Buchtipps

Cripplewood/Kreupelhout (Buchbesprechung)

von Matthias Fersterer, erschienen in Ausgabe #28/2014
Photo

Nach ihrer Einladung zur Biennale 2013 in Venedig bat die flämische Künstlerin Berlinde De Bruyckere den Literaten J. M. Coetzee, ihr einen Text als kreative Wegzehrung zu senden – etwas, das sie verdauen und in transformierter Form wieder ausspeien könne. Das daraus hervorgegangene Werk »Cripplewood/ Kreupelhout« und der vorliegende Band verstören auf vielen Ebenen: Im belgischen Pavillon türmen sich Abdrücke toter Ulmen aufeinander, gefertigt aus Schichten von hautfarben bemaltem Wachs. Die Repliken von Stämmen, Ästen und Reisighaufen wirken wie übereinandergeworfene Leiber und Gliedmaßen, die Wurm- und Astlöcher darin wie Adergänge und Gelenkpfannen. Zwischen markerschütternder Schönheit und betörendem Schrecken werden vielfältige Assoziationen wachgerufen: von Leichenbergen und Kadavern in Todeslagern und Fleischfabriken bis hin zur fleischlichen Verwobenheit aller Wesen und Leiber.
Das Bindegewebe zwischen Kunstinstallation und literarischem Text ist die Vieldeutigkeit der Allegorie.
In der Erzählung »The Old Woman and the Cats« – verfasst in der für Coetzee typischen leichtfüßigen und präzisen Prosa, begegnen wir Elizabeth Costello, dem aus seinem gleichnamigen Roman bekannten Alter Ego des Autors. Die alternde Literatin hat den Schriftstellerberuf an den Nagel gehängt, um in einem verwaisten spanischen Bergdorf ihre Menschenpflicht zu versehen, indem sie sich eines Dutzends streunender Katzen und des Dorftrottels annimmt.
Von ihrem Sohn auf die Möglichkeit von Kastration angesprochen, entwickelt sich vor der impliziten Folie von Euthanasie und Überbevölkerung ein scholastischer Schlagabtausch, in dem die Mutter sich zu einer Apologie des universellen Rechts auf Verkörperung aufschwingt: An der Grenze des Seins, so stelle sie sich vor, flehten Heerscharen kleiner Seelen – Katzen­seelen, Mäuseseelen, Vogelseelen, Seelen ungeborener Kinder – um Einlass. Den wolle sie allen gewähren, und sei es nur für ein, zwei Tage, oder auch nur, um ihnen einen flüchtigen Blick auf unsere wunderschöne Welt zu ermöglichen.
Über diese Rede legen sich wie bei fotografischer Doppelbelichtung De Bruyckeres Bilder von fleischgewordenen Seelenleibern: nackt, gehäutet, zergliedert; Extremitäten vom Fleisch der Welt, Fleisch von ihrem Fleisch, Fleisch von unserem Fleisch – maximal konkret und unergründlich zugleich, offen für Meditationen über Inkarnation diesseits der Grenze des Seins.


Cripplewood/Kreupelhout
Berlinde De Bruyckere und J. M. Coetzee
Mercatorfonds, 2013

128 Seiten
ISBN 978-0300196573
ca. 26 Euro


Weiterlesen: J. M. Coetzee: Elizabeth Costello • Schande • J. M. Coetzee und Berlinde De Bruyckere: We are All Flesh

weitere Artikel aus Ausgabe #28

Bildungvon Anke Caspar-Jürgens

Lernende Schulen

In den letzten Ausgaben von Oya wurden an dieser Stelle in einer Artikelserie beispielhaft Schulen vorgestellt, die neue Wege gehen. Den Abschluss bildet der folgende Versuch, die Qualitäten dieser Schulen als Bausteine einer Vision von lebensfördernden Lernorten erkennbar werden zu lassen.

Photo
von Farah Lenser

Mehr Grün! (Buchbesprechung)

»Lichtschlürfende, lichtgrüne Luftschlösser auf organischen Portalen und Bündelverknüpf-Rundbögen aus Pfropfreisern gebündelt, gebunden, gewickelt, heilige Buckel-und Hohlraumhaine, Zufluchtsorte für zivilisationsgeschädigte Pflanzenseelen, die mit

Gemeinschaftvon Dolores Richter

Bühne der unterschätzten Wahrheiten

 Seit vielen Jahren gibt es ein großes Interesse in Gemeinschaften und Gruppen, das »Forum« zu nutzen, um eine menschlich tragfähige Gemeinschaft aufzubauen. Das Forum ist aus Anfängen im »Friedrichshof« und in der »Bauhütte« im

Ausgabe #28
Entwachsen!

Cover OYA-Ausgabe 28
Neuigkeiten aus der Redaktion