nur ein Prozent aller Kinder aus – in meinen Augen also kein großes Thema. Aber wenn Leute unabhängig denken, kleine Löcher im Gesetzesdschungel finden und lustige Sachen machen, die legal sind und womöglich in eine andere Richtung als in eine kapitalistische Konsumgesellschaft führen – dann ist es ein Thema! Das mögen die Politiker nicht.
Welche Reaktionen bekommst du, wenn du die Praxis von Home Education einem breiteren Publikum bekannt machst? Menschen aus dem schulischen Bildungsbereich scheinen nicht wirklich interessiert daran zu sein, wie es funktioniert. Die anderen denken, es sei illegal, und man könne sich ein Fach wie Physik nie durch Freilernen aneignen. Ein weiteres typisches Vorurteil ist, dass Freilerner-Kinder keine Freunde hätten. Aber wenn du sechs Stunden am Tag mit anderen Kindern im selben Raum sitzen würdest, die zufällig im selben Jahr geboren wurden und zufällig in derselben Straße wohnen, würdest du sie Freunde nennen? Du würdest in der Schule kaum mit der Gruppe von Jüngeren reden, während du die Älteren bewundern würdest – aber von denen würde keiner mit dir reden, weil du jünger wärst. Das ist eine völlig unnatürliche Situation – und du bist dort jahrelang! Die Kinder lernen, sich wegen völlig unbedeutender Themen voneinander abzugrenzen, zum Beispiel: Du hast die falschen Schuhe an oder hast die falsche Frisur. Ich möchte niemand in diesem Verhalten unterstützen, sondern denke eher: Wir sind hier alle zusammen auf dem Planeten; wir müssen eine Menge Dinge in Ordnung bringen, es gibt sehr viel zu tun. Statt zu behaupten, es gäbe keine Freunde außerhalb der Schule, sage ich: Du hast die ganze Welt, um Freunde zu finden.
Wie könnten wir angesichts der unterschiedlichen Rechtslage in Deutschland Veränderungen initiieren? Wegen seiner Geschichte ist man in Deutschland sehr wachsam gegenüber dem Heranbilden von »Kulten« oder Parallelgesellschaften. Es kann aber nicht sein, dass der Staat das Schulwesen diktiert, nur um so etwas zu vermeiden! Vielmehr sollten Alternativen öffentlich unterstützt werden. Der erste und effizienteste Weg ist, wenn Freilerner-Eltern erzählen, was sie tun – nichts verstecken, sondern entsprechend den eigenen Vorstellungen eine positive Bildungsoption entwickeln. Meine Empfehlung ist: Sprecht und schreibt über das Freilernen, hinterfragt, warum Schule als der einzige Weg dargestellt wird! Es ist doch fantastisch, Neues zu entdecken – das wird normalerweise »Lernen« genannt. Fragt Menschen, die ihre Tätigkeit lieben, ob sie ihr Wissen und ihre Fähigkeiten nicht gerne mit anderen Menschen jeden Alters teilen möchten!
Welche positiven Impulse kann der Otherwise Club der Gesellschaft geben? Der OC ist eine Randerscheinung. In solchen Nischen können Leute radikale und interessante Experimente wagen. Irgendwann wird der Mainstream dort hinschauen und verstehen, wie Dinge zum Positiven hin verändert werden können. Das Zentrum absorbiert immer Ideen, die am Rand wachsen – so entsteht ein experimenteller Schmelztiegel. OC zeigt der Welt ein Beispiel einer sich selbst organisierenden Gemeinschaft. Darüber hinaus haben die vielen Familien und Kinder, die durch seine Türen gingen, Verantwortung für ihre Lernprozesse übernommen und gezeigt, dass autonomes Lernen erfolgreich ist. Ganz normale Menschen können sich in die Bildung junger Leute einbringen, also eine der wichtigsten Aktivitäten in einer Gesellschaft ausüben. So demonstrieren wir, dass Selbstbestimmtheit funktioniert und dass es viele Wege gibt, zu lernen und zu entdecken. Der Otherwise Club zeigt, dass eine andere Welt möglich ist. Noch mehr: Er zeigt, dass wir diese andere Welt jetzt leben können.
Leslie, vielen Dank für die spannenden Einblicke in eure Arbeit! •
Leslie Safran Barson (58) promovierte 2008 über die Frage, wie die Erfahrung von Bildung zu Hause Eltern beeinflusst, die diese langfristig praktizieren. Sie hält international Vorträge und publiziert. Im Jahr 1993 gründete sie den »Otherwise Club«, den sie bis heute leitet.
Julia Vitalis (38) ist Künstlerin und Heilerin in schamanischer Tradition. Sie engagiert sich für ganzheitliche, innovative Ansätze zur Lösung gesellschaftlicher Probleme.