Ein Wettbewerb entwickelt sich zum Netzwerk für sinnvolle Projekte.
von Gebriella Hummel, erschienen in Ausgabe #31/2015
Begonnen hat alles 2010. Den beiden Liechtensteinern Stephan Schweiger und Christof Brockhoff fiel auf, dass ständig diejenigen Menschen unterstützt werden, die sich bereits erfolgreich im sozial-ökologischen Bereich engagieren. »In Nachhaltigkeitspreise fließt sehr viel Geld, aber eben nur für Projekte, die bereits zu fliegen begonnen haben«, so Brockhoff. Für die Politik ist das eine feine Sache, denn so muss man keinen Finger krümmen, um zu sagen, dass man im Land oder in der Region etwas Gutes getan hat. Der für das jeweilige Thema budgetierte Betrag wird ausgegeben, und alle sind – vermeintlich – glücklich.
Für Stephan und Christof war bald klar, dass eine neue Art von Projektförderung erfunden werden will. Als denkbar einfache Basis wählten die beiden Freunde einen Satz, den jeder kennt: »Eine gute Idee passt auf einen Bierdeckel.« Dass das Wort »gut« mit »sozial-ökologisch« oder »enkeltauglich« gleichzusetzen ist, war für sie eine Selbstverständlichkeit. Die gute Idee auf dem Bierdeckel umzusetzen, braucht freilich in der Regel eine Finanzierung, aber vor allem Mentorinnen und Mentoren, die Erfahrung in verschiedenen Bereichen der Umsetzung haben: Grafiker, Unternehmerinnen, Juristen, Handwerkerinnen, Programmierer und so weiter. An solcher unterstützenden Begleitung mangelt es am meisten, überlegten die Freunde – und der »Ideenkanal« war geboren.
Stimmen sammeln, Idee präsentieren Das erste Experiment wagten sie in ihrer Heimat Liechtenstein. »Das Land hat den ersten Ideenkanal erstaunlicherweise finanziert, ohne dass wir groß ein Konzept vorlegen mussten. Dass ich dafür mein Studium abgebrochen hatte, war ihnen wohl Beweis genug, dass wir es ernst meinten«, erzählt Christof. Stephan ergänzt: »Es war viel Vertrauen vorhanden.« Ohne dieses Wohlwollen wäre es ihnen wohl nicht möglich gewesen, ihr Experiment über eine einmalige Durchführung hinauszudenken. 48 Ideen wurden beim ersten Durchlauf im Jahr 2010 in Liechtenstein eingereicht. Alle Bewohnerinnen und Bewohner des kleinen Landes waren aufgerufen, in einem kurzen Text von höchstens 300 Zeichen Länge einen Vorschlag für ein »sinnvolles Vorhaben, das zur Lösung gesellschaftlicher Herausforderungen beiträgt,« zu formulieren und online einzusenden – so verläuft noch heute die sogenannte Einreichphase eines Ideenkanals. Bodenständige Vorhaben wie ein Stellenportal für nachhaltige Berufe, waren ebenso dabei wie exotischere – zum Beispiel die Entwicklung einer ökologischen Alternative zum Toilettenpapier. Mit Hilfe von Bekannten und Partnern fanden Christof und Stephan 25 Mentorinnen und Mentoren. »Dabei half die Zusammenarbeit mit der Politik. Für die Mentoren bedeutet eine Teilnahme ja auch Prestige und Anschluss an ein Netzwerk«, so Christof. Diese »Hebammen« bestimmen zuletzt auch, welche fünf Ideen gefördert werden. Doch zunächst kommen die zehn im Rahmen einer Online-Abstimmung am besten bewerteten Ideen eine Runde weiter. Am »Pitching-Abend« geht es dann ans Eingemachte. (»Pitching« ist abgeleitet vom englischen Begriff »Elevator pitch«: jemanden während einer Fahrt mit dem Fahrstuhl von der eigenen Idee überzeugen.) Für Christof und Stephan begann der erste Pitching-Abend als Abenteuer. Aus technischen Gründen hatte die Online-Abstimmung nicht funktioniert, und so luden sie kurzerhand alle Ideengeber ein, ihre Vorschläge in genau einer Minute vorzustellen. »Der Saal war bis auf den letzten Platz gefüllt«, erinnert sich Christof. »Als wir auf die Bühne gingen, um alle zu begrüßen, waren wir schrecklich nervös. Doch als die erste Person ihren Vorschlag präsentierte, wussten wir, dass sich die monatelange Arbeit gelohnt hatte. Hier waren ausnahmslos Menschen versammelt, die bereit waren, selbst Hand anzulegen.« Die zehn Bewerber, die eine Runde weiterkamen, stellten ihr Projekt noch einmal ausführlicher dar, und schon konnten die fünf Gewinner gefeiert werden. Darunter war eine Primarschulklasse, die einen Kräutergarten für ihre Schule bauen wollte – bis heute eine der Lieblingsideen der beiden Gründer. Damals stammte das Preisgeld noch aus der Förderung durch die Regierung; heute wird im Anschluss an den Wettbewerb eine Schwarmfinanzierung durchgeführt, was den Organisatoren besser gefällt: »So kommt alles Wichtige von den Bürgern selbst: Die Ideen, die Auswahl der Mentoren und die Finanzierung der Gewinnerideen«, erklärt Stephan. »Nach dem ersten Versuch in Liechtenstein haben wir den Prozess um weitere Elemente ergänzt: Im Anschluss an die erste Abstimmung auf der Internetseite bestimmt eine sieben- bis neunköpfige Jury anhand festgelegter Kriterien weitere zehn Favoriten. Diese 20 Ideengeber werden zu einem Vorbereitungstreffen eingeladen. Dabei lernen sie sich kennen und erhalten auch nützliche Tipps für ihre Präsentationen. Wir führten auch am Pitching-Abend nach der ersten Auswahlrunde eine entspannte Interview-Situation zwischen Mentoren und den Favoriten ein. Daraufhin werden nach einer erneuten Kurzpräsentation der zehn beliebtesten Ideen die Sieger gekürt.« Auf den Pitching-Abend folgen zwei Veranstaltungen, sogenannte Ideencamps, bei denen Mentoren und Ideengeber gemeinsam an der Verwirklichung arbeiten. In diesen Tagen werden Flipcharts bis aufs letzte Blatt vollgeschrieben, Logos kreiert, Prototypen gebastelt, Finanzpläne aufgestellt – es ist ein Gewusel wie in einem Kreativ-Kindergarten für Erwachsene. Es wird gelacht, diskutiert, überzeugt, erörtert, motiviert. Unterschiedlichste Menschen bringen sich ein. Sarah Kucica hat beispielsweise bei einem Ideenkanal im Jahr 2013 in Vorarlberg die Mentoren mit einer simplen Idee überzeugt: Sie wollte einmal monatlich an einem öffentlichen Ort kaputte Kleidungsstücke reparieren. 2014 hat in Wels Karlheinz Reichert den Aufbau eines Netzwerks vorgeschlagen, das individuelle Hilfe für Menschen mit Beeinträchtigungen ermöglicht – er selbst ist querschnittsgelähmt. Auch diese Idee wurde gefördert. Es sind selten die großen, außergewöhnlichen Würfe, die eingereicht werden oder gewinnen. Sie müssen nicht ganz und gar innovativ sein; es ist mehr wert, wenn sie etwas Sinnvolles in die Region bringen und umsetzbar sind: Ein Sammeltaxi und Elektroautoverleih, eine nachhaltige Modemarke aus der Region oder ein Projekt zur Vermeidung von weggeworfenem Essen – all das passiert zwar im Kleinen, hat aber für die Menschen vor Ort Bedeutung. Nicht geförderte Ideen gehen nicht verloren, sie bleiben im Internet auf www.ideenkanal.com präsent, und nicht selten haben sie sich später auf eigene Faust verwirklicht. Inzwischen hat das Projekt bereits mehrmals in Liechtenstein, Vorarlberg, Tirol, im oberösterreichischen Wels und in Innviertel-Hausruck stattgefunden. Weitere Regionen denken über eine Durchführung nach oder sind in der Planungsphase.
Creative Commons als Erfolgsrezept Eine der größten Herausforderungen für die Organisatoren eines Ideenkanals ist es, den Ideen nicht nur zu Flügeln zu verhelfen, sondern auch dafür zu sorgen, dass das Fliegen geübt wird: »Wir lernen von Mal zu Mal besser, wie wir die Gewinnerideen zum Leben und vor allem zum Überleben bringen«, so Michael Lederer vom Büro für Zukunftsfragen in Vorarlberg. »Uns ist aufgefallen, dass jene Ideen gut funktionieren, aus denen sich eine wirtschaftliche Grundlage ergibt oder die institutionell – etwa in einem Verein – verankert werden.« Das Büro für Zukunftsfragen, getragen vom Land Vorarlberg, hat nach Liechtenstein als erster neuer Partner einen Ideenkanal durchgeführt. 2015 wird er dort bereits zum dritten Mal stattfinden. Eine Trägerschaft durch die Politik hat sich für das Projekt als sinnvoll erwiesen. Der Ideenkanal wird damit in der Öffentlichkeit stärker wahr- und auch ernstgenommen, und den Gewinnerideen werden mitunter Türen geöffnet wie die Nutzung der landeseigenen Werbekontingente in den öffentlich-rechtlichen Medien. Auch für angemessene Veranstaltungsräume sorgt ein solcher Träger. Grundsätzlich darf aber jeder einen Ideenkanal durchführen, denn dieser untersteht einer Creative-Commons-Lizenz mit den Bedingungen: Namensnennung, keine kommerzielle Nutzung, Weitergabe unter gleichen Bedingungen (BY-NC-SA). Die Internetseite des Projekts erklärt dazu: »Das heißt, dass alle bestehenden und künftigen Materialien gleichermaßen von allen bestehenden und künftigen PartnerInnen verwendet werden können, solange die Herkunft durch einen Link zu www.ideenkanal.com angegeben wird, kein kommerzielles Ziel verfolgt wird und die weitere Weitergabe an Dritte unter mindestens gleichwertigen Bedingungen erfolgt.« Wer allerdings die Funktionen von www.ideenkanal.com nutzen will und von den Gründern eine Betreuung wünscht, zahlt ein Entgelt. Stephan Schweiger und Christof Brockhoff sind davon überzeugt, dass ihr Modell ohne Creative Commons nicht funktioniert hätte: »Es wurde nur zum Erfolg, weil die Idee frei ist. Alle Beteiligten entwickeln Teile weiter und geben sie gratis dem nächsten.« In den vergangenen Jahren musste aber auch viel Überzeugungsarbeit geleistet werden, dass dieses Prinzip sinnvoll ist, denn schließlich gilt die Lizenz auch für alle veröffentlichten Ideen. »Viele befürchten, dass ihr Projekt dann nicht mehr ihnen gehört, doch wenn die kommerzielle Nutzung eingeschränkt wird, bleibt das Vermarkungsrecht bei Creative Commons beim Ideengeber«, so Christof. Können sich politische Institutionen – die typischen Träger für einen Ideenkanal – mit so einem Konzept anfreunden? »Die Zusammenarbeit mit dem Büro für Zukunftsfragen in Vorarlberg war in dieser Hinsicht unproblematisch – es hatte sich in seiner alltäglichen Arbeit bereits stark mit neuartigen Modellen beschäftigt. Bei anderen musste zuerst Vertrauen aufgebaut werden. Heute wissen wir: Es ist elementar wichtig, dass wir den Vertrag von vorne bis hinten mit unseren Partnern durchdiskutieren, denn wenn jemand das Konzept und die Vorteile von Creative Commons nicht versteht, haben wir früher oder später ein Problem.«
Unerwartete Vernetzungsfunktion Daniel Leeb wollte eigentlich schon beim ersten Ideenkanal Vorarlberg seine Idee einreichen, fühlte sich allerdings noch nicht bereit dazu – sein Glück, dass 2013 ein weiterer Durchgang stattfand, von dem er sich weniger einen Preis als ein erstes Feedback von unabhängigen Menschen erhoffte. Seine Idee war schlicht und einfach, er benötigte dafür keine 300 Zeichen: »Sicherheit für Fahrradfahrer«. Das Produkt dazu ist dafür umso ausgeklügelter: Ein Blinker, an der Hand angebracht, der dann blinkt, wenn die Hand ausgestreckt wird, um die Fahrtrichtung zu signalisieren. Als Gewinner erhielt er 1000 Euro – die ihm bei solch einem groß angelegten Projekt nicht viel gebracht haben. Viel wichtiger für ihn war einer seiner Mentoren. Wolfgang Dietrich wusste bereits, als er Daniel Leebs Idee zum ersten Mal hörte: »Da haben sich zwei gefunden!« Dietrich, selbst gelernter Elektrotechniker, hatte sich als Mentor beworben, weil er auf der Suche nach Projekten war, die »wirklich Pepp« haben, die etwas Neues in die Welt bringen. »Gute Vorschläge von engagierten Menschen hören – das regt mein Denken an, es bringt mir persönlich etwas.« Wolfgang Dietrich ist mittlerweile bei Daniel Leebs frisch gegründeter Senitec GmbH eingestiegen, und bringt dadurch all seine Kontakte aus seinem beruflichen Umfeld ein – für Daniel ein unbezahlbares Netzwerk. Ende Februar werden die ersten 1000 Blinker produziert. »Die Vernetzungsfunktion, die der Ideenkanal bietet, war uns am Anfang gar nicht bewusst«, so Michael Lederer. »Das kann tatsächlich die Region stärken.« Und wie geht es weiter? Stephan Schweiger und Christof Brockhoff: »Wir wollen weitere Ideenkanäle initiieren und damit Neues in die Welt bringen.« Derzeit ist der zweite Ideenkanal Liechtenstein in vollem Gange, über 50 Vorschläge wurden eingereicht. Vorarlberg und Tirol starten wieder im März und Mai. Vielleicht kann sich das Konzept in Zukunft auch weiter in den Norden ausbreiten? Aber alles hat seine Zeit. Auch die beste Idee muss manchmal warten, bis ihre Flügel so groß gewachsen sind, dass sie über weite Strecken hinweg fliegen kann. •
Gabriella Hummel (24) stammt aus Liechtenstein. Sie lebt und arbeitet als Redakteurin und Journalistin in Zürich und macht zur Zeit eine Ausbildung zur Yogalehrerin. Mit ihrer Arbeit möchte sie das Thema Enkeltauglichkeit auf lustvolle Weise übermitteln.