Riace, das Dorf der Flüchtlingevon Matthias Fersterer, erschienen in Ausgabe #4/2010
Am südlichen Rand des italienischen Stiefels, gewissermaßen am Bogen des Großzehenballens, liegt das Dorf Riace. Noch vor zehn Jahren wären Sie wohl an dem Doppelort vorbeigefahren. Weder das schmucklose Seebad Riace Marina noch das mittelalterliche Riace Superiore, sieben Kilometer landeinwärts an die steilen Berghänge geklebt, hätte Sie zum Verweilen eingeladen: verlassene Häuser, geschlossene Läden, mehr alte als junge Menschen. Der Dorfschule drohte die Schließung: Kindermangel. Zuletzt gab es nicht mal mehr ein Café für den Espresso zwischendurch. In Kalabrien, wo die Arbeitslosigkeit dreimal höher und die Einkommen halb so hoch wie im Rest des Landes sind, treibt die Suche nach Arbeit viele Menschen in den Norden Italiens oder gleich ins Ausland. – Riace drohte, zum Geisterdorf zu werden.
Vom Geisterdorf zum Gemeinschaftsdorf Heute ist alles anders. Aus der Schule dringt wieder Kindergeschrei, und in der Taverne »Donna Rosa« herrscht geselliges Treiben. Auf dem Ortsschild ist »Paese dell’accoglienza« (»Dorf der Ankunft«) zu lesen, und erstmals seit Jahrzehnten gibt es mehr Zuzug als Abwanderung. Was einst ein sterbender Ort war, entwickelte sich zum Hort der Gastfreundschaft und zur Werkstatt des guten Zusammenlebens. Was war passiert? Die entscheidende Wende kam vor zwölf Jahren, ausgerechnet durch ein vom Wind abgetriebenes Boot. Fast scheint es, als hätten Cosmas und Damian, die traditionellerweise bei Seenot angerufenen Schutzpatrone des Dorfs, ihre Hand im Spiel gehabt. Für die Insassen, 300 kurdische Flüchtlinge, sollte Riace nur eine Station auf dem ungewissen Weg in ein besseres Leben im Irgendwo sein. Dennoch hinterließen sie Spuren: Ein Gebäude, die »Casa Kurdistan«, ist nach ihnen benannt, und den damaligen Lehrer und heutigen Bürgermeister Domenico Lucano (52) inspirierten sie zu einer kühnen Vision, die dort Potenziale erkannte, wo andere bis heute Probleme sehen: Er träumte von einem Dorf der Vielfalt und Gastfreundschaft, in dem Immigranten die Lücke schließen würden, die die Abgewanderten hinterlassen hatten. Am südlichen Rand des Mezzogiorno, wo Tunis näher ist als Turin, herrscht kein Mangel an Menschen, die alles aufs Spiel setzen, um von dem bisschen leben zu können, was andere zur Abwanderung treibt. 2008 landeten allein auf der Insel Lampedusa über 30000 Menschen auf der Flucht vor Hunger, Krieg und Verfolgung. Zusammen mit Freunden gründete Domenico 1999 den Verein »Città Futura« (»Stadt der Zukunft«). Mit einem Darlehen der Banca Etica erwarben sie leerstehende Gebäude und boten Flüchtlingen und Asylbewerbern die Möglichkeit, bei freier Logis und einem Montaslohn von 400 Euro ein Handwerk zu erlernen. Im Gegenzug sollten die Zuwanderer Italienisch lernen und sich am Aufbau des Dorfs beteiligen. Der Plan ging auf. Zum Dank wählten die Riacesi Domenico 2004 mit der Bürgerliste »Un’altra Riace è possibile« (»Ein anderes Riace ist möglich«) zum Bürgermeister. Inzwischen haben Menschen aus Äthiopien, Eritrea und Somalia, aus Serbien, Palästina, Afghanistan, dem Libanon und dem Irak eine neue Heimat in Riace gefunden. Nachdem sich die Einwohnerzahl von einst 3000 halbiert hatte, zählte das Dorf Anfang dieses Jahres fast 2000 Bewohner, darunter etwa 250 Immigranten. Nun kehren sogar abgewanderte Riacesi zurück. »Es ist wie im Märchen«, schwärmt die Fotografin Giovanna Del Sarto, die seit zwei Jahren Riaces wundersame Metamorphose dokumentiert. In ihrem bemerkenswerten Buch »Oltre La Patria« (»Fern der Heimat«) verbindet sie verstörend schöne Bilder mit den Geschichten der alten und neuen Bewohner Riaces. »Die Einheimischen sehen die Ankömmlinge als Antwort auf ihren Wunsch nach einer Wiederbelebung des Dorfs. Die älteren Bewohner sind dankbar für die Gesellschaft der jüngeren Immigranten«, meint Giovanna.
Mutter Riace und ihre Kinder Domenico vergleicht sein Dorf mit einer Frau, deren Kinder auf der Suche nach einem besseren Leben in die Welt gezogen sind. »Nun, da sie sieht, wie ihre neuen Söhne und Töchter hoffnungsvoll in die Zukunft blicken, findet sie ihren Frieden.« Ein neuer Sohn des Dorfs ist Issa (38) aus Afghanistan. Er flüchtete vor den Taliban. Auf Umwegen über Pakistan und den Iran gelangte er in die Türkei, wo er sich in die Hände eines Flüchtlingsschleppers begab. Einige Tage verbrachte er mit sonnenverbranntem Gesicht und ohne Wasser auf See. Dann wurde er von der Küstenwache festgenommen und aufs italienische Festland gebracht. Es folgte eine Odyssee von einem Auffanglager zum nächsten. Er überlebte, und trug doch Wunden davon: »Bis heute gehe ich nicht ans Meer«, erzählt er, »ich fürchte mich vor dem Wasser und habe Alpträume von meiner Überfahrt.« 2002 fand er ein neues Zuhause in Riace, wo er die italienische Sprache und das Töpferhandwerk erlernte. Neben der Wiederbelebung des Dorfs und der Integration der Flüchtlinge hat sich Città Futura die Rückbesinnung auf traditionelle Handwerkskünste zum Ziel gesetzt. Die historischen Gemäuer beherbergen eine Keramikwerkstatt, eine Glasbläserei, eine Stickerei, eine Tischlerei und einen Holzbackofen. In der Weberei gibt Domenicos Frau Pina (44) ihr Wissen an kleine und große Neuankömmlinge weiter und füllt beim alljährlichen Ginsterfest die regionale Tradition der Ginstertuchherstellung mit neuem Leben. Derweil wird in der Lebensmittelkooperative »Il borgo e il cielo« (»das Dorf und der Himmel«) aus regionalen Produkten biologische Marmelade eingekocht und mit einer wieder in Betrieb genommenen Steinölmühle extra natives Olivenöl gepresst. Ein altes Gewerbe, das des Eselführers, belebt auch die Kooperative »Il Carrettiere« (»Der Fuhrmann«): Die jüngsten Neuzugänge im Dorf, die Esel Rosina and Rosetta, werden von Tür zu Tür geführt, um den Hausmüll abzutransportieren. Hier verbindet sich Nachhaltigkeit mit dem Naheliegenden: Die genügsamen Vierbeiner schonen Gemeindekasse, Atmosphäre und Ressourcen und finden sich auf den steilen Pfaden und in den engen Gassen besser zurecht als jede motorisierte Müllabfuhr. Dass die Tiere nicht überlastet werden und auf Mülltrennung geachtet wird, ist Ehrensache.
Der Himmel über Riace Vergangenes Jahr kam Wim Wenders nach Süditalien, um einen Kurzfilm über Bootsflüchtlinge zu drehen. Hollywoodmime Ben Gazzara spielt darin den Bürgermeister eines kalabrischen Dorfes. Das fiktive Spiel mischte sich mit dokumentarischem Ernst, als Wenders bei den Dreharbeiten im 100 Kilometer entfernten Scilla von einem Statisten, dem afghanischen Jungen Ramadullah (9), angesprochen wurde. Er lud ihn ein, nach Riace zu kommen, wenn es ihm denn ernst sei mit seinem Film. Da sei ihm klar geworden, dass er die wahre Geschichte der Flüchtlinge erzählen müsse, erklärt der Filmemacher im Programm zu »Riaceinfestival«, einem regionalen Festival der Kulturen. Im Mai wurde dort das 32-minütige 3D-Dokuspiel »Il Volo« (»Die Flucht« oder »Der Flug«) zusammen mit Wenders’ Meisterwerk »Der Himmel über Berlin« aufgeführt. Berichte über die Dreharbeiten machten das Wunder von Riace in der Welt bekannt. Inzwischen ist Domenico unter den Finalisten für den World Mayor Award, und man will ihn für den Friedensnobelpreis vorschlagen. Noch wichtiger vielleicht: Riaces Beispiel inspirierte die Nachbarorte Stignano und Caulonia zu ähnlichen Projekten. Vor einem Jahr erließ die kalabrische Regierung ein Gesetz, das lokalen, selbstverwalteten Initiativen die unbürokratische Aufnahme und Integration von Flüchtlingen ermöglicht. Die Erzählungen aus Riace vermitteln ein Gefühl von fast unerhörter Harmonie. Gibt es auch Widerstand? Anfeindungen gegen die Immigranten habe sie nie beobachtet, meint Giovanna. Domenico erklärt das gute Miteinander zwischen Einheimischen und Eingewanderten damit, dass viele Riacesi selbst einmal Ausländer waren. »Hier im Süden sind wir alle Migranten und kennen Heimweh nur zu gut«, meint Domenico. Einzig der ’Ndrangheta, der kalabrischen Mafia, ist der Dorfaufbau in Eigenregie ein Dorn im Auge. Kurz vor Domenicos Wiederwahl wurden zwei Schüsse auf die Tür der von dem Verein betriebenen Taverne abgefeuert, wenig später wurden Domenicos Hunde vergiftet. Er ließ sich nicht einschüchtern und wurde im Juni 2009 im Amt bestätigt. Einen Monat darauf gestalteten Künstler Riaces Hauswände. Unter dem Motto »I colori della memoria« (»Die Farben der Erinnerung«) wollte man der zahlreichen Opfer des organisierten Verbrechens gedenken. Auf Kalabrisch steht an einer Mauer zu lesen: »Wir färben uns die Hände gegen die Mafia«, daneben finden sich Handabdrücke in allen Größen und Farben, der erste stammt von Domenico, dem couragierten Bürgermeister. Würden Sie heute in den Süden Kalabriens fahren, stünden die Chancen gut, dass Sie eine Rast in Riace einlegen würden. Vielleicht um das bunte Treiben zu bewundern, um etwas über gute Nachbarschaft, Solidarität und die unzeitgemäße Tugend der Barmherzigkeit zu lernen oder einfach um ein paar gute Geschichten zu hören – Geschichten über Menschen aus aller Welt und ein kleines Dorf am Rand Europas, in dem die bunte Vielfalt regiert und tagtäglich die Vision einer gemeinsamen Welt gelebt wird.