Lara Mallien porträtiert den Müritzer Bertold Meyer, der sich als Bürgermeister einer kleinen Gemeinde für eine allgemeine Belebung des ländlichen Raums einsetzt.von Lara Mallien, erschienen in Ausgabe #31/2015
In der geräumigen Tenne der »Kulturscheune« von Bollewick (mit Betonung auf der zweiten Silbe) in der mecklenburgischen Seenplatte hielt der Experte für Stoffstrom-Management Peter Heck im Jahr 2006 einen mitreißenden Vortrag: Man müsse sich bewusstmachen, wie viele Ressourcen der Region im Abfall landeten – Grasschnitt, Bruchholz, krumm gewachsene Möhren: All das könne auf ökologisch und sozial sinnvolle Weise genutzt werden, so sein Appell. Das Publikum war elektrisiert: Ja, solche konkreten Vorschläge waren das, was sie sich unter dem Motto der Tagung »Steuerungsimpulse für nachhaltige Entwicklung« vorgestellt hatten! Bürgermeister Bertold Meyer, Mitorganisator der Konferenz, wusste sofort, wie er diese Gedanken umsetzen wollte: Er machte sich an die Planung eines Nahwärmenetzes für Bollewick, gespeist durch die Abwärme kleiner Biogasanlagen der Landwirte vor Ort. Heute, acht Jahre später, sind 54 Haushalte ans Netz angeschlossen.
»Mit 90 Grad kommt das Wasser in unserem Pumpenhaus an«, erklärt Bertold, als Johannes Heimrath und ich ihn am ersten ernstzunehmenden Wintertag im Januar besuchen. »Von dort geht es ins neu verlegte Warmwassernetz. Am Häuschen hängen Plakate, die erklären, wie das Ganze funktioniert. Inzwischen hat dort auch ein Bauer einen Milch-, Käse- und Eierverkauf eingerichtet; der wird gut frequentiert.« Um die Dörfler davon zu überzeugen, ihre Öl- oder Gasheizung abzuschaffen, war Bertold von Haus zu Haus gezogen. »Den Weltverbesserer spielen, zieht nicht. Ich habe mit den Hausbesitzern auf Papier die bisherigen Heizkosten ermittelt, dann habe ich über eine neue Spalte ›Die neue Zeit‹ geschrieben und ihnen die Nahwärme-Lösung vorgerechnet. Weil sie mich kennen, haben sie darauf vertraut, dass die Rechnung stimmt.« Menschen dort abzuholen, wo sie sind, aber auch keine Angst davor zu haben, ihnen Ungewöhnliches zuzumuten – das gehört zu Bertolds Strategien. Als er letztes Jahr zu Öko-Dokumentarfilmen in die Kulturscheune einlud, war er erstaunt: »Ich dachte, da kommt so gut wie niemand aus dem Dorf. Aber die Bude war voll! Nachbarn waren genauso dabei wie Interessierte aus der Umgebung.« Wir sitzen in einem »Dorfplatz« genannten Tagungsraum in Deutschlands größter Feldsteinscheune, einem gewaltigen Gebäude von 125 mal 34 Metern Grundfläche aus dem Jahr 1881. Im Ständerwerk über unseren Köpfen ist Bertold schon als Kind herumgeturnt. »Ich bin 1956 in Bollewick geboren«, erzählt er. »Anfang der 1960er Jahre habe ich bewusst mitbekommen, wie der ›sozialistische Frühling‹ um sich griff. Ich erinnere mich gut an die Tränen in den Augen meiner Eltern – selbständige Bauern –, als man die Tiere aus ihrem Stall trieb, weil nun alles zentralisiert wurde. Wir Kinder durften nicht mehr in der großen Scheune spielen; dort wurden nun in großem Stil Kühe und Schweine gehalten.« Bertolds ursprünglicher Berufswunsch war Bauer, aber die sozialistische Massentierhaltung widerte ihn an. »Ich habe eine Kaufmannsausbildung im Agrarbereich abgeschlossen. Nach dem Militärdienst bewarb ich mich erfolgreich für ein Fachhochschulstudium in Güstrow. Das hat Spaß gemacht; in dieser Zeit habe ich auch meine Frau kennengelernt. Als ich fertig war, suchte ein Futtermittelwerk in Röbel einen Hauptbuchhalter – und ich bekam die Stelle. Das war ein großer Glücksfall für jemanden, der nicht in der SED war.« Mit Systemkritik hielt sich Bertold zurück, doch: »Mitte der 80er Jahre konnte ich meinen Ärger darüber, wie die Umwelt versaut wurde, nicht mehr zurückhalten. An allen Ecken und Enden wurde Müll verkippt.« Im Friedenskreis von Pastor Markus Meckel im Nachbarort Vipperow fand er ein Forum für seine ökologischen Anliegen. Doch die Stasi verfolgte Meckel bereits mit ihren Zersetzungstechniken und »versetzte« ihn 1988 nach Magdeburg. »Wir Verbliebenen trafen uns weiterhin in der Stadt Röbel«, erzählt Bertold. »Die Stasi-Leute fragten sich, wer wohl jetzt in der Gruppe gefährlich war, und absurderweise hatten sie mich ausgeguckt. Dabei war ich gar nicht einer der Mutigsten, mir ging es schlicht um den Schutz der Umwelt.« Die Demonstrationen im Herbst 1989 änderten die Verhältnisse. »Alle gesellschaftlichen Schichten waren dabei, schrieben Protestbriefe, Broschüren und diskutierten, wie sich ein Gemeinwesen anders organisieren ließe«, erinnert sich Bertold. An einem Abend auf einer Demo in Röbel rief jemand: ›Die Mauer ist auf!‹ Da habe ich mich gefragt: ›Was soll das jetzt?‹ Die frühe Maueröffnung war aus meiner Sicht ein Ventil, das das Denken über positive Veränderungen in der damaligen DDR eingeschläfert hat. Der revolutionäre Impuls ist stark eingeschränkt worden.« Zunächst ging das Leben nach der Maueröffnung unverändert weiter. »Aber eines Tages rief mich ein Kumpel auf der Arbeit an: ›In Röbel qualmt der Schornstein der Stasi-Zentrale! Die verbrennen Stasi-Akten!‹ Ich habe ein paar von meinen Leuten aus dem Betrieb in einen Kleinbus gepackt, und dann standen wir vor dem Gebäude in einem Regen verkohlter Papierschnipsel, auf denen teilweise noch Personalausweis-Nummern erkennbar waren. Ein paar von uns haben sich Zugang zum Gebäude verschafft. Im Keller stand der Ofen warm, aber schön sauber geputzt in der Ecke. Nein, hier würden doch keine Akten verbrannt, hieß es. Aber kaum waren wir die Treppe hochgestiegen, schlugen die anderen draußen Alarm, der Schornstein qualme schon wieder.« Bertold hat alles fotografisch dokumentiert. Die Bürgerinitiative schob Wache, bis alle Akten an einen sicheren Ort überführt worden waren.
Einen Haufen Steine zum Leben erwecken Viele von Bertolds Mitstreitern nutzten das Neue Forum der Wendemonate als Sprungbrett für eine Karriere in der Politik. Er selbst hatte wenig Lust auf einen Posten im Ministerium. Für den Gemeinderat ließ er sich dann doch aufstellen. Bei der Wahl bekam er die zweithöchste Stimmenzahl – und war als einziger bereit, den ehrenamtlichen Bürgermeisterposten zu übernehmen. Das machte ihn zunächst zum Überbringer schlechter Nachrichten: Hausmeister, Kindergärtnerinnen und Sekretärinnen, die zu DDR-Zeiten bei der Gemeinde angestellt waren, mussten entlassen werden. »Ich ging zu meinem ehemaligen Forums-Kollegen Berndt Seite, der jetzt Landrat war, und sagte: ›Wir müssen uns um die Arbeitslosen kümmern!‹ Der war allerdings der Ansicht, die Marktwirtschaft werde alles regeln. Nach einigen Monaten rief er mich an und sagte: ›Du hattest recht, das funktioniert nicht.‹ So hatte ich einen Verbündeten, und es kam zur Gründung der Arbeits- und Ausbildungs-Initiative Röbel e. V.« Die Zeit der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) hatte begonnen. Damit wurde in der Regel wenig Nachhaltiges realisiert, aber hin und wieder geriet das Geld in kreative Hände wie in die von Bertold, der seinen Verein mit Handwerksbetrieben zusammenspannte, zeitweilig 400 Menschen beschäftigte und sich an die Renovierung von Baudenkmälern machte – allem voran die der Feldsteinscheune. Er hatte einen Weg gefunden, wie die Gemeinde das Gebäude aus der Konkursmasse der ehemaligen LPG erwerben konnte. Was aber mit dem Dinosaurier aus Gutsherrenzeiten anfangen? Damals schossen überall Supermärkte und Baumärkte aus dem Boden. »Ich naiver Vogel bin denen hinterhergerannt und wollte sie überreden, sich in der Scheune einzumieten«, erzählt Bertold. »Es kamen nur Absagen. Ich wurde wütend: Wenn der Handel nicht will, dann will ich ihn auch nicht!« Die Wut blies ihm den Kopf frei für Träume. Was wäre denn die denkbar schönste Zukunft für das Haus? Ökologische Landwirtschaft, Werkstätten für traditionelles Handwerk, bunte Märkte, überbordende Feste mit Musik und Tanz … »Irgendwie müssen wir Leben in die Bude bringen, dachte ich damals. 1994 haben wir zu einem Kunsthandwerkermarkt eingeladen. Auf dem Boden der Scheune lag noch Schotter, die alten DDR-Kabel waren nicht ausgetauscht, immerzu flog die Sicherung raus, aber das war egal. 6000 Besucher kamen! Es gab Musik bis spät in die Nacht und ein riesiges Lagerfeuer.« Bertold war rund um die Uhr damit beschäftigt, mehr Verpflegung und Toilettenpapier für die vielen Leute heranzukarren. Als zwei Jahre später zum Ostermarkt 10 000 Gäste kamen, ging der Bürgermeister ins Ministerium und bekam einen Förderantrag zur Sanierung der gesamten Scheune bewilligt. Noch heute bedauert er, dass ihm der Geldsegen den Weg zur landwirtschaftlichen Nutzung des Gebäudes verbaut hat – dazu hätte es eines anderen Fördertopfs bedurft. Aber sein Traum, Handwerker anzusiedeln, hat sich erfüllt. Heute kann man hier Leinwebern, Kürschnern, Drechslern und Seifensiedern bei der Arbeit zuschauen und in kleinen Läden ihre Produkte erwerben. Andere Räume sind von Ausstellungen belegt; es gibt ein Hotel-Restaurant und Tagungsräume.
Die Zukunft braucht feste Wurzeln Ist aus dem wilden Experimentierfeld schließlich ein normaler Tourismusbetrieb geworden? Nach wie vor ist die Kulturscheune eine Ideenschmiede, wo intensiv über die Zukunft des ländlichen Raums nachgedacht wird. Die Idee vom »Garten der Metropolen« wurde hier geboren: Mecklenburg-Vorpommern dürfe nicht nur als Erholungsgebiet zwischen Hamburg und Berlin gelten, sondern müsse als fruchtbares Land verstanden werden, das Millionen Menschen regional ernähre, meint Bertold. Auch das Projekt »500 Bioenergiedörfer für Mecklenburg-Vorpommern« ist in der Kulturscheune verankert. In dieses Vorhaben hatte Bertold große Hoffnungen gelegt. Wegen des Unwillens der Regierung, den Kommunen eigene wirtschaftliche Tätigkeit zuzugestehen, stockt es derzeit. »Das ist Unsinn!«, empört sich Bertold. »Die Wirtschaft hat kein Interesse an kleinen Dörfern. Die Kommunen müssen selbst handlungsfähig werden!« Er hofft, im Rahmen des EU-Forschungsprogramms »Horizon 2020« neue Dynamik in das Projekt bringen zu können. Aber wie auch immer sich die politische Landschaft entwickeln wird: Bollewick soll ein Ort des guten Lebens werden! »Dieses Jahr will ich endlich den Brotbackofen, den wir damals mit der ABM nach altem Vorbild aufgebaut haben, in Betrieb nehmen«, erklärt Bertold. »Alle acht Wochen sind dann die Familien im Dorf eingeladen, gemeinsam den Ofen anzuheizen, Teig zu kneten und zu backen.« Erstaunlich, dass Bertold sich auch für solche Dinge Zeit nimmt. Den eigenen Geburtsort gestalten zu können, aktiviert offensichtlich große Kräfte. »Inzwischen ist der Weiher zum Mittelpunkt von Bollewick geworden«, erläutert er sein Raumentwicklungskonzept. »Im Süden steht die Scheune, im Norden liegt die ›Siedlung 55+‹. Auch der Kindergarten und die Tischlerei gruppieren sich um den Weiher.« In der Siedlung 55+ werden Eigenheime für ältere Menschen so gebaut, dass die Bewohner möglichst nie in ein Altersheim umziehen müssen. Auch ein Mehrgenerationenhaus ist geplant. Während ich darüber nachsinne, wo wohl die jungen Menschen sein mögen, die eine Arbeit, wie Bertold sie begonnen hat, fortführen könnten, vertiefen er und Johannes sich in ein Fachgespräch unter Gärtnern: wie sich aus alten DDR-Geräten kleine Trecker bauen lassen, wie weit der Kartoffelvorrat reicht und wie köstlich frischer Rosenkohl im Winter schmeckt. Mit fünf anderen Familien bearbeitet Bertold einen halben Hektar Land als Gemüsegarten und ist darin in seinem Element: In seiner Heimaterde verwurzelt, denkt er an eine fruchtbare, enkeltaugliche Zukunft. •